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Klaus Theweleit: Männerphantasien

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 23.12.2019

Cover Klaus Theweleit: Männerphantasien ISBN 978-3-95757-759-7

Klaus Theweleit: Männerphantasien. Matthes & Seitz (Berlin) 2019. 1200 Seiten. ISBN 978-3-95757-759-7. D: 28,00 EUR, A: 28,80 EUR, CH: 34,80 sFr.

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Ein politisches Führungszeugnis

Und zwar, was eigentlich völlig unmöglich ist, selbst geschrieben! Wäre das (eigentlich) nicht eine Autobiographie? Oder eine Bestandsaufnahme der wirklichen, individuellen und gesellschaftlichen Lebensumstände? Oder eine Analyse der Imponderabilien? Das Wagnis, individuelle und gesellschaftliche Diagnosen über Zeitverläufte zu erstellen, wird immer wieder hervorgehoben, als Unmöglichkeit betrachtet und als Möglichkeit der Gegenwarts- und Zukunftsforschung angesehen (Heiner Hastedt, Hg., Deutungsmacht und Zeitdiagnosen. Interdisziplinäre Perspektiven, 2018, www.socialnet.de/rezensionen/25798.php). Es sind Macht- und Ohnmacht-Betrachtungen; und darin alte und neue „Männerphantasien“. Die Geschlechter- (und Gender-)Auseinandersetzungen vollziehen sich dabei als traditionalistische und emanzipatorische Herausforderungen: Männer als Humpel- oder Kumpeltypen, als Paschas oder Softies, als Machos oder Chauvis, als Starost oder Deyka, als Hierarchen oder Solidare. Der Diskurs verläuft ambivalent in der Spannweite: „Das war schon immer so!“ bis hin zur Aufforderung zum Perspektivenwechsel. Sind es die „Hafermilchmänner“, die den notwendigen, individuellen und gesellschaftlichen Veränderungsprozess einleiten? Ist es „sein eigener Körper, schlankheitsintervallgefastet und pflanzenbasiert ernährt…, der strahlt?“. Hoppla – da melden sich (weibliche) Stimmen, die die High Achiever des Silicon Valley auf die Schippe nehmen, die eine „Geschlechterstudie“ vorlegen, die nur so trieft vor Ironie (Nina Pauer, Die Hafermilchmänner, in: DIE ZEIT, Nr. 46 vom 7.11.19, S. 67). Ist es die Vermutung, dass es „vielleicht … einfach nur normal (ist), dass ein Mann abhebt, ausrastet, in dessen Leben eigentlich nichts mehr normal ist“, wie dies Cathrin Gilbert (beinahe bedauernd) feststellt, wenn Sie über die Befindlichkeiten und Verhaltensweisen des Super-Trainers Jürgen Klopp von FC Liverpool räsoniert (Nicht mehr normal, in: DIE ZEIT, Nr. 47 vom 14.11.19, S. 32).

Autor und Entstehungshintergrund

Der Literaturwissenschaftler und Gesellschaftskritiker Klaus Theweleit publizierte 1977/78 ein zweibändiges Werk, dem er den Titel „Männerphantasien“ gab. Mit der als Dissertationsschrift vorgelegten Forschungsarbeit setzte er sich mit den vom 18. bis zum 20. Jahrhundert aktiven, mentalitäts- und meinungsbestimmenden Entwicklungen der traditionalistischen Freikorps-Bewegungen auseinander und zeigte auf, dass deren Wirken als Weg- und Vorbereitung der faschistischen und nationalsozialistischen Politik betrachtet werden kann. Die Forschungsarbeit wurde im wissenschaftlichen Diskurs bald als Referenztext für die Männer- und Gewaltforschung ausgewiesen. Da es zu keinen Nachdrucken kam, stand das Werk nur als Bibliotheksbestand und auf dem antiquarischen Markt zur Verfügung. Der Berliner Matthes- und Seitz-Verlag bringt nun das zweibändige Buch als Neuauflage heraus, ergänzt durch ein umfangreiches Nachwort des Autors. In einem vom Deutschlandfunk am 17. November 2019 ausgestrahltem Interview betont er: „Bestimmte Formen von männlicher Gewalt sind ja nicht verschwunden. Sie sind in unserer Gesellschaft zwar gemildert gegenüber den Situationen 1919/20, die ich beschreibe, und auch gegenüber den 30er-, 40er-Jahren, aber weltweit hat Gewalt an vielen Stellen eher zugenommen, auch gerade eine bestimmte Sorte männlicher Gewalt“ (Liane von Billerbeck im Gespräch mit Klaus Theweleit, DLF, 17.11.2019).

Aufbau und Inhalt

„Mein Vater war zuerst Eisenbahner, dann Vater. Er war ein guter Faschist“ – so leitet der 1942 in Ostpreußen geborene Klaus Theweleit seine Studie über „Männerphantasien“ ein. Die völkische und nazistische Gesinnung der Eltern, vor allem eben des Vaters, drückte sich auch in der Namensnennung der Kinder aus: Reinhold – Siegfried – Brunhilde – Günter (1929 – 1935) als Helden, und die der beiden Nachgeborenen – Klaus und Helga (1942 und 1944) – als Verlierertypen. Dass sich in den Lebensphasen Klaus', vor allem in den ihn anrührenden und prägenden 1960ern, die Widerstände und Vorbehalte gegen Hierarchien und Machtmissbräuchen entwickelten, drückt er im Vorwort zu seiner Untersuchung mit dem Wunsch des kroatischen Filmemachers und Literaten Vlado Kristl (1923 – 2004) aus: „Hoffentlich fällt die Macht eines Tages allen Menschen auf den Wecker“. Den ersten Band titelt er mit zwei Kapiteln: „Männer und Frauen“ und „Fluten – Körper – Geschichte“. Den zweiten Band gliedert er ebenfalls in zwei Kapitel: „Die Masse und ihre Gegenbildungen“ und „Männerkörper und weißer Terror“. Im Schlusstext geht es um die Innenansichten und die Hoffnungen, dass die Vernunft der Menschen endlich Frieden schaffen möge. Zahlreiche Schwarz-Weiß-Abbildungen illustrieren die Textaussagen.

Im Nachwort der Neuausgabe des Buches verweist Theweleit auf die Ziele der vor fast einem halben Jahrhundert verfassten Studie als historische Bestandsaufnahme und Analyse. Gleichzeitig erhebt er den Anspruch einer Gültigkeit und Aussagekraft auch für Heute: „Eine der Erkenntnisse des Buches ist ja nicht, dass Faschismus ein Konglomerat von Ideen ist, die bestimmte Männer haben, sondern dass das Körperzustände sind. Leute … die Angst vor dem eigenen Inneren, die Angst vor dem Fremden, … vor dem Fremden in einem selbst“ haben. Es ist die faschistische Befürchtung vor Existenz- und Körperauflösung, die sich in Begriffen wie „Umvolkung“ deutlich machen (siehe dazu auch: Bente Gießelmann, u.a., Hrsg., Handwörterbuch rechtsextremer Kampfbegriffe, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/25964.php). In der Kritik an den traditionalistischen, faschistischen und rassistischen Rollenerwartungen und -zuschreibungen wird deutlich, dass es eines Perspektivenwechsels weg von Herrschafts- und Gewaltphantasien und hin zu einer offenen, imperativen Gesellschaft mit dem Ziel braucht: „Der menschliche Mensch in einer humanen, der menschlichen Würde angemessenen Gesellschaft“ (siehe dazu auch: Johannes Schwarte, Die Plastizität des Menschen. Ergebnisoffenheit und Beeinflussbarkeit der Persönlichkeitsentwicklung, 2015, www.socialnet.de/rezensionen/20282.php). Die Beachtung der Denk- und Aktionsprozesse, wie sie sich in der 68er Zeit vollzogen haben, sind wichtige Nachschauen und notwendige Auseinandersetzungen mit dem Gestern, Heute und Morgen (Wohin geht unsere offene Gesellschaft? „1968“. Sein Erbe und seine Feinde, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/26116.php).

Es sind die zahlreichen Auseinandersetzungen, Pro- und Contra-Diskussionen und Gegenpositionen zu den Theweleitschen „Männerphantasien“, die sich differenziert, produktiv und kritisch mit den Begründungszusammenhängen der Studie auseinandersetzen und deren Wahrnehmungsidentitäten kritisch betrachten: Da ist erstens die Sichtweise vom „entleerte(n) Platz“, der eine gewaltsame, männliche Herstellung von Klarheit, Ordnung, Sauberkeit und Übersichtlichkeit notwendig macht; zweitens der „blutige Brei“, der die weibliche Bedrohung und Sexualität hervorruft, und deshalb gewaltsam verhindert werden muss: und drittens der „black out“, der nur durch Abhärtung und Straffung des eigenen Körpers zu überwinden ist. Weil der Mensch Körper und Geist ist, kommt es darauf an, die philosophischen, soziologischen, politischen, psychologischen und psychoanalytischen Imponderabilien zu bedenken: Mit der Gedichtstrophe: „Lass mich Ich sein, damit du Du sein kannst“, kommt zum Ausdruck, dass der anthrôpos ein auf eine humane Gemeinschaft angewiesenes Lebewesen ist. Vom italienischen Psychoanalytiker Eugenio Gaddini (1916 – 1985) kommt die Erkenntnis, dass das Ich des Menschen vor allem ein körperliches ist (2015, www.socialnet.de/rezensionen/19463.php). Von Freud nimmt Theveleit das aufgeklärte Bewusstsein, dass „der Mensch nicht mit der Ich/Es-Über-Ich-Struktur geboren (wird). Sie muss erst in ihm entstehen“. Menschengemacht, das kann ja bedeuten, Macht gemacht, „Male Fantasies“, patriarchalistische Einstellung, wie auch gleichberechtigtes, emanzipatorisches, matriarchalisches Denken und Handeln. Männlichkeitssymbole verdichten sich dann zu Mauern, Wällen und eingestürzten Brücken, wenn sie sich als Allmacht- und Alleinvertretungsansprüche entwickeln und „Masse‘“ als „Front“ und „Feind“ aufgebaut wird; es sei denn, sie wird „geführt“ hin zur soldatischen, nationalistischen, ethnischen Eroberung, und Befreiung. Männlichkeit ist der „Umbau des Leibes“ hin zur unbedingten Führer-, Gefolgschaft und „Stahlgestalt“. Frauensymbole signalisieren für den männlichen Herrscher Eroberung, Unterwerfung und Besitznahme.

 Im medialen, momentanistischen Zeitalter hat Körperlichkeit eine durchaus janusköpfige Ausprägung. Das „Körpermaß“ stilisiert sich gewissermaßen zum Idealbild beim Umgang der Menschen miteinander. Körper zeigen und verhüllen unterliegen gesellschaftlichen, kulturellen und weltanschaulichen Werte- und Normensetzungen. Die Leiblichkeit ist Anlass zum anthropologischen und ontologischen Nachdenken darüber, dass „wir Menschen nicht ein Sein vor(finden), sondern wir erschaffen innerhalb des Kreislaufs von Erkennen und Handeln miteinander unsere eigene Welt“ (Werner Vogd, Selbst- und Weltverhältnisse. Leiblichkeit, Polykontexturalität und implizite Ethik, 2018, www.socialnet.de/rezensionen/22874.php).

Fazit

Die Neuherausgabe des Buches „Männerphantasien“ könnte drei Erwartungen erfüllen: Da ist zum einen die Chance, das Buch als Zeitdokument neu zu lesen, wie in den Aufbruchzeiten der 1960er/​1970er Jahre eine Faschismus-, Männlichkeits- und Gewaltdeutung vorgenommen und kritisiert wurde. Zweitens könnte der Zeitpunkt gekommen sein, die ambivalenten, geschichtswissenschaftlichen Deutungen und Entgegnungen in einem neuen Dialog zu führen und die „Male Fantasies“, wie der Titel des Buches im geschichtswissenschaftlichen, US-amerikanischen Diskurs eingebracht wurde (1987/89), im globalen Maßstab zu lesen. Und drittens wäre es aus heutiger Sicht notwendig, eine geschlechtergerechte Entwicklung unter den Gesichtspunkten des Menschenrechts, der Menschenwürde und der Gleichberechtigung von Mann und Frau vorzunehmen.

Es bietet sich an, in den lokalen und globalen, ego-, ethnozentristischen, nationalistischen, rassistischen und populistischen Umtrieben Gefahren für freiheitliche, demokratische und aufgeklärte Gesellschaften zu sehen. Die Frage, ob sich menschenfeindliches Denken und Handeln als Ausreißer der Vernunft darstellt – und deshalb vielleicht in die Schublade der ewig Gestrigen gesteckt werden sollte – oder ob dieses Denken und Treiben bereits in der Mitte der Gesellschaften angekommen sei, ist umstritten. Klar jedoch ist, dass Wörter, Begriffe und Ideologien das Böse hervorbringen, wie dies die Berliner Philosophin Bettina Stangneth in ihrer Trilogie des Dialogischen zum Ausdruck bringt: Hässliches Sehen und Reden, böses Denken (www.socialnet.de/rezensionen/23593.php, … 25303.php) zum Ausdruck bringt. Die nazistischen, rassistischen und populistischen Aktivitäten und Störfeuer sind wirksam durch die Allgegenwärtigkeit des Netzes, das Wahrheiten nicht beweisen muss, sondern durch Fake News ersetzt. Männlichkeitsphantasien und -wahn befördern dies! 

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 23.12.2019 zu: Klaus Theweleit: Männerphantasien. Matthes & Seitz (Berlin) 2019. ISBN 978-3-95757-759-7. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/26436.php, Datum des Zugriffs 14.12.2024.


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