Melanie Messer: Patientenpartizipation aus Sicht der Pflege
Rezensiert von Matthias Brünett, 22.01.2020

Melanie Messer: Patientenpartizipation aus Sicht der Pflege. Eine Analyse der häuslichen Versorgung von Menschen mit Multimorbidität. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2018. 248 Seiten. ISBN 978-3-7799-3757-9. D: 39,95 EUR, A: 41,10 EUR, CH: 51,90 sFr.
Thema
Zeitgemäße Konzeptionen pflegerischer Versorgung betonen die Bedeutung von Partizipation. Auch Theorien zur professionellen Pflegearbeit (Oevermann, vgl. Weidner 2004) stellen Partizipation und somit die Perspektive der Betroffenen in den Mittelpunkt. Konzeptionalisiert wurde und wird Partizipation vor allem innerhalb eines Kontinuums von „bloßer“ Information bis hin zu tatsächlicher Beteiligung an Entscheidungen (bspw. Wright 2016). Die vorliegende Arbeit geht hier deutlich weiter und interessiert sich sozusagen für die Innenansicht. Im Rahmen eines qualitativ-explorativen Ansatzes wird hier erforscht, wie häuslich Pflegende die – dezidiert gesundheitswissenschaftlich verstandene – Partizipation multimorbider Pflegebedürftiger wahrnehmen und umsetzen.
Autorin
Melanie Messer erhielt für ihre Dissertation den Nachwuchsförderpreis Verbraucherforschung NRW 2018. Sie ist als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen (IQTIG) in Berlin tätig.
Aufbau und Inhalt
Die Publikation gliedert sich auf insgesamt 248 Seiten in 9 Abschnitte, auf die im Folgenden eingegangen wird. Der Hauptfokus liegt dabei auf den Ergebnissen der Untersuchung.
In der Einleitung (S. 11–18) verortet Messer Partizipation als Ausdruck demokratischer Gesellschaftsformen und führt aus, dass sie als solcher normativ im Gesundheitswesen integriert und legitimiert sei. Des Weiteren wird die oben schon erwähnte Fragestellung beschrieben.
Im zweiten Abschnitt „Häusliche Pflege bei Multimorbidität – Kontext der Untersuchung“ (S. 19–34) werden die häusliche Pflege und die Multimorbidität bei Pflegebedürftigkeit sowie ethische und rechtliche Rahmenbedingungen mit Bezug zur Fragestellung erläutert. Messer betont die gerade in der häuslichen Pflege wichtige Interaktion mit den Pflegebedürftigen, ihren Angehörigen usw., vor allem hinsichtlich des Umstandes, dass häusliche Pflege sich in der Privatheit, der Lebenswelt der Pflegebedürftigen ereignet.
Im dritten Abschnitt „Partizipationskonzepte in der Pflege – Forschungsstand“ (S. 35–56) beleuchtet Messer den Forschungsstand zur Partizipation in der Pflege und entsprechende relevante angrenzende Konzepte. Sie unterzieht bspw. die Begriffe des shared decision-making und der patientenzentrierten Versorgung einer kritischen Würdigung. Sie kommt u.a. zu dem Schluss, dass insbesondere hinsichtlich der empirischen Fundierung der teilweise zu Schlagworten gewordenen Konzepte international, vor allem aber in Deutschland, Forschungsdesiderata bestehen.
Der vierte Abschnitt „Zwischen Teilhabe und Aushandlung – theoretische Annäherung“ (S. 57–80) enthält eine vertiefte theoretische Auseinandersetzung u.a. mit den oben schon beleuchteten Konzeptionen. Ergebnis dessen ist die Konkretisierung der Fragestellung der Untersuchung, bspw. hinsichtlich des Rollenverständnisses der Pflegenden, des jeweiligen Aushandlungsgeschehens sowie des auf Partizipation bezogenen Handelns der Pflegenden.
Im fünften Abschnitt „Methodische Vorgehensweise“ (S. 81–98) wird der oben schon angesprochene explorativ-qualitative methodische Ansatz näher erläutert. In die Datenauswertung einbezogen wurden 29 Interviews, davon 4 mit Männern und 25 mit Frauen.
Der größte Abschnitt befasst sich mit den Ergebnissen der Studie („Partizipation aus Sicht der Pflege – Ergebnisse“, S. 99–178). Messer beschreibt drei Typen, die für jeweils einen spezifischen Zugang der interviewten Pflegenden zur Partizipation stehen. Jeder Typ steht also für eine bestimmte Art und Weise, wie die Pflegenden Partizipation verstehen und umsetzen. Es sind dies die „fürsorglichen Aktivierer“, die „pflichtorientierten Dienstleister“ und die „verständnisvollen Begleiter“, die nachfolgend zusammenfassend dargestellt werden sollen.
- Die fürsorglichen Aktivierer setzen Partizipation nahezu gleich mit aktivierender Pflege. Dementsprechend richtet sich die Interaktion mit den Pflegebedürftigen auch aus am täglichen Tun und basiert häufig auf erziehenden Strategien. Weiteres Kennzeichen ist eine eher traditionell-konservative Einstellung. Pflegende dieses Typus finden sich oft in einem Dilemma zwischen der Förderung von Selbstständigkeit und der Notwendigkeit der Fürsorge wieder. Partizipation wird zwar als wichtiger Aspekt gesehen, aber dennoch als etwas betrachtet, das sich gewissermaßen automatisch ereignet, wenn gute Pflegearbeit geleistet wird.
- Die pflichtorientierten Dienstleister haben eine ökonomisch-versorgende Einstellung. Sie sehen sich bewusst als Handelnde in einem Feld ökonomischer Anforderungen. Partizipation wird hier verbunden mit dem Dienstleistungsparadigma der Kundenfreundlichkeit und, im Sinne der Förderung von Compliance, zur Lenkung der Versorgung. Weiterer wichtiger Bezugspunkt sind pflegetechnische Kompetenzen, die als von Partizipation getrennt wahrgenommen werden. Dementsprechend basieren Interaktionsstrategien dieses Typus auch eher auf einem geschäftsmäßigen Verhältnis zu den Pflegebedürftigen, indem bspw. verschiedene Auswahlmöglichkeiten angeboten werden.
- Die verständnisvollen Begleiter haben eine freiheitsorientiert-engagierte Einstellung, die einhergeht mit privatem Engagement auch und vor allem für die Partizipation der Pflegebedürftigen. Partizipation wird von diesem Typus als inhärenter Bestandteil pflegerischer Arbeit gesehen. Pflegebedürftige werden hier als Aushandlungspartner gesehen. Dem Verständnis dieses Typus nach sollten Partizipation und entsprechende Angebote mit angemessenen Möglichkeiten der Finanzierung hinterlegt sein. Dieser Mangel wird mit hohem privatem Engagement ausgeglichen, wobei hier auch auf die Gefahr verwiesen wird, dass dies eine Überlastung der Pflegenden mit sich bringen kann.
Im siebten Abschnitt „Kontrastierender Vergleich der Befunde“ (S. 179–187) werden die beschriebenen drei Typen kontrastierend gegenüber gestellt und somit genauer konturiert.
Im achten Abschnitt „Diskussion“ (S. 188–207) werden die Ergebnisse mit dem Forschungsstand konfrontiert. Messer geht hier ein auf bereits vorliegende Ergebnisse der Partizipationsforschung und erarbeitet ein erweitertes Partizipationsgrundmodell, das von ihr vor allem um die Voraussetzungen der Pflegenden (das oben schon näher beschriebene Selbst- und Aufgabenverständnis) sowie um Kontextfaktoren (Arbeitsbedingungen, zeitliche und finanzielle Ressourcen) ergänzt wird. Weiterhin stellt sie fest, dass das Partizipationsverständnis der Pflegenden sich nicht an aktuellen Partizipationsdiskursen orientiert, sondern an ihrem eigenen Selbst- und Aufgabenverständnis. Möglicherweise, so Messer, sei dies auch auf die unklare Rolle von Pflegenden in Deutschland zurückzuführen. Verwiesen wird auch auf Paradoxa, die sich vor allem für die „verständnisvollen Begleiter“ aus der Konfrontation ihres eigenen Selbstverständnisses und ihrer persönlichen normativen Ausrichtung mit den Rahmenbedingungen des Pflegeberufes ergeben. Partizipation als inhärenter Bestandteil und mithin Grundlage ihre pflegerischen Handelns wird hier durch die vorherrschenden Rahmenbedingungen behindert. Sehr zu Recht merkt Messer aber auch an, dass es unwahrscheinlich sei, dass „ein Partizipationskonzept eine umfassende und flächendeckende Verbreitung im Berufsfeld der Pflege erreichen kann, wenn der Schlüssel dazu primär in der privaten Weltanschauung verortet wird“ (S. 197).
Im neunten Abschnitt folgt schließlich eine Abhandlung zur „Relevanz der Ergebnisse und Ausblick“ (S. 208–221).
Diskussion und Fazit
Die in der Breite rezipierte Debatte über und zur Partizipation verharrt bislang auf einer normativen Ebene: Partizipation ist zu befürworten. Auch in professionstheoretischen Diskursen hat Partizipation als Zentralwert eine wichtige Funktion. Messers Dissertation ist eine der bislang seltenen Arbeiten dazu, in welchem „Gewand“ Partizipation im pflegerischen Alltag daherkommt und stellt somit einen wichtigen Schritt dahin dar, das Konzept Partizipation im Pflegehandeln mit Leben zu füllen. Insbesondere der qualitativ-explorative Zugang ist hier hervorzuheben, der einen Blick darauf ermöglicht, wie Partizipation in der Praxis gelebt und „be-handelt“ wird.
Die hier rezensierte Publikation ist, auch wenn die Ergebnisse durch die spezifischen Rahmenbedingungen in der Pflege in Deutschland nicht ohne weiteres in den internationalen Raum übertragbar sind, ein wichtiger Beitrag zur Forschung zu und über Partizipation. Gemeint ist hier in erster Linie die Pflegewissenschaft. Aber auch angrenzende Disziplinen wie Gesundheitswissenschaften und Gesundheitsförderung dürften Interesse an den Ergebnissen haben, da auch hier, insbesondere innerhalb des Settingansatzes, Partizipation einen zentralen Stellenwert hat. Ebenso dürften hier interessierte Praktikerinnen und Praktiker im Gesundheitswesen nützliche Erkenntnisse finden.
Für gewöhnlich steht der formale, etwas umständliche Aufbau einer Dissertation der Rezeption in der auf eine unmittelbare Anwendbarkeit fokussierten Praxis entgegen. Messer gelingt es allerdings, die Leserin und den Leser gewissermaßen an die Hand zu nehmen und ihre Ausführungen verständlich an die Frau und den Mann zu bringen.
Insgesamt ist der Publikation eine weite Verbreitung in Wissenschaft und Praxis zu wünschen.
Literatur
Wright, Michael T. (2016): Partizipation: Mitentscheidung der Bürgerinnen und Bürger. Leitbegriffe der Gesundheitsförderung. DOI: 10.17623/BZGA:224-i084-1.0
Weidner, F. (2004): Professionelle Pflegepraxis und Gesundheitsförderung. Eine empirische Untersuchung über Voraussetzungen und Perspektiven des beruflichen Handelns in der Pflege. 3. Auflage. Frankfurt a.M.: Mabuse.
Rezension von
Matthias Brünett
MSc. Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Deutsches Institut für angewandte Pflegeforschung (DIP), Köln
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Zitiervorschlag
Matthias Brünett. Rezension vom 22.01.2020 zu:
Melanie Messer: Patientenpartizipation aus Sicht der Pflege. Eine Analyse der häuslichen Versorgung von Menschen mit Multimorbidität. Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2018.
ISBN 978-3-7799-3757-9.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/26441.php, Datum des Zugriffs 09.12.2023.
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