Julian Nida-Rümelin: Die gefährdete Rationalität der Demokratie
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 26.03.2020

Julian Nida-Rümelin: Die gefährdete Rationalität der Demokratie. Ein politischer Traktat. Edition Körber (Hamburg) 2020. 320 Seiten. ISBN 978-3-89684-278-7. D: 22,00 EUR, A: 22,60 EUR, CH: 31,90 sFr.
„Ziel ist Klarheit im Kopf, damit die Praxis Orientierung findet“
Erinnern wir uns daran: Der antrôpos ist aufgrund seiner Vernunftbegabung, seiner Fähigkeit, in allen Lebenslagen zwischen Gut und Böse unterscheiden und Allgemeinurteile bilden zu können, ein menschliches Lebewesen, das danach strebt, ein gutes, gelingendes Leben für sich und alle Menschen auf der Welt zu führen. Dieses anthropologische, aristotelische Bewusstsein fällt nicht vom Himmel und wird auch nicht per Ordre du Mufti erlassen. Es muss vielmehr individuell und kollektiv intellektuell erworben werden – durch Aufklärung und Bildung! Die grundlegende und notwendige Frage: „Wer bin ich?“, unterlegt Immanuel Kant mit der Aufforderung – „Sapere aude!“, habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen, mit den Nachfragen: „Was kann ich wissen?“ – „Was soll ich tun?“ – „Was darf ich hoffen?“. Weil nämlich der Mensch ein „zôon politikon“, ein politisches Lebewesen ist, ist er aufgefordert und verantwortlich dafür, sein Denken und Tun nicht nur am eigenen Wohlergehen auszurichten, sondern den Anspruch zu haben, dass die gesamte Menschheit gut ist und ein menschenwürdiges Leben führen kann. Soweit die Replik auf die antike Philosophie (vgl. z.B. dazu auch: Otfried Höffe, Hrsg., Aristoteles-Lexikon, 2005, S. 640), die auch heute noch, etwa mit dem „Sokratischen Gespräch“, Denkens- und Handelnswertes zu vermitteln vermag.
Der Hamburger Philosoph Herbert Schnädelbach hat 2012 einen philosophischen Ratgeber mit dem Titel veröffentlicht: „Was Philosophen wissen und was man von ihnen lernen kann“. Darin bezeichnet er „ Philosophie als Kultur der Nachdenklichkeit“ und als „Lebenslehre“ (www.socialnet.de/rezensionen/​13290.php). Ein solcher Lehrer ist auch der an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität lehrende politische Philosoph Julian Nida-Rümelin, dessen zahlreiche Reflexionen, Ein-, Zwischensprüche, Streitschriften und Analysen im Internet-Rezensionsdienst www.socialnet.de vorgestellt werden. Ihn, wie viele Beobachter zur Lage der Welt, treibt die Sorge um, dass in den Zeiten des Momentanismus, der Kakophonie, des Ego, Ethnozentrismus und Populismus, das Gesellschafts- und Lebenssystem der Demokratie durch die Feinde der Demokratie Schaden nimmt. Im freiheitlichen, demokratischen Diskurs gibt es eine Reihe von Bestandsaufnahmen und Prognosen, in denen die Staats- und Gesellschaftsreform als Baustelle (Embacher, 2012) dargestellt, als Resilienz (Edler, 2017) thematisiert, als Fassade (Mies, 2017) bezeichnet, als Verfallserscheinung (Mounk, 2018) befürchtet, als Gegen-Demokratie (Rosanvallon, 2017) erwünscht und als Demokratiepädagogik (Berkessel/Beutel, 2015) ins Feld geführt wird.
Julian Nida-Rümelin nimmt mit seinem Traktat den unterschiedlichen Diskurs auf, indem er auf der Grundlage eines humanistischen Ethos eher eine philosophische, anspruchsvolle Erzählung über das positive Bild der Demokratie, denn eine fachliche Analyse bringt. Die Argumentationen und Begründungen für ein demokratisches Bewusstsein unterfüttert er mit ausführlichen Anmerkungen, die das Lesen des Buches zu einem intellektuellen Studium machen.
Aufbau
Neben dem Vorwort und dem einführenden Text titelt der Autor seine Überlegungen in 24 Überschriften, die gleichzeitig die jeweilige Thematik signalisieren:
- Liberale Weltordnung und Demokratie: die interne Dimension.
- Liberale Weltordnung und Demokratie: die externe Dimension.
- Sieg und Verfall der Liberalen Weltordnung.
- Die sozioökonomische Erosion sozialer Marktwirtschaft.
- Eine kosmopolitische Alternative.
- Was Demokratie (nicht) ist.
- Demokratie und kollektive Rationalität.
- Das Arrow-Theorem.
- Lehren aus dem Arrow-Theorem.
- Kollektive Autonomie.
- Individuelle Autonomie.
- Das Sen-Paradoxon.
- Konsens in der Demokratie.
- Dissens in der Demokratie.
- Das Gibbard-Theorem.
- Fünf Formen der Demokratiekritik.
- Freiheit und Gleichheit.
- Kritik des Egalitarismus.
- Gerechtigkeit in der Demokratie.
- Deliberation in der Demokratie.
- Demokratischer Realismus.
- Kooperation in der Demokratie.
- Demokratie als Lebensform.
- Sechs Paradigmen der Demokratie.
Inhalt
Die aufgeführten Schlagwörter beziehen sich auf die Wirklichkeiten in der globalisierten Welt. Sie beschwören weder Weltuntergangsstimmungen herbei, noch greifen sie utopische und unrealistische Vorstellungen auf. Vielmehr zeichnen sie sich durch realistische, vorfindbare und erklärbare Analysen aus. Sie benötigen keine Fake News und auch keine verführerischen Vorhersagen, weil sich der Autor der Methode der „kollektiven Rationalität“ bedient: „Es geht nicht darum, wie de facto kollektive Entscheidungen zustande kommen, sondern um die Frage, in welcher Weise kollektive Entscheidungen mit individuellen Präferenzen zusammenhängen, welche Regeln dabei zu beachten sind und ob unterschiedliche Regeln miteinander verträglich sind“. Es sind die individuellen und kollektiven Autonomiegedanken, die sich in Grundsätzen der Menschenwürde und des Gemeinwohls im demokratischen Denken und Handeln artikulieren (vgl. z.B. dazu auch: Martina Franzen, u.a., Hrsg., Autonomie revisted. Beiträge zu einem umstrittenen Grundbegriff in Wissenschaft, Kunst und Politik, 2014, www.socialnet.de/rezensionen/​17917.php).
Politik ist die Kunst, das verschiedene Denken und Handeln der Menschen so human, menschenwürdig und demokratisch zusammen zu bringen, dass sie sich im Kategorischen Imperativ als Kompromiss wiederfinden können. Meinungsverschiedenheiten dürfen dabei nicht gewaltsam, sondern müssen kommunikativ ausgetragen werden. Im politischen Diskurs stehen dabei verschiedene, hilfreiche und nützliche Theoreme zur Verfügung, wie auch Paradoxien intellektuelle Aufmerksamkeit erfordern. Das Plädoyer für einen „demokratischen Realismus“ besagt eben nicht, in Einstellungen zu verfallen: „Die Regierung… wird’s schon richten!“, oder allein die „eigene (egoistische) Wirklichkeit“ als Maßstab zu nehmen, sondern den Zusammenschluss „der Freien und Gleichen zu einer politischen Gemeinschaft“ mitzugestalten.
Nida-Rümelin beschließt sein Essay mit sechs Paradigmen, die unverzichtbar und machbar für demokratisches Denken und Handeln sind.
- Da ist zum einen das „Erkenntnisparadigma“, das sich an der platonischen Erkenntnis orientiert, Ordnungen und Lebensverhältnisse zu schaffen, „dass in der Demokratie sachgerecht entschieden wird“.
- Zum zweiten ist es das „Kooperationsparadigma“, das mit Rückgriff auf das aristotelische Denken den Bürger als „Citoyen“ wahrnimmt.
- Drittens fordert das „Repräsentationsparadigma“ die gerechte Aufteilung in der politischen Teilhabe.
- Viertens stellt das „Partizipationsparadigma“ das demokratische Mitbestimmungs- und Mitwirkungsrecht dar.
- Mit dem „Deliberationsparadigma“ wird fünftens die Auseinandersetzung um das Gute, Wahre und Humane in der Conditio Humana postuliert.
- Und sechstens wird das „Paradigma kollektiver Autonomie“ als demokratischer Konsens höherer Ordnung etabliert.
Fazit
Die Erzählung Nida-Rümelins über ein positives Bewusstsein von Demokratie entpuppt sich schließlich doch als eine kluge, aufmunternde und gedanklich weiterführende Analyse zur Bestätigung und Verteidigung der demokratischen Regierungs- und Lebensform. Dem vielfachen Lamento vom Untergang der Demokratie setzt der Autor hoffnungsvolle, realistische Argumentationen entgegen – freilich nicht die Aufforderung versäumend, dass Demokratie leben immer auch bedeutet, sich dafür individuell und gemeinschaftlich politisch aktiv einzusetzen.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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