Albert Scherr, Helen Breit: Diskriminierung, Anerkennung und der Sinn für die eigene soziale Position
Rezensiert von Marvin Bucka, 02.03.2020
Albert Scherr, Helen Breit: Diskriminierung, Anerkennung und der Sinn für die eigene soziale Position. Wie Diskriminierungserfahrungen Bildungsprozesse und Lebenschancen beeinflussen. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2020. 259 Seiten. ISBN 978-3-7799-6131-4. D: 24,95 EUR, A: 25,60 EUR, CH: 34,60 sFr.
Thema
Mittels einer qualitativen Interviewanalyse wird untersucht, wie sich Diskriminierungserfahrungen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen auf die schulische Laufbahn und die Übergänge in den Beruf sowie auf die allgemeinen Lebenschancen auswirken. Dabei geht es weder um die strukturelle Ebene politischer oder gesellschaftlicher Diskriminierungen per se, noch um die Ebene von Persönlichkeitsmerkmalen wie Resilienz. Stattdessen wird die intermediäre Ebene von Diskriminierungserfahrungen und die sozialen Bedingungen von Deutungen und Bewältigungsformen derselben untersucht. Dahinter steht die sozialwissenschaftliche Annahme, dass sich strukturelle und politische Diskriminierungen vermittelt durch die Deutungen und Praktiken von Betroffenen auf deren Leben und Lebenschancen auswirken. Insgesamt wird dafür argumentiert, dass die Deutung und Bewältigung von Diskriminierungserfahrungen in einigen Lebensbereichen mit Anerkennungserfahrungen in anderen Lebensbereichen sowie dem allgemeinen Sinn für die eigene Position in der Gesellschaft interagiert. Dies zeige, wie sozial voraussetzungsvoll ein offensiver und aktiver Umgang mit Diskriminierungserfahrungen sei.
Autor und Autorin
Albert Scherr ist Professor am Institut für Soziologie der Pädagogischen Hochschule Freiburg und forscht zu den Themen Rassismus, Diskriminierung, Migration und Flucht mit besonderem Augenmerk auf Theorien der Sozialen Arbeit.
Helen Breit war Mitarbeiterin an der Pädagogischen Hochschule Freiburg und in dem Projekt „Deutung und Bewältigung von Diskriminierungserfahrungen beim Übergang der schulischen in die berufliche Bildung“. Von den Autor/inn/en erschien zudem der Handbuchartikel „Erfolgreiche Bewältigung von Diskriminierung“ (2018) und ein Beitrag zu „Risikobiografien und negative Industrialisierung. Die Bedeutung von institutioneller Diskriminierung und Diskriminierungserfahrungen für Bildungsprozesse bei jungen Flüchtlingen“ soll demnächst (2020) veröffentlicht werden.
Entstehungshintergrund
Im vorliegenden Band werden Ergebnisse eines Interviewprojekts vorgelegt, in dem an der Pädagogischen Hochschule Freiburg zwischen Juli 2017 und Juni 2019 die „Deutung und Bewältigung von Diskriminierungserfahrungen“ bei 24 Jugendlichen und jungen Erwachsenen analysiert wurden. Dieses Forschungsprojekt entstand im Rahmen des Netzwerks Bildungsforschung, das 2011 von der Baden-Württemberg Stiftung gegründet wurde und sich auf die interdisziplinäre Erforschung von Übergängen in die berufliche Bildung konzentriert.
Aufbau
Das Werk ist in fünf Kapitel unterteilt.
- In Kapitel 1, „Relevanz und Fallstricke der Forschung über Diskriminierungserfahrungen“, werden Gründe und Schwierigkeiten der Forschung zu Diskriminierungserfahrungen beleuchtet.
- Anschließend werden in Kapitel 2 die „Theoretische[n] Grundlagen der Analyse von Diskriminierungserfahrungen“ dargelegt, wie der Unterschied von faktischer Diskriminierung und Diskriminierungserfahrungen oder der Zusammenhang von Diskriminierungs- und Anerkennungserfahrungen.
- In Kapitel 3 werden die „Fallanalysen zu Diskriminierungserfahrungen“ präsentiert, zunächst sechs Interviews zur „Deutung und Bewältigung rassistischer Diskriminierungserfahrungen“, dann drei Interviews zu „Deutungen und Bewältigungsformen von Diskriminierungserfahrungen bei kopftuchtragenden Muslima“.
- Kapitel 4 behandelt drei weitere Interviews über die „Legale Diskriminierung, alltägliche[n] Diskriminierungserfahrungen und Bildungsverläufe bei jungen Geflüchteten“.
- Im Kapitel 5, „Ausblick und Folgerungen“ werden Maßnahmen aus den Interviewergebnissen abgeleitet, die im Sinne des Empowerments dazu beitragen sollen, dass Betroffene sich aktiv gegen Diskriminierungserfahrungen zur Wehr setzen können.
Im Anhang finden sich die Grundzüge der Forschungsmethodologie sowie ein nützliches Glossar, das die wichtigsten Fachbegriffe aus dem Flüchtlings- und Sozialrecht erläutert.
Inhalt
In Kapitel 1 führen die Autor/inn/en drei wesentliche Gründe aus, die die Relevanz ihrer Forschung aufzeigen: Erstens wird erarbeitet, wie von Diskriminierung Betroffene sich proaktiv mit diesen Erfahrungen auseinanderzusetzen vermögen. Denn zweitens könnten strukturelle Diskriminierungen nur insofern adäquat verstanden werden, als nachvollzogen wird, wie Betroffene sie interpretieren und bewältigen. Die vorliegende Analyse ermögliche somit drittens ein Verständnis der sozialen Bedingungen, die beeinflussen, wie jeweils mit Diskriminierungen umgegangen wird. Daraus leiten die Autor/inn/en das Interesse ihrer Forschungen ab, das darin besteht, „zu rekonstruieren, was die biografischen Voraussetzungen und die sozialen Bedingungen der individuellen Deutung und Bewältigung von Diskriminierung sind.“ (S. 20) Gleichermaßen diskutieren sie mögliche Problemlagen, die sich aus der Forschung an Diskriminierungserfahrungen ergeben. So könnte eine oberflächliche Interpretation der Studie nahelegen, dass Diskriminierung mit psychologischen Faktoren wie der Resilienz begegnet werden könnte. Tatsächlich betonen die Autor/inn/en jedoch einerseits die Notwendigkeit auf struktureller und institutioneller Ebene gegen Diskriminierungen vorzugehen. Andererseits zeigen sie auf, dass diesen „individuellen“ Reaktionen wiederum soziale Faktoren zugrunde liegen.
In Kapitel 2 legen die Autor/inn/en die theoretischen Grundlagen der Forschung dar, die sich in drei Themenkomplexe unterteilen lassen. Erstens führen sie aus, dass unterschiedliche Herkunftszuschreibungen zu unterschiedlichen Diskriminierungserfahrungen führen und diese intersektional mit etwa geschlechtsspezifischen Diskriminierungen verschränkt sind. Diskriminierung wird zudem als dreiseitige Problematik verstanden: sie führe zu objektiven Benachteiligungen (etwa bei der Arbeitssuche), zu Beschädigungen des Selbstwertgefühls sowie zu einer eingeschränkten Identitätsbildung. Hier unterscheiden die Autor/inn/en auch zwischen faktischer Diskriminierung und Diskriminierungserfahrungen. Zweitens wird durch die Einteilung in defensive (z.B. passives Aushalten), pragmatische (z.B. Anpassungsversuche) und offensive Bewältigungsformen (direkte Thematisierung) eine Heuristik von Deutungs- und Handlungsmustern bei Diskriminierungserfahrungen erstellt. Dabei seien für den jeweiligen Deutungsrahmen derselben Faktoren wie eigene Wertmaßstäbe, politische Überzeugungen oder Gesellschaftsbilder entscheidend. Dies zeige, dass es sich bei Deutungs- und Bewältigungsmustern von Diskriminierungserfahrungen um sozial voraussetzungsvolle Herangehensweisen handelt. Drittens seien Diskriminierungserfahrungen der Betroffenen in einer widersprüchlichen Gemengelage mit konkurrierenden Anerkennungserfahrungen verschränkt und würden gerade vor dem Hintergrund solcher Zugehörigkeitserfahrungen als unzulässig gedeutet. Daraus wird abgeleitet, dass Diskriminierungserfahrungen in ihrer Bedeutung und Auswirkung dann angemessen verstanden werden können, wenn sie in ihren Bezügen auf gleichzeitige Anerkennungserfahrungen, z.B. in anderen Kontexten wie Peer Groups oder Freizeitgruppen, betrachtet werden. Zudem wirke sich der „Sinn für die eigene soziale Position“ entscheidend auf den Umgang mit Diskriminierungserfahrungen aus, denn er verleihe ein Gefühl dafür, was für die jeweils Diskriminierten zulässig ist und welche Handlungsoptionen ihnen demgegenüber zustehen.
In Kapitel 3 werden die Fallanalysen dargestellt. Die Autor/​innen haben im aktuellen Werk 12 der 24 durchgeführten Interviews analysiert und dabei drei Sampling-Gruppen erstellt: erstens Menschen mit dunklerer Hautfarbe, bei denen angenommen wurde, dass ihnen gemeinhin eine Herkunft aus afrikanischen oder arabischen Ländern zugeschrieben wird, zweitens kopftuchtragende Muslima und drittens geflüchtete Menschen. Diese Unterteilung legitimieren die Autor/inn/en durch die verschiedenen sozialen Situationen und gesellschaftlichen Bilder, die bezüglich der Zuschreibungen vorherrschen: „In Bezug auf Menschen mit einer dunklen bzw. schwarzen Hautfarbe kann davon ausgegangen werden, dass ein offener biologistischer Rassismus gesellschaftlich mehrheitlich abgelehnt wird […]; dagegen sind Vorurteile gegenüber kopftuchtragenden Muslima auch in sozialen Milieus verbreitet und akzeptiert, die für sich eine nicht-rassistische Haltung in Anspruch nehmen […].“ (S. 67) Bei Geflüchteten nehmen die Autor/inn/en an, dass die alltäglichen Diskriminierungserfahrungen mit institutionell verankerten Diskriminierungen verschränkt sind, was deren Interpretationen und Bewältigungsmuster zusätzlich prägt.
Die Autor/inn/en beginnen mit der Darstellung der Analysen zur „Deutung und Bewältigung rassistischer Diskriminierungserfahrungen“, zu denen sie insgesamt sechs Interviews präsentieren. Alle Befragten berichten von Diskriminierungserfahrungen in verschiedenen Bereichen, aber auch von Anerkennungs- und Zugehörigkeitserfahrungen in Schule und Betrieb oder im Freizeitbereich. Insgesamt können die Autor/inn/en aufzeigen, dass objektive Unterschiede zwischen den Befragten, etwa in der legalen Zugehörigkeit zur Mehrheitsgesellschaft, entscheidende Auswirkungen haben auf die Deutung und Bewältigung von Diskriminierungserfahrungen. Während ein Befragter etwa nur über eine befristete Aufenthaltsberechtigung verfügt und vor diesem unsicheren Hintergrund die erlebten Diskriminierungserfahrungen als generellen Ausdruck von Ablehnung durch die Mehrheitsgesellschaft interpretiert, verstehen andere Befragte, die über die deutsche Staatsangehörigkeit verfügen und sich als uneingeschränkte Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft ansehen, ihre Diskriminierungserfahrungen eher als singuläre und unzulässige Ereignisse. Daraus leiten die Autor/inn/en ab, dass „[d]ie Bedeutung, die Betroffene ihren Diskriminierungserfahrungen zuschreiben und die aus ihrer Sicht angemessenen und aussichtsreichen Bewältigungsformen generell darauf [verweisen], von welchen Annahmen über die eigene gesellschaftliche Position sowie zur gesellschaftlichen Verbreitung und Akzeptanz rassistischer Diskriminierung sie ausgehen und aufgrund ihrer schul- und berufsbiografischen sowie aufenthaltsrechtlichen Situation ausgehen können.“ (S. 132 f.) Demnach zeigten die Analysen, dass biografische Vorerfahrungen, etwaige Vergleichshorizonte aus Herkunfts- oder Transitländern, Status(un)sicherheit und Anerkennungserfahrungen sowie Einschätzungen über die gesellschaftliche Akzeptanz und Verbreitung von Diskriminierung und Chancen für die Deutung und Bewältigung von Diskriminierungserfahrungen von entscheidender Bedeutung sind.
Im zweiten Teil dieses Kapitels gehen die Autor/inn/en auf die „Deutungen und Bewältigungsformen von Diskriminierungserfahrungen bei kopftuchtragenden Muslima“ ein und rekonstruieren die Analysen von drei Interviews. Auch hier legen die Analysen nahe, dass sich die Unterschiede in den Deutungen und Bewältigungsmustern der Diskriminierungserfahrungen insbesondere durch Unterscheide in den Anerkennungs- und Zugehörigkeitserfahrungen sowie dem biografisch verankerten Sinn für die eigene soziale Position erklären lassen. Während eine Befragte, die in einer mehrheitsdeutschen und christlichen Familie aufgewachsen und im Laufe ihres Lebens zum Islam konvertiert ist, sich weiterhin problem- und restlos der Mehrheitsgesellschaft zugehörig fühlt und daher Diskriminierungen wesentlich als Probleme der Diskriminierenden beschreibt, interpretiert eine andere Befragte Diskriminierungserfahrungen, wie die Nicht-Einstellung in eine Kfz-Werkstatt als zu akzeptierende Folge der gegebenen Normen durch die dominierende Mehrheitsgesellschaft. Die dritte Befragte wiederum sei durch positive Anerkennungs- und Erfolgserfahrungen in der Schule und ihrem sozialwissenschaftlichen Studium dazu befähigt worden, sich auch offensiv und öffentlich mit der Diskriminierung kopftuchtragender Muslima auseinanderzusetzen. Dies verdeutliche wiederum, wie sozial voraussetzungsvoll der offensive und proaktive Umgang mit Diskriminierungserfahrungen letztlich sei.
In Kapitel 4 gehen die Autor/inn/en gesondert auf die Analyse der Biografien von Geflüchteten ein. Sie begründen dies mit den besonderen psychosozialen Faktoren, die mit einer Flucht einhergehen, etwa belastende Fluchtursachen und -erfahrungen, meist unsichere Aufenthaltssituationen, sowie erhebliche institutionelle Restriktionen, die die beruflichen Laufbahnen der Geflüchteten prägen. Sie sind aber aufgrund aufenthaltsrechtlicher Angelegenheiten meist in besonderer Weise auf einen beruflichen Erfolg angewiesen, da dieser als gelungene Integration gilt und damit existenzsichernd sein kann. Auch hier ergibt sich aus den Analysen der Zusammenhang zwischen den strukturellen Problemlagen der Geflüchteten und ihrer Deutung und Bewältigung von Diskriminierungserfahrungen. Aufgrund der institutionellen Diskriminierungen und alltäglichen Verunsicherungen sei ihre Lebenswelt von besonderer Prekarität geprägt – vor diesem Hintergrund werde ein passiver und pragmatischer, eher erduldender und vermeidender Umgang mit Diskriminierungserfahrungen begünstigt. Dabei betonen die Autor/inn/en die besondere Rolle, die folgenreiche Zufälle in der Biografie der Befragten gespielt hätten. Während einer der Befragten Unterstützung durch einen Betrieb erhalten hatte, der ihn von einem laufenden Einstiegsqualifizierungsjahr sofort in ein Ausbildungsverhältnis übernommen hatte, als er einen negativen Bescheid über seinen Asylantrag erhalten hatte, verließ sich ein anderer Befragter auf die mündliche Zusage eines Betriebs, der diese jedoch kurzfristig zurückzog und ihn so in materielle und aufenthaltsrechtliche Prekarität brachte. Weiter heben die Autor/inn/en die besondere Relevanz hervor, die professionellen und ehrenamtlichen Unterstützungsangeboten, sozialen Kontakten und den vor Ort bestehenden sozialen Dienstleister/​innen zukommen.
In Kapitel 5 leiten die Autor/inn/en schließlich einige Strategien aus ihren Erkenntnissen ab, die der Überwindung von Diskriminierungen dienen sollen. Dabei werden aufbauend auf den Erkenntnissen Maßnahmen des Empowerments bevorzugt, die die Betroffenen dazu befähigen sollen, sich offensiv gegen Diskriminierungen zur Wehr zu setzen:
- Es sollen weitere Studien durchgeführt werden, in denen Diskriminierungserfahrungen auch im Hintergrund von Zugehörigkeits- und Anerkennungserfahrungen konzeptualisiert werden.
- Es sollen niedrigschwellige Beratungsangebote geschaffen werden, die die potenziell Betroffenen in ihren Kompetenzen stärken und dazu befähigen, sich aktiv und offensiv mit erlebten Diskriminierungserfahrungen auseinanderzusetzen.
- Es sollen öffentlichkeitswirksame Kampagnen, Maßnahmen des direkten Empowerments und der Stärkung einer menschenrechtlichen und demokratischen Bildung für Schulen, Betriebe und die Soziale Arbeit durchgeführt werden.
- Auf rechtlicher Ebene seien Verbesserungen der Bleiberechtsregelungen durchzusetzen, um langwährende Unsicherheiten der individuellen Perspektiven (etwa infolge fortwährender Duldungen) zu verhindern. Auch soll Geflüchteten, die erhöhte Unterstützung beim Spracherwerb und der schulischen und beruflichen Qualifizierung benötigen, diese Unterstützung und die dafür nötige Zeit zugestanden werden, ohne sie aufenthaltsrechtlich weiter zu prekarisieren.
- Abschließend weisen die Autor/inn/en darauf hin, dass gerade diejenigen, „die als Lehrer/​innen, Sozialarbeiter/​innen oder Polizist/​innen wichtige gesellschaftliche Institutionen verkörpern“ eine besondere Verantwortung verkörpern und konsequent „für das Prinzip einer nicht diskriminierenden Wertschätzung und Gleichbehandlung“ einstehen sollen. (S. 232)
Diskussion
Insgesamt wird in dem vorliegenden Werk eine wichtige und theoretisch wie gesellschaftlich sehr fruchtbare Analyse vorgelegt. Der Fokus auf die intermediäre Ebene von Diskriminierungserfahrungen, die weder rein strukturell noch rein individuell verstanden werden, wird dabei zu einem Balanceakt, der den Autor/inn/en allerdings jederzeit gelingt. Indem sie aufzeigen, dass sich faktische Diskriminierungen vermittels der Deutungs- und Bewältigungsmuster der jeweils Betroffenen auf deren Lebenswirklichkeit auswirken und sich die Deutungs- und Bewältigungsmuster gleichzeitig nicht als individualistische Persönlichkeitsmerkmale, sondern nur als sozial voraussetzungsvolle Kompetenzen verstehen lassen, gelingt ihnen ein theoretisch sehr wichtiger Beitrag zur Diskriminierungsforschung. Denn der Fokus auf diese Diskriminierungserfahrungen ermöglicht es, die Diskriminierten tatsächlich weniger als Opfer einer allumfassenden Diskriminierung, denn als zum Teil in wichtige soziale Strukturen eingebettete und in vielen Hinsichten anerkannte Subjekte zu begreifen, die sich auf ihre je eigene, dabei aber sozial verankerte Weise mit alltäglichen Diskriminierungserfahrungen auseinandersetzen. Zudem wird deutlich, dass und wie sich faktische, institutionelle wie legale, Diskriminierungen auf die Lebenswirklichkeit der Betroffenen auswirken und wie diese Diskriminierungen die Deutungs- und Bewältigungsmuster von Diskriminierungserfahrungen auf bestimmte sich je zugestandene Rechte und Möglichkeiten eingrenzen. Darüber hinaus wird die erhebliche Rolle von einerseits Repräsentant/inn/en der gesellschaftlichen Ordnung (Polizist/inn/en, Lehrer/​innen oder auch Sozialarbeiter/​innen) deutlich, andererseits von einzelnen Betrieben oder Ansprechpersonen, die inmitten der diskriminierenden Lebenswelten entscheidend Einfluss nehmen können. Besonders hervorheben lassen sich so die abschließenden Forderungen, die die Autor/inn/en aus ihren Analysen extrahieren, denn dabei finden sich gleichermaßen Anstöße zu wichtigen institutionellen und juristischen Reformen wie auch wichtige Maßnahmen für Sozialarbeiter/​innen und Lehrer/​innen in der alltäglichen Praxis. Die Autor/inn/en betonen auf plausiblem Grund die besondere Rolle, die jede/r Praktiker/in im Bildungs- und Lebensverlauf von Menschen mit Diskriminierungserfahrungen einnehmen kann. Die vorliegende Studie gibt dafür wichtige Einblicke in die alltägliche Lebenswirklichkeit und bietet prägnante Vorschläge für die Praxis. Gleichzeitig werden viele Fragen aufgeworfen, die unbeantwortet bleiben: Etwa wie die Arbeit mit jungen Geflüchteten gestaltet werden muss, deren Bildungsbiografien weitaus prekärer sind und die noch ohne Aussicht auf einen Ausbildungsplatz in Deutschland Fuß fassen müssen – oder auch welchen Einfluss zusätzliche psychosoziale Krisen auf die Deutung und Bewältigung von Diskriminierungserfahrungen haben können. All dies scheinen die Autor/inn/en jedoch im Blick zu haben und auf weitere Anschlussstudien zu verschieben.
Fazit
In der vorliegenden Forschungsarbeit werden 12 Interviews analysiert, die mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen durchgeführt wurden, bei denen ein Hintergrund von Diskriminierungserfahrungen aufgrund von drei Merkmalen angenommen wurde: Menschen mit dunklerer Hautfarbe, kopftuchtragende Muslima sowie Geflüchtete. Der Fokus der Interviews lag auf den Diskriminierungserfahrungen der Befragten sowie deren Deutungs- und Bewältigungsmuster. Damit wird eine intermediäre Ebene erforscht, die sich weder auf die strukturelle Diskriminierung per se noch auf genuin individuelle, psychologische Merkmale der Verarbeitung konzentriert. Stattdessen wird untersucht, ob die Befragten die alltäglichen Diskriminierungserfahrungen in verschiedenen Bereichen (Schule, Beruf, öffentlicher Raum) eher defensiv, pragmatisch oder offensiv deuten und bewältigen und was die sozialen Bedingungen sind, aufgrund derer diese Deutungs- und Bewältigungsmuster aufgegriffen werden. Hier nehmen die Autor/inn/en entscheidend an, dass die Diskriminierungserfahrungen mit gleichermaßen gegebenen Anerkennungs- und Zugehörigkeitserfahrungen sowie mit dem Sinn für die eigene soziale Position verschränkt sind und sich im Hintergrund dieser zum Teil widersprüchlichen Gemengelage spezifische Deutungs- und Bewältigungsmuster ergeben.
Dies zeigen die Autor/inn/en überaus plausibel anhand der analysierten Interviews, in denen deutlich wird, welchen Einfluss Anerkennungserfahrungen in anderen Bereichen und der Sinn für die eigene Zugehörigkeit in der Gesellschaft bzw. die eigene soziale Position darauf haben, wie die Jugendlichen und jungen Erwachsenen den Diskriminierungserfahrungen begegnen. Abschließend werden wichtige Maßnahmen abgeleitet, die sich einerseits auf strukturelle Reformen etwa der aufenthaltsrechtlichen Regelungen beziehen, andererseits aber auch insbesondere das individuelle und strukturelle Empowerment der von Diskriminierung potenziell betroffenen Menschen anvisiert. Insgesamt findet sich hier eine spannende und wichtige Studie mit einer sehr fruchtbaren thematischen Ausrichtung auf die intermediäre Ebene von sozial bedeutungsvollen Diskriminierungserfahrungen, die wichtige Einblicke in die Lebenswelten von potenziell diskriminierten Menschen gibt und entscheidende Faktoren beleuchtet, die deren Deutungs- und Bewältigungsmuster von Diskriminierungserfahrungen prägen.
Es lassen sich für Leser/​innen gleichermaßen theoretische wie praktische Erkenntnisse sowie Anregungen für die weitere Arbeit mit dieser Thematik gewinnen.
Rezension von
Marvin Bucka
B.A. "Soziale Arbeit im Gesundheitswesen" an der HAWK Göttingen, M.A. "Philosophie" an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg, B.Sc. "Psychologie" an der Goethe-Universität Frankfurt
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Zitiervorschlag
Marvin Bucka. Rezension vom 02.03.2020 zu:
Albert Scherr, Helen Breit: Diskriminierung, Anerkennung und der Sinn für die eigene soziale Position. Wie Diskriminierungserfahrungen Bildungsprozesse und Lebenschancen beeinflussen. Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2020.
ISBN 978-3-7799-6131-4.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/26508.php, Datum des Zugriffs 10.10.2024.
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