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Brigitte Hasenjürgen, Martin Spetsmann-Kunkel: Kulturalisierungsprozesse in Bildungskontexten

Rezensiert von Dr. Michaela Quente, 08.04.2020

Cover Brigitte Hasenjürgen, Martin Spetsmann-Kunkel: Kulturalisierungsprozesse in Bildungskontexten ISBN 978-3-8487-4926-3

Brigitte Hasenjürgen, Martin Spetsmann-Kunkel: Kulturalisierungsprozesse in Bildungskontexten. Bildungsaspirationen von Jugendlichen aus Südosteuropa. Nomos Verlagsgesellschaft (Baden-Baden) 2019. 222 Seiten. ISBN 978-3-8487-4926-3. 44,00 EUR.

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Herausgeber_innen

Die Herausgeber_innen Brigitte Hasenjürgen (Professorin em. für Soziologie, Abt. Münster) Martin Spetsmann-Kunkel (Professor für Politikwissenschaft, Abt. Aachen) arbeiten an der Katholischen Hochschule NRW.

Thema und Entstehungshintergrund

Grundlage des Sammelbandes ist ein Forschungsprojekt, das durch das FH-Strukturprogramm des Landes NRW gefördert wurde. Die Studie bildet die Grundlage für zwölf Beiträge, die nach Aussage der Herausgeber_innen „einen ungeschönten Blick auf die Selbst- und Fremdeinschätzungen der Bildungsaspirationen von Jugendlichen aus Südosteuropa“ werfen. In drei Großstädten Nordrhein-Westfalens wurden Interviews mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Alter von 14–25 Jahren geführt. Sie erzählen von Erfahrungen im schulischen Alltag, von Vulnerabilität und Diskriminierungserfahrungen, von Aufbegehren und der Suche nach einem guten Leben. Professionelle Fachkräfte wie Lehrer_innen und Sozialarbeiter_innen erzählen von ihren beruflichen Routinen und ihrer – zum Teil kulturalisierenden – Sicht auf diese Jugendlichen.

Aufbau

Auf 224 Seiten finden sich nach der Danksagung und den einleitenden Bemerkungen der Herausgeber_innen elf Einzel- und Gruppenbeiträge verschiedener Autor_innen:

  1. BildungsUnGleichheiten – Ein Forschungsrahmen zur Analyse von Kulturalisierungen in Bildungsprozessen (Brigitte Hasenjürgen)
  2. Bildung trotz Familie? Bildung mit Familie! Bildungsbiographien jugendlicher Roma und Romnija (Brigitte Hasenjürgen und Alina Quasinowski)
  3. „Handwerklich begabt“ – Begabungsrhetorik am Beispiel der Berufsorientierung (Carmen Wienand)
  4. Modell Hauptschule – Vom positionsbedingten Elend der Lehrerinnen und ihrem Kampf für den Erhalt der Schule (Brigitte Hasenjürgen)
  5. Linda und Lindner – Die Bildungssituation von eingewanderten Jugendlichen aus zwei Perspektiven (Brigitte Hasenjürgen)
  6. Alltägliche Differenzierungen. Othering in der pädagogischen Arbeit mit Zugewanderten aus Südosteuropa (Matin Spetsmann-Kunkel)
  7. Über das methodische Vorgehen (Matin Spetsmann-Kunkel)
  8. Rassismuskritische Forschung im Vortrag – Eine Reflexion (Carmen Wienand)
  9. Pragmatismus in der sozialarbeitswissenschaftlichen Forschung – Herausforderungen der dolmetschgeschützten Interviewführung (Ksenija Gumenik und Alina Quasinowski)
  10. „Und da wurde mir klar, ich bin doch nicht dumm!“ Stimmen eingewanderter Lehrkräfte (Galina Putjata)
  11. Angegriffene Identitäten – Eine Annäherung an das Bedrohliche innerhalb antiziganistischer Stereotype (Katharina Schulze)

Die Angaben zu den Autor_innen finden sich am Ende des Buches.

Inhalt

Im Fokus des Buches stehen die Schul- und Bildungserfahrungen von Jugendlichen, insbesondere aus den EU-Ländern Bulgarien und Rumänien sowie aus weiteren südosteuropäischen Ländern mit dem deutschen Schulsystem. Es wird der tatsächliche oder mögliche Defizitblick (S. 48) der Lehrer_innen, Sozialarbeiter_innen und Interviewer_innen herausgearbeitet. Deutlich wird, wie sehr die Jugendlichen sich motiviert zeigen, „in Bildung zu investieren“ (S. 46) Basierend auf Interviews mit diesen Jugendlichen und pädagogischen Fachkräften schildert die Studie, durch Interviewausschnitte illustriert, die Erfahrungen der zum einen neu-zugewanderten Jugendlichen und zum anderen der Pädagog_innen. Eindrücklich zeigen die Erzählungen der Jugendlichen den Stolz auf das Elternhaus, den Respekt gegenüber den Eltern und zum Teil auch die Wut über die gefühlte Ungleichheitsbehandlung im deutschen Schulsystem.

Nach einer Einleitung von Brigitte Hasenjürgen und Martin Spetsman-Kunkel, in der sie den Hintergrund der Studie aufgreifen, wird im zweiten Beitrag von Brigitte Hasenjürgen die theoretische Perspektive der Studie mit dem „Werkzeug“ von Pierre Bourdieu, einer Migrations- und Rassismuskritischen Analyse und dem Verwirklichungschancenansatz (Capability Approach) nach Amartya Sen, dargelegt.

Der dritte Beitrag (Brigitte Hasenjürgen und Alina Quasinowski) widmet sich den Bildungsbiographien jugendlicher Roma und Romnija. Im Rahmen des Forschungsprojektes wurden 48 Interviews mit Jugendlichen (14 jungen Frauen und 34 jungen Männer) analysiert. Deutlich wird in diesem Beitrag herausgearbeitet, „wie wenig die Handlungs-, Wahrnehmungs-, und Deutungsmuster Automatismen unterliegen“ (S. 43).

Carmen Wienand wirft im vierten Beitrag einen Blick auf das Thema Begabung. In der Perspektive des Beitrags wird Begabung als Konstrukt betrachtet. In zwei kontrastiv ausgewählten Beispielen wird von zwei Personen (pädagogische Mitarbeiterin und ein Schüler) über Begabung gesprochen.

Drei Interviews mit Schulleiter_innen verschiedener Hauptschulen bilden die Basis des fünften Beitrags. Brigitte Hasenjürgen beschreibt aus der Sicht der Lehrerinnen deren Einsatz zum Überleben der Schule, ohne dass der Einsatz der Lehrer_innen entsprechend gewürdigt (S. 92) oder ihr Rat als Expert_innen gefragt ist (S. 93). Darüber hinaus werfen die Schulleiter_innen einen kritischen Blick auf das Thema Inklusion, „als wenn sie selbst nicht schon immer inklusiv gearbeitet haben!“ (S. 93). Die Autorin setzt sich in ihrem Beitrag kritisch mit den Strukturen des Bildungssystems und der Rolle der Schulleiter_innen auseinander.

Der sechste Beitrag widmet sich der Bildungssituation von eingewanderten Jugendlichen „aus zwei Welten“ (S. 103). Brigitte Hasenjürgen stellt in zwei Kapiteln zum einen die Perspektive der Schülerin Linda und zum anderen die des Hauptschulleiters Lindner vor. Linda war einige Zeit Schülerin einer Hauptschule und beide sind sich persönlich dort begegnet. Im dritten Kapitel des Beitrags vergleicht die Autorin beide Perspektiven entlang machttheoretischer Überlegungen.

Martin Spetsman-Kunkel erörtert im siebten Beitrag die wesentlichen Merkmale des Anti-Roma-Rassismus. „Die angenommenen ethnischen Spezifika, die die Roma zu einer besonderen, fremdartigen Gruppierung machen sollen, werden als Ursache für unterstellte fehlende Bildungsaffinitäten herangezogen. Die durchaus wahrgenommenen sozialen Problemlagen der Familien werden weniger als Ausdruck von sozialen Benachteiligungen, Diskriminierungen und kontinuierlicher Exklusion gedeutet, sondern allzu häufig vor allem als Beleg und Effekt kultureller Fremdheit“ (S. 125).

Es schließen sich drei Beiträge zu methodologischen und methodischen Überlegungen des Forschungsprojektes an. So legt der achte Beitrag das Vorgehen bei der Datenerhebung und der Auswertung der Interviews dar. Martin Spetsman-Kunkel beleuchtet hier sehr eindrücklich das „riskante Unterfangen“ der Forschung zu Migration, birgt es doch immer die Gefahr einen „dramatisierenden, problemorientierten Blick auf Migration zu verfestigen und zu reproduzieren“ (S. 127). Mit einer „Doppelperspektive“ versucht das Forscher_innenteam sowohl die Perspektive der Jugendlichen, die über ihre Lebens- und Bildungssituation sprechen, als auch den Blick der Professionellen aufzunehmen.

Beitrag neun ist mit dem Titel „Rassismuskritische Forschung im Vortrag“ überschrieben. Carmen Wienand befragt die eigene wissenschaftliche Praxis und reflektiert damit Rassismuskritik auf einer Methaebene. Dieser Beitrag zeichnet sich dadurch aus, dass die Autorin generelle Fragen formuliert, „mit denen der Aspekt der rassismuskritischen Performanz beleuchtet werden kann“ (S. 148).

Ksenija Gumenik und Alina Quasikowski gehen im zehnten Beitrag auf die Chancen und Risiken bei dem Einsatz von Dolmetscher_innen in den Interviews mit Jugendlichen ein.

In einem Gastbeitrag gibt Galina Putjata eingewanderten Lehrkräften eine Stimme. Darin wird analysiert, „wie Eingewanderte ihre Rolle als Lehrkraft im deutschen Bildungssystem wahrnehmen und ihre (Selbst-) Positionierungspraktiken“ (S. 177).

Ein weiterer Gastbeitrag ergänzt das Forschungsprojekt mit dem zwölften und letzten Beitrag von Katharina Schulze. Es handelt sich dabei um eine psychoanalytische Deutung antiziganistischen Sprechens im Feld der Kinder- und Jugendarbeit.

Diskussion

Das Buch versteht sich nach Aussage der Herausgeber_innen als Beitrag zur rassismuskritischen Debatte über das deutsche Bildungssystem. Es ist sehr wünschenswert, dass das Buch eine breite Rezeption erfährt, denn gerade die unterschiedlichen Blickwinkel auf das Thema Bildungsprozesse und die Einblicke in die Schul- und Bildungserfahrungen der Jugendlichen machen es so lesenswert. Es werden Positionen sichtbar, die sich in sehr unterschiedlicher Weise auf das deutsche Bildungssystem und die Situation der eingewanderten Jugendlichen beziehen (siehe Beitrag sechs Linda und Lindner). Den Herausgeber_innen und Autor_innen gelingt es aufzuzeigen, wie vielschichtig dieses Thema ist. Die einzelnen Beiträge gewähren insbesondere durch die Interviewausschnitte einen intensiven und gut nachvollziehbaren Einblick in die Erfahrungswelt sowohl der Jugendlichen im ihrem Blick auf die Welt, eine Erfahrungswelt die in nicht seltenen Fällen mit Kränkungen einhergeht, als auch der pädagogischen Fachkräfte. Forschungsarbeiten, in denen die Jugendlichen selbst zu Wort kommen, gibt es noch viel zu selten. Denn viel zu häufig wird über sie, aber nicht mit ihnen gesprochen. Diese Studie stellt eine deutliche Ausnahme dar und die Jugendlichen wurden ermutigt, selbst über ihre Lebens- und Bildungssituation zu sprechen.

Fazit

Ein sehr empfehlenswertes Buch, das verständlich geschrieben und gut lesbar ist für Dozierende und Studierende unterschiedlichster Fächergruppen und auch für Akteur_innen wie Lehrer_innen, Sozialarbeiter_innen und Erzieher_innen. Im Besonderen vermittelt die rezensierte Forschungsarbeit einen umfassenden Einblick in das gesellschaftliche Thema Migration wie auch der Bildungssituation und Perspektive im deutschen Schulsystem.

Rezension von
Dr. Michaela Quente
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Es gibt 4 Rezensionen von Michaela Quente.

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ISSN 2190-9245