Uwe Britten (Hrsg.): Herausforderungen der Psychotherapie
Rezensiert von Prof. Dr. Carsten Rensinghoff, 26.02.2020

Uwe Britten (Hrsg.): Herausforderungen der Psychotherapie: 23 Therapeutinnen und Therapeuten im Interview. Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG (Gießen) 2019. 153 Seiten. ISBN 978-3-8379-2924-9. 19,90 EUR.
Thema
„23 TherapeutInnen geben offene und ehrliche Einblicke in ihre praktische Arbeit und teilen ihre Erfahrungen mit schwierigen und heiklen Themen und Therapiesituationen […] Die erfahrenen ExpertInnen vermitteln die nötige Ruhe auch bei heiklen Themen und geben Hinweise, wie auch schwierige Situationen gemeistert werden können“ (Klappentext).
Die Interviews befassen sich mit u.U. heiklen Themen. Sie stellen eine therapeutische Herausforderung dar.
Herausgeber
Uwe Britten hat Philosophie und Germanistik studiert. Er ist Herausgeber, Lektor und Publizist in den Bereichen Psychotherapie, Psychiatrie und Jugendhilfe.
Entstehungshintergrund
Die Interviews sind in leicht veränderter und gekürzter Form in unterschiedlichen Ausgaben des Ärzteblatts für Psychologische Psychotherapeuten enthalten. „Das Gespräch mit Jürgen Grieser erschien unter anderem Titel in Psychotherapie im Dialog, Heft 4 (2015), S. 10 f.“ (S. 153).
Aufbau
Die hohe Kunst des Verstehens und Intervenierens
- Gerhard Roth: „Vulnerabilität und Resilienz sind neurobiologisch verankert“
Herausforderungen bei der Beziehungsgestaltung
- Karl Heinz Brisch: „Trotz toben, schreien oder brüllen“
- Diana Pflichthofer: „Nur wer gebunden ist, kann sich trennen“
- Reiner Sachse: „Bei persönlichkeitsgestörten Menschen müssen wir konfrontieren können“
- Fritz B. Simon: „Wir dürfen Menschen in Machtpositionen nicht automatisch pathologisieren“
- Rosemarie Piontek: „Wir müssen immer auch unser eigenes Geschlecht reflektieren“
- Björn Sürfke: „Männer brauchen ein liebevolles Konfrontieren“
- Thomas Lampert: „Ein lösungsorientiertes Kommunizieren aller Beteiligten ermöglichen“
- Jürgen Grieser: „Ich habe meinen Partner und ich habe meine Bauchschmerzen“
- Wolfgang Schmidbauer: „Missbrauch in der Therapie verweist auf ein Gefühl des Scheiterns“
Herausforderungen bei spezifischen Beeinträchtigungen
- Ulrike Willutzki: „Die Klienten bringen die Problemlösung meistens schon mit“
- Anne-Marlene Henning: „Normal – was heißt das schon beim Sex?“
- Ulrich Clement: „Statt um die Psychodynamiken geht es um die Paardynamik“
- Jens Tiedemann: „Die Schambearbeitung ist eine heikle Balanceleistung“
- Martin Reker: „Das ist eine täglich neu zu treffende Entscheidung“
- Michael Büge: „Die Frage nach einem Cannabiskonsum gehört in jede Anamnese“
- Bernd Nissen: „Wir wissen sehr lange nicht, was das ist, worum es da geht“
- Thomas Auchter: „Trauer muss zunächst einmal respektiert werden“
- Thomas Bock: „Psychosen haben eine biografische Sinndimenson“
- Manuel Rupp: „Bei Zweifeln nie ein Risiko eingehen!“
Logiken des Gesundheitswesens
- Tom Levoid: „Wir dürfen ‚Sinn nicht medikalisieren‘“
- Hans Lieb: „Wir müssen nicht in ‚wahr‘ und ‚falsch‘ unterscheiden“
- Hans-Jürgen Wirth: „Die Psychoanalyse ist so lebendig und so kreativ wie noch nie“
Inhalt
Gehard Roth betrachtet die neurobiologischen Anteile der Psychotherapie. Die Hirnforschung kann von der Psychotherapie als eine unterstützende Wissenschaft genutzt werden. Es wird herausgefunden, was – für den psychotherapeutischen Erfolg – im Gehirn passiert. Die Neurobiologie ist für die Psychotherapie eine wichtige Hilfswissenschaft.
Karl Heinz Brisch stellt in seinem Beitrag zur Beziehungsgestaltung und zum Bindungsverhalten die Vermittlung des sicheren Gehaltenseins als herausragend dar. „Bei frühkindlichen Traumatisierungen vor allem durch Bindungspersonen brauchen die Neuerfahrungen […] eine hohe Intensität“ (S. 21).
Mit Trennungen befasst sich das Interview mit Diana Pflichthofer. Psychotherapie ist ein Motor für Trennungen von Objekten, welche einem nicht guttun.
Rainer Sachse legt seinen Fokus auf persönlichkeitsgestörte Menschen. Menschen mit Persönlichkeitsstörungen erkennen lange Zeit nicht die Anteile, welche zu ihren sozialen Problemen führen.
Fritz B. Simon befasst sich mit Machtmenschen. Politiker oder Manager begeben sich in diesem Beitrag in die psychotherapeutische Behandlung. Es handelt sich um die Menschen, die zuweilen eine antisoziale Persönlichkeit an den Tag legen, denn: „Mit einer durchschnittlichen Neurotizität kommt man […] in unserer Gesellschaft nicht weit“ (S. 41).
Die Geschlechtersensibilität nimmt Rosemarie Piontek in den Blick: „Die Gendersensibilität ist als Ziel inzwischen zu den meisten Ausbildungsinstituten […] durchgedrungen“ (S. 45) und somit ein Thema in der Psychotherapie. Hier wird auch die Peerarbeit angesprochen, denn es ist anzunehmen, „dass kaum eine Frau, die einen Missbrauch aufarbeiten möchte, in einer Ersttherapie zu einem Mann geht. […] Viele Personen neigen zu Therapeutinnen und Therapeuten im gleichen Alter mit demselben Geschlecht“ (S. 47 f.).
„Männer sind schwer für eine Psychotherapie zu gewinnen“ (S. 51) stellt Björn Süfke in seinem Beitrag fest und befasst sich dann auch mit dem eingeschränkten Hilfesuchverhalten bei psychosozialen Problemen von Männern.
Thomas Lampert befasst sich mit der Einbeziehung von Angehörigen in das psychotherapeutische Geschehen, mit der nicht früh genug begonnen werden kann, weil so das gesamte soziale System aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet werden kann.
Triangulierung ist das Thema des Beitrags von Jürgen Grieser. Das Konzept der Triangulierung gründet in „der Beobachtung, dass sich das kleine Kind an einen Dritten, den Vater wendet, um seine Beziehung zur Mutter zu regulieren“ (S. 61).
Übergriffe in der Psychotherapie sind das Thema von Wolfgang Schmidbauer. Der Autor stellt heraus, dass die Psychotherapie eine hohe Kompetenz darin erfordert, Grenzen einzuhalten. Der Therapeut darf keine Piraterie betreiben, bei der er sich selber in der Arbeit Vorteile verschafft. Er darf seine eigenen emotionalen Bedürfnisse nicht in den Vordergrund rücken.
Die Ressourcenorientierung ist nach Auffassung von Ulrike Willutzki wichtig, um die Fähigkeiten bei der Person zu entdecken, die sie selbst als hilfreich erlebt.
Sexualität thematisieren ist für Ann-Marlene Henning wichtig, weil Sexualität viel mehr ist als Sexualität. Es geht hier um die Verletzlichkeit von Intimität und Bindung.
Um Sexualität in der Paartherapie geht es bei Ulrich Clement. Die Tücken liegen hier im Wechsel von der Psycho- hin zur Beziehungsdynamik.
Zur Besprechung peinlicher Themen in der Psychotherapie wird Jens Tiedemann vom Herausgeber befragt. Diese Themen werden von Menschen angesprochen, die im Alltag eigentlich schüchtern auftreten. Eine derartige Schambearbeitung, in der sich der Klient bloßstellt ist eine heikle Balanceleistung.
Ein subjektorientierter Ansatz wird von Martin Reker in der Psychotherapie bei chronischen Trinkern eingesetzt. „Es müssen therapeutisch Anlässe geschaffen werden, die es für den Betroffenen lohnenswert erscheinen lassen, den Konsum einzustellen oder […] stark einzuschränken“ (S. 98). Rekers Ansatz beleuchtet die Ressourcenorientierung, die diametral zum defizitorientierten Ansatz der Medizin steht.
Junge Cannabis konsumierende Klienten werden im Interview mit Michael Büge thematisiert. Die Zahl der Konsumenten steigt nicht dramatisch an, jedoch die Qualität des THC-Anteils. Jugendliche versuchen mit dem Cannabiskonsum Probleme zu lösen, wie sie in diesem Alter oft vorkommen. V.a. der aktuelle Konsum muss anamnestisch erhoben werden, um gemeinsam mit dem Klienten zu überlegen, ob es sich hierbei um einen gelegentlichen oder einen regelmäßigen Konsum handelt.
Bernd Nissen befasst sich in seinem Beitrag mit der Hypochondrie. Derartige Klienten erfordern beim Therapeuten viel Geduld, denn „der Patient teilt den unbewussten Gehalt, den er eigentlich mitteilen müsste, eben nicht mit, kann ihn nicht mitteilen“ (S. 109). Hypochondrische Klienten müssen ein Halten erfahren. So merkt er, dass es der Therapeut ernst meint und ihm zuhört.
Der Umgang mit Trauer wird von Thomas Auchter. Das Reden über die Trauer bewirkt „das Wiederbeleben ungelöster Konflikte im Sprechen und Fühlen“ (S. 116). Langfristig führt dies zu einer Befreiung. Der Trauernde lernt den Unterschied zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Nicht günstig für die Trauerverarbeitung ist die Einnahme von Medikamenten, da sie i.d.R. nur kurzfristig Entlastung bieten.
In der Psychosenpsychotherapie wagt sich der Mensch an existentielle Themen heran, wie Thomas Bock es herausstellt. Es handelt sich hierbei um die Balance von Nähe und Distanz, Sein und Nichtsein, Autonomie und Bindung. Und eine Psychose ist eine existentielle Lebenskrise von einem besonders dünnhäutigen Menschen. Die Psychosenbehandlung muss biographisch orientiert sein.
Suizidalität und Krisenintervention werden vom Herausgeber mit Manuel Rupp besprochen. Wenn Selbstmord in der Therapiesitzung angesprochen wird, muss das Thema dann auch intensiviert werden. Ein Kunstfehler wäre in diesem Fall das Aufschieben auf die nächste Therapiesitzung. Der Therapeut muss in besonders heiklen Situationen auch eine Klinikeinweisung vornehmen. In der Therapie sind in Krisen die Selbsthilfekräfte zu fördern.
Mit Tom Levold bespricht Uwe Britten die Funktion von Diagnosen. Während des Therapieprozesses lässt die Bedeutung von Diagnosen immer weiter nach. Es ist wichtig, dass sich der Therapeut von seiner Diagnose lösen kann.
Das Aufeinanderprallen von psychologischem und medizinischem Denken ist die Betrachtung von Hans Lieb. Eine medikamentöse Behandlung befriedigt passiv, während die Psychotherapie eine aktive Rolle spielt. Medikamente lösen, im Gegensatz zur Psychotherapie, keine psychosozialen Probleme.
Die unerkannte Weiterentwicklung der Psychoanalyse ist eine Erkenntnis von Hans-Jürgen Wirth. Die Psychoanalyse ist die differenzierteste psychologische Theorie der menschlichen Psyche. In der Psychoanalyse wird der Einzelne in seiner beziehungsdynamischen Verbundenheit mit seinem Mitmenschen gesehen. Durch die Zurückdrängung der Psychoanalyse besteht die Gefahr, „dass die systematische Selbstreflexion als Grundlage jeder Psychotherapie verloren geht“ (S. 150).
Fazit
Bei dem besprochenen Werk handelt es sich um eine hervorragende Darstellung der unterschiedlichsten psychotherapeutischen Felder. An der Ausbildung in Psychotherapie Interessierte können sich hier einen Überblick über komplexe psychotherapeutische Geschehen informieren und schauen, ob das etwas für sie ist.
Das Buch ist zudem für die Lesenden interessant, die während der Therapie mit Inhalten oder Themen konfrontiert werden, mit welchen sie sich noch nicht so intensiv befasst haben.
Rezension von
Prof. Dr. Carsten Rensinghoff
Hochschullehrer für Heilpädagogik und Inklusive Pädagogik an der DIPLOMA Hochschule
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