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Ilko-Sascha Kowalczuk: Die Übernahme

Rezensiert von Prof. Dr. Georg Auernheimer, 11.02.2020

Cover Ilko-Sascha Kowalczuk: Die Übernahme ISBN 978-3-406-74020-6

Ilko-Sascha Kowalczuk: Die Übernahme. Wie Ostdeutschland Teil der Bundesrepublik wurde. Verlag C.H. Beck (München) 2019. 319 Seiten. ISBN 978-3-406-74020-6. 14,95 EUR.
Reihe: C.H. Beck Paperback.

Weitere Informationen bei DNB KVK GVK.
Inhaltsverzeichnis bei der DNB.

Thema

Die Folgen der Vereinigung der beiden deutschen Nachkriegsstaaten – manche sprechen von „Anschluss“, der Autor von „Übernahme“ – sind in den letzten Jahren zunehmend zum Gegenstand einer kritischen Reflexion geworden, meist verbunden mit einer Neubewertung der DDR und der DDR-Gesellschaft. Dazu sieht der Autor der vorliegenden Publikation, der schon lange an diesem streitbaren Diskurs als Historiker und Publizist beteiligt ist, wenig Anlass. Seine Sicht auf den historisch einmaligen Transformationsprozess und die sozialen und politischen Folgen ist verhalten kritisch.

Autor

Kowalczuk ist Historiker. „Er hat zahlreiche Bücher zur DDR-Geschichte veröffentlicht“ (Klappentext). Von 1995 bis 1998 war er ehrenamtliches sachverständiges Mitglied in der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur“ des Deutschen Bundestages. Von 1998 bis 2000 arbeitete er als wissenschaftlicher Referent in der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Seit 2001 ist er Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Projektleiter in der Abteilung Bildung und Forschung beim Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (Wikipedia).

Entstehungshintergrund

Kowalczuk möchte seinen „Essay“ nicht als wissenschaftliche Abhandlung im üblichen Sinn verstanden wissen. „Dieser Essay basiert auf wissenschaftlichen Untersuchungen und eigenen Beobachtungen und Reflexionen“ (22). Dabei ist von Interesse, das er sich zum einen als DDR-Geschädigter sieht, zum anderen aber auch von zwei Transformationsgeschädigten in seinem familiären Umfeld erzählt. Vater und Schwiegervater, beide DDR-Bürger, haben nach der Wende leidvolle Erfahrungen mit Arbeitslosigkeit, enttäuschten Existenzgründerplänen etc. gemacht (11 ff.).

Aufbau und Inhalt

Nach dem einleitenden Kapitel 1 blendet der Autor zunächst in zwei Kapiteln (Kapitel 2 und 3) zurück auf die Geschichte des Umbruchs („1989: die unvorstellbare Revolution“, „1990: das letzte, unglaubliche Jahr der DDR“).

Das Kapitel 4 wird dann unter die Frage gestellt „Der Beitritt: alternativlos?“ Der Autor versucht, Licht in die politische Entwicklungsdynamik im Frühjahr 1990 zu bringen. Unter anderem fragt er sich: „Warum war die Bürgerrechtsbewegung derart marginalisiert worden?“ (71) Er zeigt sich befremdet über den Umgang der Kohl-Regierung mit der letzten DDR-Regierung inklusive Bürgerrechtler*innen. Auch die unterdrückte Verfassungsdebatte wird thematisiert.

In Kapitel 5 „Keine Ehe unter Gleichen“ werden Selbst- und Fremdbilder von West- und Ostdeutschen, besonders Stereotype über die letzteren, beleuchtet, pseudowissenschaftliche Verlautbarungen über die DDR-Sozialisation eingeschlossen. Der Autor erinnert an frühe Warnungen vor Selbstgefälligkeit auf Seiten der historischen Gewinner.

Schon die Überschrift von Kapitel 6 „Blühende Landschaften? Die wirtschaftliche Übernahme Ostdeutschlands und ihre Profiteure“ verweist auf enttäuschende Erfahrungen in den neuen Bundesländern. Der Autor möchte zwar die Schwierigkeiten des Umbaus nicht leugnen (112), geht auch mit der Treuhand eher schonend um, prangert aber doch an Beispielen die Art an, wie wirtschaftliche Fakten geschaffen wurden. Man bekommt den Eindruck von einem Raubzug, der im industriellen Sektor, anders als in der Landwirtschaft (129 ff.), Stagnation zur Folge hatte. Auch auf den Zusammenbruch des ostdeutschen Verlags- und Buchmarkts infolge der Privatisierungspraxis der Treuhand wird aufmerksam gemacht.

Themen von Kapitel 7 „Tabula rasa: die soziale Katastrophe“ (auch eine deutliche Ankündigung) sind der Zusammenbruch des Arbeitsmarkts, das Rentenproblem und die Situation der Frauen. Der Autor hebt vor allem hervor, was die Vertreibung aus der „Arbeitsgesellschaft“ der DDR, wo der Betrieb das ganze Lebensumfeld gestaltet hatte, für die Menschen bedeutete. „Die Menschen verloren nicht nur ihre Arbeit, sondern auch soziale Beziehungen und sozialen Zusammenhalt“ (144). Dazu kam die Entwertung der Lebensleistung und für manche die subjektiv erfahrene Ungerechtigkeit.

In Kapitel 8 „Kulturelle Hegemonie: der Elitenaustausch und die Entwertung ostdeutscher Kultur“ wird an den Austausch des Führungspersonals in allen gesellschaftlichen Bereichen, speziell auch an die Abwicklung der Universitätsinstitute, erinnert. Auch „die Abwertung ostdeutscher Künstlerinnen und Künstler“, nicht zuletzt der Schriftsteller*innen wird kritisch beleuchtet.

In Kapitel 9 „Das zweite Leben der Stasi: Vergangenheitsaufarbeitung und ihre Folgen“ wird, entgegen der eventuell durch die Überschrift geweckten Erwartung, die Überwachungspraxis des Staatssicherheitsdienstes nüchtern auf ihre realen Ausmaße und Funktionen zurückgestutzt. Die Rolle des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen bewertet Kowalczuk heute als „sehr ambivalent“ (197). Er muss konstatieren, dass die ostdeutsche Gesellschaft in Bezug auf die Vergangenheit „tief gespalten“ ist (200, vgl. 205). Die bisher favorisierte pädagogische „Überwältigungsstrategie“ bei der Aufarbeitung hält er für kontraproduktiv (207 f.).

In Kapitel 10 „Ungebrochene Traditionen: Bürden der Vergangenheit als Last der Gegenwart“ erklärt er wie häufig „illiberales Denken“, Nationalismus, Rassismus mentalitätsgeschichtlich, d.h. er führt sie auf die DDR-Sozialisation zurück.

Die Überschrift von Kapitel 11 „Politisch ein anderes Land? Der unverstandene Osten“ könnte die Leser*innen etwas in die Irre führen. Denn Kowalczuk selbst sieht dort unpolitische Haltung, Lethargie, Mangel an Initiative weit verbreitet (243), wofür wiederum die DDR verantwortlich gemacht wird, wo die Gesellschaft stillgelegt worden sei (259). Themen sind die heutige Medienlandschaft, Wahlen, Wahlverhalten, und was aus der SED geworden ist.

In Kapitel 12 rückt der Autor das „unter Druck geratene Wohlstandsversprechen“, die soziale Ungleichheit, den Abstand zwischen oben und unten in den Kontext der Globalisierung. „Kaum eines dieser Probleme ist nur spezifisch ostdeutsch“ (273).

Ein Personenregister vervollständigt den Band.

Diskussion

Die Leserin, der Leser ist gut beraten, noch andere Erzählungen über die DDR und ihr Ende vergleichend heranzuziehen, zum Beispiel die von Steffen Mau oder von Daniela Dahn (2019), einst Gründungsmitglied des Demokratischen Aufbruchs. Verschiedene Narrative sind bei diesem kontroversen Thema erhellend. Die nicht nur von Kowalczuk aufgestellte Behauptung beispielsweise, den Holocaust habe die DDR aus der Erinnerungsarbeit ausgeklammert, stößt bei Daniela Dahn auf entschiedenen, gut belegten Widerspruch. Kowalczuk hat wie Mau und Dahn die DDR selbst erlebt. Übereinstimmungen findet man am ehesten mit der Studie des Soziologen Mau, der aber die DDR-Gesellschaft mit mehr Abstand zu damals analysiert. Auch Kowalczuk ist zwar bemüht, allzu simple Vorstellungen über diese Gesellschaft und das Regime zu korrigieren, das eher durch „subtile Gewalt“ geherrscht habe (195). Aber er selbst wird immer wieder zu Stereotypisierung verleitet. Und insofern ist es nur schlüssig, dass er irritierende politische Entwicklungen im heutigen Ostdeutschland primär mentalitätsgeschichtlich erklärt (239 ff.).

Dabei schildert er selbst eindrucksvoll die Folgen des „Zusammenbruchs der Arbeitsgesellschaft“ für die Menschen (Kapitel 1 u. 7), was andere Erklärungen nahelegen würde. Aktuelle Umfragen zeigen, dass zum Beispiel die Aufnahme von Geflüchteten gerade von jüngeren Ostdeutschen abgelehnt wird, die nicht in der DDR sozialisiert worden sind. Dass die DDR-Bürger von heute auf morgen mit der neoliberalen Globalisierung konfrontiert wurden, wird immerhin im letzten Kapitel angedeutet. Kowalczuks Eingeständnis, die Finanzkrise von 2007 ff. habe seine politische Perspektive verändert – „Begriffe wie Kapitalismus, Imperialismus, Finanzkapital… klangen plötzlich nicht mehr wie von gestern“ (16) – bleibt jedoch folgenlos für seine Sicht auf die „Übernahme“.

Die überstürzte „Übernahme“, eigentlich ein eher negativ konnotierter Begriff, trifft bei Kowalczuk auf mehr Verständnis als bei den vorhin genannten Autor*innen. Er neigt dazu, das Vorgehen der Regierung Kohl als alterativlos zu beurteilen. Vom moralischen Standpunkt missbilligt er dabei manche Unanständigkeit Kohls, vor allem „die Demütigung von Stefan Heym“, 1994 Alterspräsident des Deutschen Bundestags (190 ff.).

Fazit

Das Buch ist auf jeden Fall lesenswert, weil materialreich und von eigenen Erlebnissen des Autors unterfüttert. Nochmals wiederholt sei die Empfehlung, andere Publikationen zum Thema mit heranzuziehen, um verschiedene Sichtweisen kennenzulernen. Bei diesem kontroversen Thema hilft das bei der Urteilsbildung.

Rezension von
Prof. Dr. Georg Auernheimer
Lehrte Erziehungswissenschaft, Schwerpunkt Interkulturelle Pädagogik, in Marburg und Köln.
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Es gibt 92 Rezensionen von Georg Auernheimer.


Zitiervorschlag
Georg Auernheimer. Rezension vom 11.02.2020 zu: Ilko-Sascha Kowalczuk: Die Übernahme. Wie Ostdeutschland Teil der Bundesrepublik wurde. Verlag C.H. Beck (München) 2019. ISBN 978-3-406-74020-6. Reihe: C.H. Beck Paperback. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/26457.php, Datum des Zugriffs 20.09.2024.


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