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Felicitas Söhner, Thomas Becker et al. (Hrsg.): Psychiatrie-Enquete

Rezensiert von Prof.in Dr. Anja Katharina Peters, 05.10.2020

Cover Felicitas Söhner, Thomas Becker et al. (Hrsg.): Psychiatrie-Enquete ISBN 978-3-88414-953-9

Felicitas Söhner, Thomas Becker, Heiner Fangerau (Hrsg.): Psychiatrie-Enquete. Mit Zeitzeugen verstehen : eine Oral History der Psychiatriereform in der BRD. Psychiatrie Verlag GmbH (Köln) 2020. 207 Seiten. ISBN 978-3-88414-953-9. D: 25,00 EUR, A: 25,70 EUR.
Reihe: Zur Sache: Psychiatrie.

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Thema

Die Psychiatrie-Enquete, die 1975 dem Deutschen Bundestag ihren Abschlussbericht zur psychiatrischen Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland vorlegte, hat das bundesdeutsche Gesundheitswesen in diesem Bereich maßgeblich beeinflusst. Bisher wurde die Enquete in der Regel als geschlossene Gruppe dargestellt und auch nur als „die Psychiatrie-Enquete“ bezeichnet. Felicitas Söhner hat 28 Interviews mit Beteiligten und Zeitzeug:innen geführt, diese kontextuell eingeordnet und zeichnet so erstmals anhand von Netzwerken und Einflussfaktoren die Entstehungsgeschichte und Diskurse nach, die zur Bildung der Enquete und letztendlich zum Abschlussdokument führten.

Autorin

Die Historikerin Felicitas Söhner ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören die Psychiatriegeschichte und Oral History, die sie im vorliegenden Buch miteinander verbindet. Söhner ist unter anderem Mitglied der International Oral History Association.

Entstehungshintergrund

Die beiden Herausgeber des Bandes, Heiner Fangerau (Direktor des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der Universität Düsseldorf) und Thomas Becker (Ärztlicher Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie II der Universität Ulm am Bezirkskrankenhaus Günzburg), befassten sich seit 2011 mit der Geschichte der Psychiatrie-Enquete – auch in dem Bewusstsein, dass die Beteiligten mittlerweile hochbetagt sind. Um das persönliche Erleben der damaligen, sehr intensiven Arbeit in der Enquete erheben, auswerten und darstellen zu können und die Erinnerungen der Zeitzeug:innen für die Historiographie zu erhalten, entstand die Idee eines Oral History-Projekts, dass dann von Felicitas Söhner durchgeführt wurde. Das Buch präsentiert die Ergebnisse dieses Projekts.

Aufbau und Inhalt

Im Anschluss an das Geleitwort der Herausgeber führt das Einstiegskapitel zunächst in den Forschungsstand und vorliegende Literatur zur deutschen Psychiatriegeschichte besonders in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein. Der methodische Ansatz wird zusammenfassend, aber sorgfältig dargestellt:

  1. Auswahl der Interviewteilnehmer:innen und -durchführung
  2. Auswertungsverfahren (sowohl inhaltsanalytisch als auch deskriptiv-hermeneutisch)
  3. Netzwerkanalyse
  4. Quellentriangulation

Die folgenden Kapitel suchen folgende Leitfragen zu beantworten:

  • Welche außerfachlichen Entwicklungen trugen dazu bei, dass reformorientierte Aspekte in den fachlichen Diskurs aufgenommen wurden?
  • Welche Rahmenbedingungen trugen dazu bei, dass die Anliegen der reformorientierten Psychiatrie aus dem fachlichen Diskurs hinausgetragen wurden?
  • Auf welche Weise waren interne Aspekte des Faches wie Konzepte und Methoden für diese Entwicklung einflussreich?
  • Auf welche Weise waren externe Faktoren wie gesellschaftspolitische Prozesse entscheidend für diese Entwicklung?
  • Wie wurde zuletzt diese Entwicklung von der medialen Öffentlichkeit beeinflusst bzw. von ihr aufgenommen? (S. 14)

Zunächst stellt Söhner die Rahmenbedingungen im Vorfeld der Psychiatrie-Enquete dar (s. 38 ff.). Bereits kurz nach dem Zweiten Weltkrieg setzt international eine intensive Debatte um die Zustände in psychiatrischen Anstalten und die Notwendigkeit umfassender Reformen ein. Die Interviewpartner(:innen?) betonen hier vor allem den Einfluss aus Großbritannien, wo mehrere deutsche Psychiater(innen?) hospitierten. Dieser Blick über die nationalen Grenzen spiegelte sich auch in den deutschen Fachpublikationen der 1960 Jahre. Die gesellschaftlichen Reformprozesse dieser Dekade ebenso wie die sozialpolitische Ausrichtung der sozialliberalen Bundesregierung ab 1969 prägten die Fachdiskurse in der Psychiatrie ebenso wie zunehmende Berichterstattung über die psychiatrischen Einrichtungen in der bundesdeutschen Presse.

Im folgenden Kapitel Reformorientierte Akteure (S. 69 ff.) untersucht Söhner die Rolle verschiedener Protagonisten und Strukturen im Kontext der Enquete anhand der Kategorien

  • Generation
  • Alterskohorte
  • Denkschule
  • Netzwerk

Die Bedeutung des CDU-Politikers Walter Picard (1923-2000) für die Enquete wird herausgehoben untersucht und dargestellt. Graphiken demonstrieren die enge Vernetzung der Akteure, den lebendigen Austausch von Ideen und den Erfolg einzelner Denkschulen, vor allem in Heidelberg und Frankfurt/Main.

Das Kapitel Fachliche Entwicklungen (S. 97 ff.) untersucht die Einflüsse von

  • Pharmakopsychiatrie
  • Psychotherapie
  • Psychoanalyse

auf die reformpsychiatrische Entwicklung in der BRD. Hier zeigen sich Divergenzen zwischen Wahrnehmung aus Quellen und den Erinnerungen der Interviewten: Während die ausgewertete Literatur nahelegt, dass der pharmakotherapeutische Ansatz von hoher Relevanz für den reformorientierten Fachdiskurs war, ist dies den Zeitzeugen weniger präsent. Prägnanter scheint die Diskussion um den psychotherapeutischen Ansatz gewesen zu sein. Die Psychoanalyse, die in Deutschland 1933–1945 diskreditiert wurde, erlebte nach 1945 ein Revival und wurde in den 1960ern auch Bestandteil links-liberaler Diskurse. Sowohl schriftliche als auch mündliche Quellen verweisen auf Einflüsse aus der Psychoanalyse auf die Empfehlungen der Enquete.

Es ist – aus Sicht einer Pflegewissenschaftlerin – durchaus bemerkenswert, dass Söhner den Impulse[n] aus anderen Disziplinen ein eigenes Kapitel (S. 121 ff.) widmet. Während der Einfluss von Anthropologie und Soziologie auf die Akteure deutlich wird, bleibt die Rolle der professionellen Pflege diffus. Es ist eher der marginale Status der Pflegekräfte bei gleichzeitig hoher Bedeutung für die Behandlung psychisch kranker Menschen, die hier dargestellt wird.

In der umfangreichen Schlussbetrachtung (S. 148) fasst Söhner die Ergebnisse noch einmal themenbezogen zusammen und vergleicht sie. Dabei scheint mir die folgende Passage den Inhalt des Buches treffend zusammenzufassen:

„Vor diesem Hintergrund lassen sich die reformorientierten Prozesse im Vorfeld der Enquete kaum als Bruch, noch weniger als allein für sich stehendes Phänomen verstehen. Vielmehr ist von mehreren Konzepten und Initiativen innerhalb der Fachgemeinschaft auszugehen, die parallel propagiert wurden, zum Teil miteinander konkurrierten, zum Teil kooperierten und in ihrem jeweiligen Verständnis Reformen in der Psychiatrie anstrebten.“ (Söhner, 2020, S. 161)

Ein umfangreicher Anhang mit Tabellen, Abbildungsverzeichnis und Quellen-/Literaturverzeichnis schließen das Buch ab.

Diskussion

Ich bin zwiegespalten in der Beurteilung dieses Buchs, dem umfangreiche Forschung und umfassende Expertise zugrunde liegen. Der Titel – Psychiatrie-Enquete: mit Zeitzeugen verstehen. Eine Oral History der Psychiatriereform in der BRD – weckte bei mir die Erwartung, eine der wesentlichen Phasen der deutschen Psychiatriegeschichte tatsächlich aus dem Erleben der Beteiligten heraus kennenzulernen. Oral History ist vom klassischen Verständnis her eine Geschichtsschreibung von unten, es soll ansonsten eher unsichtbare Geschichte dokumentiert werden. Hier sind es mit (späteren) Lehrstuhlinhabern und Klinikleitern aber gerade die einflussreichen Akteure in der Medizin, die sich erinnern. Psychiatrieerfahrene und (meist weibliches) Pflegepersonal kommen kaum zu Wort. Dies wird auch in der – ob bewusst oder unbewusst – überwiegenden Verwendung der männlichen Bezeichnungen deutlich.

Auch sind mir für eine Oral History zu wenig Interviewausschnitte eingefügt. Diese sind zudem anonymisiert, sodass mir zwar aus der entsprechenden Tabelle die Namen der Interviewten bekannt sind, ich ihnen jedoch die Aussagen nicht zuordnen kann. Folglich erschließt sich mir auch nicht, in welchem Kontext die jeweiligen Zitate stehen. Insgesamt sehe ich die inhaltliche Stärke dieses Buches in der sehr sorgfältigen Auswertung einer Vielzahl an schriftlichen Quellen – die Zitate ergänzen diese wertvoll.

Die Darstellung der Enquete und ihrer Arbeit ist komplex und differenziert, setzt allerdings ein hohes Vorwissen beim Publikum voraus. Dies gilt auch für die Erläuterung des methodischen Vorgehens und allgemein für das Niveau dieser Fachpublikation.

Die Psychiatriegeschichte im Nationalsozialismus hätte in ihrer Bedeutung für die Fachdiskurse nach 1945 meiner Meinung nach umfangreicher dargestellt werden müssen. Allein aufgrund der Tatsache, dass 1975 immer noch Patient:innen und Ärzt:innen in den Anstalten lebten und arbeiteten, die dort bereits vor 1945 waren, wäre dies geboten gewesen trotz der Verortung dieses Forschungsprojekts in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Auch hätte ich mir Fußnoten gewünscht, die auf die Nähe einzelner genannter Personen zur NS-Psychiatrie 1933–1945 hingewiesen hätten (Ruffin, von Bayer u.a.).

Gleichwohl ist es ein wissenschaftshistorisch und methodisch faszinierendes Buch. Wie Söhner selbst schreibt, „[…] bieten die vorliegenden Überlegungen die Chance, über ›Schulbildungsprozesse‹ in der Wissenschaft nachzudenken und bislang statische Modell um dynamische Aspekte zu erweitern.“ (a.a.O., S. 95 f.) Die Anwendung sozialwissenschaftlicher Untersuchungsmethoden auf den Untersuchungsgegenstand Medizin hat mich tatsächlich begeistert und ich bin davon überzeugt, dass Söhner hier Maßstäbe setzt für zukünftige Arbeiten und Forschungsprojekte.

Fazit

Die Einflussfaktoren auf die Psychiatrie-Enquete werden detailliert aufgezeigt und verdeutlicht. Damit wird auch herausgearbeitet, dass Medizin – hier an Beispiel der Psychiatrie – eben keine sich linear entwickelnde, objektive Wissenschaft ist, sondern im Kontext ihrer Zeit und ihrer Akteur:innen betrachtet werden muss. Die Aufbruchstimmung, die vor allem unter den jüngeren Psychiater:innen der 1960er und 1970er Jahre herrschte, der Willen zu Veränderung unzumutbarer Zustände wird greifbar gemacht.

Das Buch wendet sich allerdings an ein Fachpublikum mit historischen Vorkenntnissen und methodischer Expertise. Wenn es im Studium oder in (nichtakademischen) Weiterbildungen Verwendung finden soll, müsste es meiner Meinung nach inhaltlich und methodisch eingeführt werden.

Rezension von
Prof.in Dr. Anja Katharina Peters
Professorin für Pflege/Pflegewissenschaft an der Evangelischen Hochschule Dresden https://ehs-dresden.de/index.php?id=606&username=Anja.Peters
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Es gibt 2 Rezensionen von Anja Katharina Peters.

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Zitiervorschlag
Anja Katharina Peters. Rezension vom 05.10.2020 zu: Felicitas Söhner, Thomas Becker, Heiner Fangerau (Hrsg.): Psychiatrie-Enquete. Mit Zeitzeugen verstehen : eine Oral History der Psychiatriereform in der BRD. Psychiatrie Verlag GmbH (Köln) 2020. ISBN 978-3-88414-953-9. Reihe: Zur Sache: Psychiatrie. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/26469.php, Datum des Zugriffs 17.09.2024.


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