Maria Urban (Hrsg.): Sexuelle Bildung und sexualisierte Gewalt in Schulen
Rezensiert von Lea Belz, 30.03.2020
Maria Urban (Hrsg.): Sexuelle Bildung und sexualisierte Gewalt in Schulen. Zwischen Anspruch und Wirklichkeit.
Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG
(Gießen) 2019.
160 Seiten.
ISBN 978-3-8379-2908-9.
D: 19,90 EUR,
A: 20,50 EUR.
Reihe: Angewandte Sexualwissenschaft.
Thema
Das Buch von Maria Urban wirft einen kritischen Blick auf Sexuelle Bildung im deutschen Bildungssystem in der Institution Schule. Der Fokus liegt auf dem Thema sexualisierter Gewalt gegenüber Schüler*innen und wird anhand von Studienergebnissen dargestellt.
Autorin
Maria Urban ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Hochschule Merseburg in dem Bereich Soziale Arbeit, Medien- und Kultur. Sie ist in den BMBF Projekten „Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexueller Traumatisierung“ und „SeBile – Sexuelle Bildung für das Lehramt“ tätig.
Entstehungshintergrund
Das Buch erscheint als Band 21 der Reihe Angewandte Sexualwissenschaft im Psychosozial- Verlag. Dieser interdisziplinären Reihe sowie Urbans Publikation liegen ein positives Sexualitätsverständnis zugrunde. Ziel ist eine bessere Verknüpfung zwischen Theorie und Praxis zu ermöglichen. Inhaltlich liegen der Entstehung des Werks vor allem gesellschaftliche Diskurse zu sexualisierter Gewalt in Institutionen sowie Sexuelle Bildung als Teil von Schulbildung zugrunde.
Aufbau
Das Buch gliedert sich in sieben inhaltliche Kapitel mit jeweils zahlreichen Unterkapiteln sowie das Literaturverzeichnis im Anhang.
- Einleitung
- Sexuelle Bildung in Schulen – Theoretischer Kenntnisstand
- Schule und sexualisierte Gewalt – Theoretischer Kenntnisstand
- Einbettung der Studie in das Forschungsfeld
- Methodik der empirischen Untersuchung
- Auswertung der Untersuchungsergebnisse
- Kernaussagen und zentrale Thesen der Auswertung
Inhalt
Beginnend mit der Verortung im aktuellen fachwissenschaftlichen Diskurs zu Sexueller Bildung mit dem Fokus auf sexualisierter Gewalt in Schulen wird in der Einleitung der Zugang zum Thema über die aktuellen Fallzahlen und die entsprechende gesellschaftliche Aufmerksamkeit dargelegt. Sexuelle Bildung und relevante Begrifflichkeiten sowie ein historischer Abriss werden erläutert.
Die theoretische Setzung des Buchs wird mit dem Kapitel 2 Sexuelle Bildung in Schulen eingeleitet. Ein historischer Blick zeigt, dass sich die schulische Sexualerziehung, beginnend in den 1968er Jahren, durch KMK Empfehlungen zu einer schulischen, sexuellen Bildung auf Länderebene weiterentwickelt hat. Die vielfältigen Themen, welche in der Öffentlichkeit durchaus kontrovers diskutiert wurden, finden sich in Rahmenlehrpläne und werden so zur Vermittlungsaufgabe in allen Schulformen. Die Relevanz von Lehrkräften als Akteur*innen der Sexualaufklärung wird anhand von Studienergebnissen (BzgA) (S. 29–31) deutlich. Diese zeigen, dass Schüler*innen ihren Lehrkräften eine bedeutende Rolle in der „Sexualaufklärung“ zuschreiben.
Darauf folgend wird das Konzept der Sexuellen Bildung nach Valtl vorgestellt, in welchem Sexuelle Bildung als „selbstbestimmt und lernzentriert“ (S. 33), „wertinhärent“ (S. 35), „konkret und brauchbar“ (S. 36) verstanden wird und diese (nach Sielert und Valtl) „den ganzen Menschen anspricht“ (S. 36) sowie selbst „politisch“ (S. 37) ist. Die mangelhafte Qualifizierung (angehender) Lehrer*innen wird an einzelnen Studienergebnissen verdeutlicht, die zeigen, dass sowohl die lückenhafte Verortung des Themas in Curricula der Lehramtsstudiengänge sowie die zu geringe Anzahl an Dozierenden mit sexualpädagogischer Fachexpertise, erste Begründungen liefert.
Kapitel 3 ermöglicht einen theoretischen Überblick zu Schule und sexualisierter Gewalt. Die allumfassende Relevanz des Themas wird deutlich an empirischen Daten die zu der Schätzung führen, dass pro Schulklasse ein bis zwei Kinder von sexualisierter Gewalt betroffen sind (S. 49). Exemplarisch werden Studienergebnisse dargestellt (SPEAK! Studie aus dem Jahr 2017), welche die Schule als Ort sexualisierter Gewalt identifizieren und das Täter*innenprofil auf Gleichaltrige (Kinder und Jugendliche) erweitern (S. 49–58). Die Risikofaktoren werden von der Autorin vor allem auf institutioneller und struktureller Ebene identifiziert. Als besonders gefährdet werden Schüler*innen auf Förderschulen konstatiert (S. 61–65).
In Kapitel 4 erfolgt die Einbettung der Studie in das Forschungsfeld. Der Fokus des Buches wird mit Bezug und Einbettung in die Merseburger Studie „Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexueller Traumatisierung“ hergeleitet. Grundannahme ist, dass die Förderung der (sexuellen) Selbstbestimmung Kinder und Jugendliche vor sexualisierter Gewalt schützen kann (S. 69).
Die Methodik der empirischen Untersuchung wird in Kapitel 5 dargelegt. Als Datengrundlage dienen sechs leitfadengestützte Interviews mit Lehrkräften an deutschen Schulen (unterschiedlicher Schulformen) die im Projekt „Schutz vor sexueller Traumatisierung von Kindern und Jugendlichen“ entstanden sind. Ausgewertet werden diese mit der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring. Darauf folgend schließt sich in Kapitel 6 die Auswertung der Untersuchungsergebnisse an. Diese erfolgt anhand des erstellten Kategoriensystems und der Zusammenführung einzelner Kategorien. So werden zum Beispiel die Kategorien „Sexualaufklärung, Sexualität im Lebensraum Schule und Haltung“ (S. 104- 106) der Lehrkräfte in Bezug zu einander gestellt um daran aufzuzeigen, dass Sexuelle Bildung in der Schule vom Engagement der Lehrer*innen abhängig ist; biologisch- medizinische Aspekte inhaltlich fokussiert werden und soziale Aspekte von Sexualität weniger Beachtung finden. Ein weiterer Fokus im Kategoriensystem liegt für die Autorin auf Kooperationspartner*innen in Fragen der Sexuellen Bildung von Schüler*innen (S. 110). Diese erfolgten mit Personen innerhalb des Systems sowie externen Fachstellen, bemerkenswert wurde festgehalten, dass diese Kooperationen nicht strukturell festgelegt und somit auch an die individuellen Entscheidungen der Lehrkräfte gebunden sind. Die Kategorien „Grenzverletzungen“ (S. 116–118) und „Verdachtsfälle“ (S. 118) bestärken die Problematik einer fehlenden Struktur zu Vorgehen, Umgang und fehlender (Schutz-) Konzepte im Bereich der institutionalisierten Sexuellen Bildung. Dies wird durch die benannten Bedarfe an Fort- und Weiterbildungsangeboten durch die Lehrkräfte im Datenmaterial bestätigt (S. 129–134).
In Kapitel 7 werden abschließend Kernaussagen und zentrale Thesen der Auswertung übersichtlich in Stichpunkten zusammengeführt sowie die Forschungsfragen beantwortet und ein kurzer Ausblick gegeben. Insgesamt wird deutlich wo die Defizite in der Umsetzung schulischer Sexueller Bildung liegen und die Antwort auf diese in einer „Implementierung dieser Themen in das Lehramtsstudium“ (S. 145) gegeben.
Neben der Literatur findet sich im Anhang auch das ausführliche Kategoriensystem zur Auswertung der qualitativen Interviews (ab S. 158).
Diskussion
Mit dem Beitrag von Maria Urban wird ein wichtiger Aspekt Sexueller Bildung beleuchtet. Die Relevanz von Sexueller Bildung in der Schule und die Prävention von sexualisierter Gewalt wird anhand empirischer Daten veranschaulicht und es zeigt sich deutlich, dass ein Defizit in der universitären Lehramtsausbildung zu verorten ist, über welches Handlungsbedarfe markiert werden. Mit dem Fokus auf Ursachenforschung und einer analytischen Perspektive liefert dieses Werk einen wichtigen Beitrag zur Identifizierung der Problematik.
Dass es sich bei dieser Veröffentlichung um eine Masterarbeit (S. 89) handelt, ist nicht von Anfang an ersichtlich, begründet aber dann den Verzicht auf weiterführende Vertiefungen. An einigen Stellen wurde eine spannende Fokussierung oder kritische Diskussion ausgespart, die sicherlich von Interesse gewesen wäre. Die Analyse der Inhalte bleibt teils deskriptiv und wiederholt sich in den letzten zwei Kapiteln mehrfach. Eine stärkere inhaltliche Auseinandersetzung mit kritisch zu betrachtenden Voraussetzungen von Bildung sowie curricularer Aspekten innerhalb der Lehramtsausbildung und auch eine stärkere Analyse der Folgen für das System und die Schule (für die Schüler*innen sowie die Lehrkräfte selbst), wäre von großem Interesse für die Leser*innenschaft.
Insgesamt gibt das Buch einen einsteigenden Überblick und eignet sich gut als niedrigschwelliger Zugang für die Thematik. Es ist somit für pädagogisch Tätige, wissenschaftliches Personal sowie Akteuer*innen im Kontext Sexueller Bildung (insbesondere Lehrkräfte) eine spannende Lektüre.
In der Gesamtheit bietet das Buch einen fachwissenschaftlichen, theoretischen Zugang zu einem sehr aktuellen und relevanten Thema. Es bietet einen Überblick und identifiziert anschaulich die Problemlage im derzeitigen Ausbildungsbetrieb von Lehrkräften und markiert damit spannende Anregungen für eine vertiefende Auseinandersetzung.
Fazit
Maria Urban liefert mit ihrer Veröffentlichung „Sexuelle Bildung und sexualisierte Gewalt in Schulen“ einen grundlegenden Beitrag zur Verknüpfung von Theorie und Praxis auf unterschiedlichen Ebenen. Sexuelle Bildung als Teil einer zukünftigen Lehramtsausbildung wird deutlich als Ziel erkennbar.
Die dargestellten Studienergebnisse mit der Fokussierung auf das entwickelte Kategoriensystem machen die Problematik sehr deutlich: Lehrkräften fehlt Sicherheit im Umgang mit Sexueller Bildung sowie eine strukturelle Verankerung dieser Themen. Umso wichtiger ist, dass Maria Urban mit diesem Buch einen Beitrag leistet diese Thematik stärker in den Diskurs der Lehramtsausbildung zu rücken.
Rezension von
Lea Belz
M.A. Bildungswissenschaftlerin, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Allgemeine Pädagogik und Berufspädagogik Technische Universität Darmstadt
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Zitiervorschlag
Lea Belz. Rezension vom 30.03.2020 zu:
Maria Urban (Hrsg.): Sexuelle Bildung und sexualisierte Gewalt in Schulen. Zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG
(Gießen) 2019.
ISBN 978-3-8379-2908-9.
Reihe: Angewandte Sexualwissenschaft.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/26439.php, Datum des Zugriffs 16.10.2024.
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