Bernd Birgmeier, Eric Mührel et al. (Hrsg.): Sozialpädagogische SeitenSprünge
Rezensiert von Thorsten Heimann, 09.03.2020

Bernd Birgmeier, Eric Mührel, Michael Winkler (Hrsg.): Sozialpädagogische SeitenSprünge. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2020. ISBN 978-3-7799-6215-1. D: 39,95 EUR, A: 41,10 EUR, CH: 51,90 sFr.
Thema
Das Anliegen der Autor*innen besteht im Nachzeichnen der Evolution und Identität der Sozialpädagogik der letzten 20 Jahre sowie der Beschreibung zukünftiger Entwicklungen aus unterschiedlichen Perspektiven. Dieser Sammelband ist als theoretische und praktische Bestandsaufnahme, als Definitionsversuch und prognostische Empfehlung gedacht.
Entstehungshintergrund
Er ist der erste von insgesamt drei geplanten Teilen, die zu einem tieferen Verständnis sozialpädagogischer Entwicklungen beitragen sollen. Hierzu sind die Autor*innen aufgefordert, sich in drei Jahren wieder auf die Thematik einzulassen und abzuschätzen, inwieweit Veränderungen stattgefunden haben. Nach einem weiteren mehrjährigen Zeitraum soll dann im dritten Band eine Reflexion vorgenommen werden.
Herausgeber
Bernd Birgmeier, Privatdozent für Sozialpädagogik, Katholische Universität Eichstätt
Eric Mührel, Professor am Fachbereich Sozialwissenschaften, Hochschule Koblenz
Michael Winkler, Professor für Pädagogik, Friedrich-Schiller-Universität Jena
Aufbau und Inhalt
Auf insgesamt 270 Seiten setzen sich 35 Autor*innen aus unterschiedlichen Perspektiven mit bisherigen Beobachtungen und zukünftigen Skizzen sozialpädagogischer Entwicklungen auseinander. Eine thematische Gliederung der Beiträge erfolgt nicht. Jedoch sind für die Herausgeber folgende Punkte von Interesse (S. 10 f.):
- „Der Zustand bzw. die Identität bzw. die aktuelle Gestalt der Disziplin (Bestandsaufnahmen)
- Was genau ist (gegenwärtig) unter Sozialpädagogik exakt zu verstehen (Definitorisches)
- Was ist das Besondere/das Spezielle der Sozialpädagogik?
- Welche Wissensgebiete, Gegenstands-/​Objektbereiche, Theorien etc. repräsentiert die Sozialpädagogik (historisch und aktuell)?
- Welche Themen, Objektbereiche wären für eine Sozialpädagogik der Zukunft von besonderem Interesse (Prognosen und Perspektiven)?“
Aufgrund der Fülle von Beiträgen, von denen hier leider nicht alle Berücksichtigung finden können, wurden insbesondere solche ausgewählt, die sich mit Fragen der Disziplinverortung und aktuellen thematischen Diskursen, Prognosen und Perspektiven beschäftigen.
Aktuelle wissenschaftstheoretische Verortungen der Sozialpädagogik
„Wissenschaftlich-disziplinär betrachtet“ (S. 51), zeichnet Stefan Borrmann in seinem Beitrag „Soziale Arbeit, Sozialpädagogik und soziale Kohäsion“ die Sozialpädagogik als „eine von zwei Traditionslinien der Sozialen Arbeit“ nach (vgl. hierzu weitere Beiträge in diesem Band z.B. Krauss S. 131, Noack S. 181, Spatscheck S. 226). Der Begriff Soziale Arbeit wird als „Subsumtion“ (Lambers S. 139, Spatscheck S. 226) für die Sozialarbeit und Sozialpädagogik verwendet. Borrmann zitiert Hans Thiersch, der Sozialarbeit traditionell im Bereich der Armutshilfe und Unterstützung von Unterprivilegierten verortet und der Sozialpädagogik ihre Rolle im Hilfs-, Erziehungs- und Bildungsfeld zuordnet (S. 51). Der Autor wirft die Frage auf, ob eine solche Differenzierung für die heutige Zeit überhaupt sinnvoll sei.
Christian Spatscheck sieht seit den 1990er Jahren eine zunehmende Annäherung von sozialarbeiterischer und -pädagogischer Theorieentwicklung unter dem Begriff der Sozialen Arbeit (S. 226). Die Frage, ob eine disziplinäre Zuordnung der Sozialpädagogik erfolgen solle und wenn ja, wie, wird unterschiedlich bewertet. Spatscheck selbst plädiert für eine Zuordnung zu einer eigenständigen Disziplin Soziale Arbeit anstatt zur Erziehungswissenschaft.
Winfried Noack, der in seinem Beitrag „Was ist unter Sozialpädagogik zu verstehen?“ auf die Wissenschaftlichkeit der Sozialpädagogik hinweist und im weiteren Verlauf seiner Arbeit eine detaillierte Auflistung von Arbeitsfeldern darstellt, führt an, dass „die Sozialpädagogik […] an vielen Hochschulen ein Teilgebiet der Pädagogik [ist]“ (S. 181) und – im Gegensatz zur Sozialarbeit – als ein Fach der Pädagogik mit einer längeren universitären Tradition angesehen wird (vgl. ebd.).
Für Bernd Dollinger – „Zwischen Einheitssuche und Selbstvermarktung. Sozialpädagogik als Plausibilisierungsagentur“ – stellt sich die heutige Sozialpädagogik in ihrer Abgrenzung zu anderen Disziplinen als zunehmend wissenschaftlich etabliert dar. Gleichzeitig mache aber ihre „Heterogenität […] Versuche einer sozialpädagogischen Identitätsbestimmung […] stets notwendig“ (S. 70).
Diese Heterogenität veranlasst Helmut Lambers in seinem Beitrag „Theorievielfalt – Free Jazz oder Blues“ einen Perspektivenwechsel anzuregen. So soll der „Tanzplatz, auf dem unterschiedliche Kulissen aus unterschiedlichen anderen Theoriezusammenhängen aufgebaut seien“ (Mollenhauer zit. nach Thiersch, S. 137), als „Theoriepluralismus“ (Paul Karl Feyerabend zit. nach Lambers S. 138) anzusehen sein, da der Diskurs und die „Multiperspektivität“ (ebd.) wissenschaftliche Entwicklung fördere. „[S]pezifisch fokussierte Erkenntnisinteressen innerhalb gemeinsamer oder differenter Beschreibungen des Bezugsproblems“ (S. 139) würden sich modellhaft eher unter einem Dach der Sozialen Arbeit herleiten lassen als in unterschiedlichen Disziplinen. Eine Tabelle, die die Verortung von Vertreter*innen unterschiedlicher Theoriebildung zu spezifischen Problemstellungen visualisiert, findet sich auf S. 140. Abschließend stellt Lambers die Frage, „auf welche erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Basis sich diese Disziplin als anwendungsorientierte Sozialwissenschaft im weiteren Diskurs verständigen kann“ (S. 140).
Aktuelle thematische Diskurse, Prognosen und Perspektiven
Michael Winkler beschreibt im Beitrag „Hard Core – Heart Core – Die Sache mit den Seitensprüngen“ mehrere Bereiche, in denen die Sozialpädagogik – und auch Soziale Arbeit – Seitensprünge vollziehen sollte. Er unterstellt der sozialpädagogischen Praxis eine „Leidenschaft“ (S. 234) im gemeinsamen Handeln, eine „Herzensangelegenheit“ (ebd.), durch die neue Erfahrungen erlebt werden. Ein Seitensprung stellt sich dem Autor als ein Ausbrechen aus Beziehungen – dem „Gehäuse der Hörigkeit“ (S. 235) – dar. Heutige Soziale Arbeit sei im Anspruch gefangen, „Menschen nicht beeinflussen und gleichsam steuern zu wollen“ (S. 237). Winkler beobachtet ein Beiseiteschieben der „emanzipatorischen Dimensionen aller Pädagogik, Aufklärung und Befreiung zur Selbstständigkeit“ (S. 236) im wachsenden sozialpädagogischen Bildungssegment und sieht die Soziale Arbeit in ihrer politischen Ausrichtung im Zwang, Erfüllungsgehilfe bestehender gesellschaftlicher Strukturen zu sein. Ihm zufolge wäre ein sozialpädagogischer Seitensprung vielleicht erforderlich, um „das Herz einer Praxis, die sich gegen die Verfügungen einer neoliberalen Ordnung […] stellt,“ (S. 241) (wieder) schlagen zu lassen.
Bildung wird im Beitrag „Sozialpädagogik und Bildung“ von Günther J. Friesenhahn in vier Bereichen sozialpädagogischen Handelns differenziert bearbeitet. Nach einer Beschreibung, wie Bildung in der heutigen Zeit „positiv aufgeladen […] sozialpädagogische Handlungsfelder diskursmächtig als bildungsrelevante Instanzen“ (S. 79) besetzt, untersucht Friesenhahn Schulen, Jugend- und Sozialarbeit, Kitas und „Bildung als Investment“ (S. 82) unter den „historischen inhaltlichen Wurzeln des neuhumanistischen Bildungsbegriffs (Emanzipation, Chancengleichheit, Freiheit, Wertschätzung jedes Individuums)“ (ebd.). In seiner Einschätzung beschreibt der Autor, dass der deutsche emanzipatorische Bildungsanspruch gegenüber einem funktionalistischem Bildungsbegriff (Stichwort: „Employability“ S. 86) mehr und mehr an Bedeutung verliert. Von Akteuren im Bildungsbereich wird Transparenz gefordert, sodass Menschen wissen, ob einem emanzipatorischen oder einem funktionalistischem Bildungsideal gefolgt wird.
Elmar Anhalts Beitrag „Wo steht die Sozialpädagogik?“ befasst sich insbesondere mit der technisch-digitalisierten Entwicklung und der Ausrichtung der Sozialpädagogik vom historischen „Nahraum“ (S. 17), dem konkreten „Face-to-face-Kontakt“ (ebd.), den wir vor Beginn des Internetzeitalters kannten, zum nunmehr realen „Fernraum“ (ebd.), dem „Face-to-interface-Kontakt“ (ebd.), und schließt mit der Frage „Relativ zu welchem Bezugssystem ordnet sie [die Sozialpädagogik] ihre Theorien und ihre Arbeit – heute? Zukünftig?“ (ebd.).
Auch Anette Kniephoff-Knebel setzt sich mit möglichen Auswirkungen von Digitalisierung, aber auch Pluralisierung und Diversifizierung in ihrem Aufsatz „Sozialpädagogik als Anerkennungsarbeit im Kontext von Diversität und Digitalität“ auseinander. Sie konstatiert eine „zunehmende Ausdifferenzierung und Pluralisierung an Lebensweisen und Identitätsoptionen“ (S. 116), denen eine zukunftsorientierte Sozialpädagogik Rechnung tragen muss. Wesentlich wird hierzu eine Anerkennungsarbeit, die u.a. Verständnis und Akzeptanz beinhaltet, um Menschen mit ihren Individualismen einen realisierbaren Zugang zur freien, unabhängigen Lebensgestaltung zu bieten. Nachfolgend wird unter der Überschrift „Digitalisierte Lebenswelten“ (S. 119 ff.) die Zunahme von Entwicklungsaufgaben durch Digitalisierung ebenso diskutiert wie die Hilfs- und Kontrollmöglichkeiten aber auch die Gefahren, die durch Apps entstehen. Darüber hinaus wird auf die Kompetenzentwicklung und -erweiterung in einer digitalisierten Welt hingewiesen.
Ulrich Bartosch verweist in „Nachhaltigkeit ohne Soziale Arbeit?“ auf die Notwendigkeit, „dass Soziale Arbeit sowohl thematisch wie forschungsmethodisch im Transformationsdiskurs“ (S. 23) auf Grund ihrer einzigartigen Perspektive auf gesellschaftliche Prozesse Einbindung finden muss. Die traditionell reaktive Ausrichtung Sozialer Arbeit solle sich in ein „langfristiges, ressourcenorientiertes, befähigendes Bildungsgeschehen“ (ebd.) entwickeln. Bartosch verweist auf die Pflicht der Hochschulen, ihren Bildungsauftrag aufklärerisch wahrzunehmen, um StudentInnen zu kompetent handelnden „Expertinnen und Experten für ungewisse Situationen und Anforderungen zu machen“ (S. 29) und benennt Beispiele aus der Hochschulpraxis, wie Student*innen dazu befähigt werden könnten.
Die Perspektive der Nachhaltigkeit dient Henning Pätzold und Kerstin Bestvater im Beitrag „Nachhaltigkeit, Sozialpädagogik und die Sustainable Development Goals [SDG, T.H.] – eine Beziehung mit Zukunft?“ zur Annäherung an die Frage, ob Sozialpädagogik in globalen Aufgaben eine „Basis für eine vielversprechende und langfristige Beziehung“ (S. 192) vorfinden könne. Hierzu wird die These aufgestellt, „dass die SDG eine erhebliche sozialpädagogische Dimension haben, und zwar insbesondere im Kontext nationaler und europäischer Sozialpolitik“ (ebd.). Nach einer Zusammenfassung des historischen und aktuellen Verständnisses von Nachhaltigkeit werden Themen wie Menschenrechte, Bildung und Armut als sozialpädagogische Aufgabenstellung formuliert, die „zu einem Bewusstsein als Weltbürger“ (S. 196) beitragen.
Eric Mührel greift ebenso das Thema Nachhaltigkeit auf und die 17 Ziele der Vereinten Nationen, die von Pätzold und Bestvater zuvor unter dem Terminus „Social Development Goals“ beschrieben wurden. Erthematisiert in seinem Beitrag „Sozialpädagogik – eine Reformulierung. Transgenerative Ethik, das Parlament der Dinge und Transformative Bildung als Grundlage für eine humane und nachhaltige Entwicklung“ „die großen Transformationsprozesse wie beispielsweise Globalisierung, Klimawandel, Flucht [u.a.]“ (S. 166) als bedeutende soziale Veränderungen und hält es nicht für abwegig, diese mit der Sozialen Frage unserer Epoche zu verknüpfen. Er sieht insbesondere „die Sicherung sozialer Teilhabe und gesellschaftlicher Partizipation [und] die Erziehung und Bildung der Menschen zur Reflexion der Transformationsprozesse und ihrer innovativen Mitgestaltung“ als Aufgaben der Sozialpädagogik. In diesem Sinne bezeichnet er mit dem Begriff Sozialpädagogik „grundlegend die pädagogische Antwort auf die Soziale Frage einer jeweiligen Epoche“ (S. 165).
Bernd Birgmeier stellt in seinem Beitrag „Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie … Ihr Gewissen“ einen Fokus auf Soziale Arbeit in Frage, der exklusiv auf die Wirkung sozialarbeiterischer Programme zielt. Durch eine Zusammenstellung von Thesen einschlägiger Fachliteratur werden Limitierungen bezüglich der Vorhersehbarkeit, der Abkehr vom Einbezug der Adressat*innen und vor allem aber Gefahren von „unerwünschten Effekten und Nebenfolgen“ (S. 35) beim Hilfeleistenden thematisiert. Birgmeier regt dazu an, Gewissensforschung in der Sozialpädagogik als Regulator eines handlungsorientierten Selbsts und als Ausdruck von Menschlichkeit auf Seiten des Helfers zu etablieren. „Denn: Die Haltung des professionellen Helfers bestimmt das Verhalten – das Verhalten bestimmt die Handlung“ (S. 39).
Ausgehend von einem Verständnis von Sozialpädagogik, welches historisch den „radikalen Ernstfall der Pädagogik“ (S. 186), d.h. die Lösung und/oder Verhinderung sozialer Probleme und Konflikte fokussiert und somit einen soziopathogenetischen Blick darstellt, schlägt Juliane Noack Napoles in ihrem Beitrag „Sozialpädagogik eudaimogenetisch denken“ eine am gelingenden Leben orientierte Sichtweise vor. In Analogie zu dem von Antonovsky für die Medizin vorgeschlagenen salutogenetischen Perspektivwechsel in der Medizin plädiert Noack Napoles für einen Paradigmenwechsel in der Sozialpädagogik: eine Abkehr von der Problemzentrierung hin zur Gestaltung eines – eudaimogenetischen – gelingenden Lebens.
Die Frage, was zur Gestaltung eines „flourishing life[s]“ S. 258 beiträgt, ist auch Teil des Aufsatzes „Soziale Arbeit und Citizenship“ von Holger Ziegler. Es sei festzuhalten, dass die Soziale Arbeit wachse, aber ihre fundamentale Aufgabe, einer „Entfremdung“ (S. 258) von Individuum und Gesellschaft entgegenzuwirken und zu „Möglichkeiten der Realisierung eines guten Lebens“ (ebd.) beizutragen, sei in Frage gestellt. Zudem laufe die Sozialpädagogik Gefahr, gegenüber „Technologien personenbezogener Dienstleistungen“ (S. 257) ihre Perspektive zu verlieren und lediglich „auf einen Interventionsmodus eines gewandelten Wohlfahrtstaats reduziert“ (ebd.) zu werden. Im Weiteren führt Ziegler auf, dass empirisch gesehen „wohlfahrtsstaatliche Absicherungen […] Autonomiegewinne“ (S. 264) eher begründeten als pädagogische Interventionsprogramme, die auf „individuelle Eigenverantwortung pochen“ (ebd.). Der Sozialpädagogik kommt somit die Aufgabe zu, ihre „Hausaufgaben“ (S. 268) zu machen, um einer Entsorgung eines „pädagogischen Wohlfahrtsstaat[s]“ (ebd.) entgegenzuwirken.
Diskussion
Seitensprünge können erregen, die Phantasien beflügeln, Neues anstoüen, einen Ausbruch darstellen. Sie können aber auch enttäuschen, verängstigen, verletzen oder Bestehendes zerstören. Es hängt von den jeweiligen Einstellungen, Glaubensrichtungen und Wertesystemen ab, wie ein Seitensprung be- oder verurteilt wird und welche Emotionen im Bewertungsprozess ausgelöst werden. Gleiches gilt für die Entwicklung der Sozialpädagogik. Das Buch „Sozialpädagogische SeitenSprünge – Einsichten von außen, Aussichten von innen: Befunde und Visionen zur Sozialpädagogik“ bietet Einblicke in Vieles, was nach Ansicht der Autor*innen anders sein könnte oder müsste. Hier werden diverse inhaltliche Themenbereiche genannt, die die Sozialpädagogik mehr und/oder detaillierter aufgreifen sollte (z.B. Digitalisierung und Nachhaltigkeit). [1] Untersuchungen über grundlegende Einstellungen wie z.B. Vertrauen, Anerkennung oder das persönliche Gewissen werden vertieft. Auch werden in der aktuellen Diskussion Perspektivwechsel unterschiedlichster Art angeregt: von einem Theorie-Dilemma zu einer Theorievielfalt und von der Problemfallzentrierung zu einer eudaimogenetischen Ausrichtung.
Deutlich wird auch: Bereits in der Vergangenheit scheint es Seitensprünge gegeben zu haben, die die heutige Sozialpädagogik beeinflusst und in der Bewertung und Beschreibung großes Bedauern bei vielen Autor*innen ausgelöst haben. Der emanzipatorisch-aufklärerische Aspekt der Sozialpädagogik, die Unterstützung von Hilfesuchenden zur Erlangung von Freiheit und Autonomie, scheint an Einfluss zu verlieren und einem pragmatischen Bildungsbegriff zu weichen, der den gesellschaftlichen (fiskalischen) Nutzen von Menschen in den Vordergrund rückt. Dies wird gerade auch im relativ neuen sozialpädagogischen Arbeitsfeld des Job Coachings und der beruflichen Beratung in den im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts etablierten Jobcentern deutlich. Ich war 2002 als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Siegen im Projekt „Sozialagenturen – Hilfen aus einer Hand“ tätig. Dies war ein Modellprojekt des Landes NRW, in dem ein Casemanagement für Hilfesuchende etabliert werden sollte, das Zugang zu allen benötigten Leistungen über eine*n Ansprechpartner*in hätte ermöglichen können. Nach einem politischen Wechsel wurde dieses Projekt zur Entwicklung der heute allgemein etablierten Jobcentern benutzt und verdeutlicht diesen Ausrichtungswechsel eindrucksvoll.
Unter Berücksichtigung aller gemachten Erfahrungen scheint es lohnenswert, sich wieder auf seine „alte Liebe“ zu besinnen und einige absterbende Wurzeln sozialpädagogischer Ausrichtungen mit frischem Wasser zu gießen.
Abschließend ein Seitensprung meinerseits: Ich habe 17 Jahre im Westen Kanadas gelebt und meine zwei Kinder sind dort zur Schule gegangen. Dabei ist mir persönlich deutlich geworden: Das emanzipatorisch-aufklärerische Denken ist Teil unserer deutschen Kultur und Geschichte und als solche gegenüber einem pragmatisch-nützlichen Ansatz anders wertvoll. Es wäre zu bedauern, wenn dieser Anspruch der Sozialpädagogik oder sogar generell im „Land der Dichter und Denker“ verloren ginge. Hierzu notwendig sind umfassende Bildung und Allgemeinbildung.
Fazit
„Sozialpädagogische SeitenSprünge“ gibt einen differenzierten und anspruchsvollen Einblick – ein „buntes Angebot“ (S. 11) – in das Hier und Jetzt sozialpädagogischer Evolution. Es ist ein aufschlussreiches Werk mit vielen Erkenntnissen, die zum Nachdenken und Hinterfragen derzeitiger Theorie und Praxis anregen – sehr empfehlenswert für Studierende, Praktiker, aber auch für Lehrende sozialer Berufe.
[1] Weitere Themen, die in dieser Rezension keine Berücksichtigung fanden, waren u.a. Rassismus und Sexualität.
Rezension von
Thorsten Heimann
Dipl.-Pädagoge, Dipl. Sozialpädagoge
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