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Sabine Hübgen: Armutsrisiko alleinerziehend

Rezensiert von Prof. em. Dr. phil. Ronald Lutz, 16.11.2020

Cover Sabine Hübgen: Armutsrisiko alleinerziehend ISBN 978-3-86388-818-3

Sabine Hübgen: Armutsrisiko alleinerziehend. Die Bedeutung von sozialer Komposition und institutionellem Kontext in Deutschland. Budrich Academic Press GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2019. 309 Seiten. ISBN 978-3-86388-818-3. D: 61,00 EUR, A: 62,80 EUR.

Weitere Informationen bei DNB KVK GVK.
Inhaltsverzeichnis bei der DNB.

Autorin

Dr. Sabine Hübgen ist seit 11/2020 Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt „COVID-19 und die soziale und wirtschaftliche Situation von Frauen in Berlin“ am Wissenschaftszentrum Berlin.

Aufbau

Das Buch ist die erweiterte und veränderte Fassung der Dissertation, die von der Autorin 2018 eingereicht und bestätigt wurde. Untersucht werden dabei die Ursachen für das Armutsrisiko alleinerziehender Mütter in Deutschland. Hierzu kommen die Familien- und Erwerbsverläufe als auch der institutionelle Kontext in den Blick der quantitativen Analyse vorliegender Datensätze. Verdeutlicht wird das Zusammenspiel armutsverstärkender Effekte der sozialen Komposition des Alleinerziehens sowie institutioneller Effekte. Dabei wird ein Vergleich mit dem Vereinigte Königreich durchgeführt. Das Buch ist in zehn Kapitel gegliedert.

Inhalt

Das erste Kapitel ist eine grundlegende und für den Fortgang der Arbeit essenzielle Einleitung, die den Zusammenhang zwischen der Familienform Alleinerziehende und einem erhöhten Armutsrisiko in den Blick nimmt und thematisiert. Diskutiert werden die verschiedenen Ströme der aktuellen und mitunter auch widersprüchlichen Diskussion; deutlich wird dabei, was allerdings nicht unbedingt neu ist, dass es Merkmale der Lebenslage von Alleinerziehenden gibt, die zu einem erhöhten Armutsrisiko führen. In dieser Einleitung wird vor allem auch die Doppelbelastung erörtert, die auf Alleinerziehenden lastet, nämlich Beruf und Familie zu vereinbaren.

Insgesamt erarbeitet die Autorin drei Forschungslücken, den sie nachgehen will: ist das erhöhte Armutsrisiko ein Effekt des Alleinerziehens; was kann eine systematische Betrachtung der Wege ins Alleinerziehen einen speziellen Beitrag zur Erklärung leisten; wie kann ein solche theoriegeleitetes Modell aussehen? Diese Fragen sollen mit der Lebensverlaufsperspektive als Rahmen erörtert werden. Dabei wird das Alleinerziehen als eine „vielfältige und dynamische Lebensphase“ verstanden, welche durch verschiedene Ereignisse ausgelöst (Trennung, Kindesgeburt, Tod des Partner) und wieder beendet wird (neue Partnerschaft, Volljährigkeit des jüngsten Kindes). Sie wird als „soziale Komposition“ analytisch aufgedeckt, die immer auch von institutionellen Kontexten beeinflusst und dadurch auch gesteuert sowie verstetigt wird. Dies kann als ein wichtiger und innovativer Beitrag der Studie zur Forschung verstanden werden. Da Alleinerziehen eine überwiegend weibliche Lebensphase ist, wird dieser Ansatz um eine gendersensible Perspektive ergänzt. Dabei zeigt sich, das Alleinerziehende im Lebensverlauf mit vielfältigen Herausforderungen konfrontiert sind, die sie unterschiedlich meistern, auch abhängig von institutionellen Kontexten.

Die vorliegende Arbeit will mit ihrer theoretischen Einbettung vor allem untersuchen, in welchen institutionellen Kontexten dies stattfindet und zu welchen Problemen es führt. Die Untersuchung ruht dabei auf quantitativen Methoden und vorliegenden Datensätzen (so dem SOEP); auch wird eine Ländervergleich mit ähnlich gelagerten britischen Daten durchgeführt.

Im zweiten Kapitel beschäftigt sich die Autorin mit wichtigen und, wie sie es nennt, „zentralen Begriffen“ ihrer Arbeit, die das Fundament legen sollen. Auch erläutert sie, wie in der Einleitung angedeutet, ihre theoretischen Fundamente. Das geschieht umfänglich sowie nachvollziehbar und gibt dem Buch eine klare Grundlage. Hierzu gehört eine Abgrenzung der Familienphase Alleinerziehen sowie eine Definition von Armut, mit der sie sich in die bestehenden Diskurse zur Thematik einreiht und ihren Standpunkt klärt. Notwendigerweise erläutert sie ihre theoretischen Konzept der Lebenslaufperspektive und die Teilsysteme im Lebensverlauf: Familie, Arbeitsmarkt und Wohlfahrtsstaat. Schließlich liefert sie bereits an dieser Stelle ein Modell zur Erklärung des Armutsrisikos, das sich aus einem Zusammenspiel unterschiedlicher Aspekte des Lebensverlaufs ergibt. Sie geht dabei von der Individualebene aus und erweitert diese schließlich um den institutionellen Kontext.

Das dritte Kapitel widmet sich ausführlich den aus Sicht der Autorin zentralen Phasen der gesellschaftlichen Entwicklungen in der Bundesrepublik Deutschland und dem Vereinigten Königreich. Aus dieser Auseinandersetzung werden „institutionelle Perioden für die Untersuchung des Einflusses des institutionellen Kontextes abgeleitet“ (S. 28). Spannend und für die bisherigen Diskussion fruchtbar ist die auf S. 74 und S. 75 vorgelegte Periodisierung der institutionellen Kontexte, die sich in beiden Ländern ähnlich entwickelt haben. Daraus wird im Fortgang der Diskussion das Armutsrisiko abgeleitet. Auch bezieht sie ich immer wieder darauf,

Im Anschluss daran werden im vierten Kapitel, andockend an den theoretischen Rahmen und den vorliegenden und sehr umfänglich referierten Forschungsstand, Thesen für den ersten Teil der Analyse entwickelt. Dabei wird von der Autorin versucht, den Einfluss der heterogenen Selektionsprozesse des Alleinerziehens auf das Armutsrisikos zu beziehen und Raster der Analyse zu entwickeln. In den vorgetragenen theoretischen Überlegungen dieses Kapitels wird biografietheoretisch aufgezeigt, wie „soziale Kompositionen“ auf das Armutsrisiko Alleinerziehender Einfluss nehmen und dieses einleiten bzw. verfestigen. Es wird aber auch deutlich, und das ist eigentlich nur eine Referierung vorhandenen Wissens, wie das Alleinerziehen als besondere Lebensphase gleichfalls zum Armutsrisiko wird.

Notwendige Daten zum Forschungsstand in beiden Ländern liefert das fünften Kapitel, die sich zum einen auf das „Zusammenspiel von sozialer Komposition und institutionellem Kontext“ (S. 94 ff) und dem „institutionellen Kontext beim Übergang ins Alleinerziehen“ (S. 106) widmen. Besonderes Gewicht liegt dabei auf der Bedeutung des institutionellen Kontextes für das Armutsrisiko. Wichtig wird dabei, auch dies gehört zu den innovativen Überlegungen dieser Studie, dass die soziale Komposition und die institutionellen Kontexte sich eben nicht exogen zueinander verhalten, sondern sich wechselseitig beeinflussen.

Die weitere Analyse wird dann im sechsten Kapitel eingeleitet, indem es zunächst deren Basis vorstellt. Es werden die benutzten Datensätze vorgestellt und die Messung der „theoretischen Konstrukte“ erläutert. Vor diesem Hintergrund werden sowohl das Forschungsdesign als auch die Analysestrategie ausführlicher entwickelt und erläutert. Darauf aufbauend werden die benötigten „Analysesamples“ begründet.

In den Kapiteln 7, 8 und 9, den eigentlichen Kernkapiteln, präsentiert die Autorin präzise und nachvollziehbar die von ihr durchgeführten empirischen Analysen. Dies geschieht immer im Vergleich der Daten aus Deutschland und dem Vereinigten Königreich.

Das Kapitel sieben widmet sich der „Sozialen Komposition und der Armut alleinerziehender Mütter“. Hierzu werden Befunde aus Deutschland ausgebreitet, es wird der armutsverstärkende Effekt des Alleinerziehens umfänglich erörtert. Diese Analyse werden schließlich Daten und Überlegungen zum Vereinigten Königreich gegenübergestellt und gemeinsam eröffnet. Dieses Schema des siebten Kapitels findet sich auch im achten Kapitel, das sich mit dem „Zusammenspiel von sozialer Komposition, institutionellem Kontext und dem Armutsrisiko alleinerziehender Mütter“ beschäftigt. Hier werden zunächst „zentrale Entwicklungen“ in Deutschland diskutiert, wie die Armutsquote, die soziale Komposition und der institutionelle Kontext. Ergänzt wird dies durch Überlegungen zur „wohlfahrtsstaatlichen Armutsreduktion“ Die Autorin legt akribisch und nachvollziehbar dar, wie die soziale Komposition und der institutionelle Kontext zusammenwirken und somit die Lage der alleinerziehenden Mütter beeinflussen und gestalten. Auch diese Ergebnisse werden mit der Situation im Vereinigten Königreich vergleichen. Im neunten Kapitel stellt die Autorin den „Einfluss des institutionellen Kontextes auf den armutsverstärkenden Effekt des Alleinerziehens“ in den Fokus. Sie reflektiert zunächst die armutsverstärkenden Effekte des Alleinerziehens und zeigt dabei deren Heterogenität. Auch hier wird erneut der Vergleich mit dem Vereinigten Königreich durchgeführt.

Das Zehnte Kapitel stellt die zentralen Ergebnisse vor allem in drei essenziellen Ergebnissen vor: die familialen Selektionsprozesse ins Alleinerziehens sind bedeutsam für das Armutsrisiko; das Zusammenspiel von sozialer Komposition und institutionellem Kontext muss stärker als bisher in seinen Auswirkungen auf die Lebenslagen berücksichtigt werden; letztlich, und das ist eine der essenziellsten Aussagen dieser Studie aus Sicht des Rezensenten, verstärkt der jeweilige institutionelle Kontext die Armut alleinerziehender Mütter. Die Autorin fokussiert dieses abschließende Kapitel mit Überlegungen zu Grenzen der Forschung und formulieret einige Kernaussagen.

Diskussion

Die Verknüpfung von individuelle Verläufen und institutionellen Kontexten bietet einen umfassenderen Blick auf das Armutsrisiko Alleinerziehender. Mit dem zusätzlichen Vergleich zwischen zwei Ländern entsteht ein etwas klarerer und vieles besser verstehender Blick auf den Kontext, der sowohl der Forschung als auch der sozialpolitischen Praxis veränderte, aber nicht unbedingt neue, Perspektiven bringen kann.

Wesentlich erscheint dem Rezensenten dabei, dass der institutionelle Einfluss auf den Verlauf der Lebenslagen deutlicher und auch empirisch nachvollziehbarer wird. Es wird evidenter, was schon in vielen Diskursen angedeutet wurde, dass durch den institutionellen Zugriff bzw. dessen Maßnahmen Armut entstehen und auch verfestigt werden kann. Das ist nicht überraschend, doch mit dieser Studie liegen umfangreiche empirische sowie vergleichende Daten hierzu vor. Nachvollziehbar wird, und darin liegt der eigentliche Gewinn der Studie, die Abbildung der heterogenen Selektionsprozesse des Alleinerziehens auf das Armutsrisikos und der Produktion sowie Verfestigung von Armut durch institutionelle Prozesse.

Letztlich ist diese Studie ein weitere Baustein in der Forschung zum Armutsrisiko Alleinerziehender, die allerdings, und das ist ihr Verdienst, mit einer Fülle empirischer Daten den institutionellen Kontext betont und dessen Effekte darlegt. Die „soziale Komposition“ des „Alleinerziehens“ wird somit, unter Einbezug der Genderperspektive, analytisch auf den Begriff gebracht. Verdeutlicht wird, dass Armutsrisiken immer auch von institutionellen Kontexten beeinflusst und dadurch auch gesteuert sowie verstetigt werden. Soziale Komposition und institutionelle Arrangements beeinflussen sich zudem wechselseitig. Insofern entfalten eine interessante Dialektik.

Der von der Autorin durchgeführte Vergleich mit dem Vereinigten Königreich ist dabei plausibel, gut begründet und trägt dazu bei, über den nationalen Kontext hinaus zu blicken. Die dabei erzielten Ergebnisse werfen neue und auch veränderte Blicke auf die Forschung und vorliegende Ergebnisse in Deutschland und führen zwangsläufig zu erweiterten und auch neuen Fragen, die von der Autorin in ihre 10. Kapitel formuliert werden. Dieser Vergleich, der methodisch schwierig aber dennoch plausibel bewältigt wurde, muss gleichfalls als ein wichtiger Beitrag verstanden werden, den die Autorin mit dieser Studie vorgelegt hat. Dabei gelingt es ihr auch, die sozialen, historischen und politischen Unterschiede zwischen beiden Staaten zu berücksichtigen und zu reflektieren.

Diese „Vorteile“ bzw. dieser „Gewinn“ kann insgesamt als innovativer Beitrag der Studie zur Forschung verstanden werden Insofern ist dies eine wichtige Studie, die in die bisherigen Forschungsergebnisse eingeordnet werden muss und diese erweitert. Zu erwähnen ist noch, aus das ist durchaus für die Forschung von Bedeutung, dass die Autorin zum Schluss noch Überlegungen zu sozialpolitischen Maßnahmen anstellt.

Fazit

Mit diesem beachtlichen Buch und den darin angestellten empirischen Analysen, die weit über die Anforderungen an eine Dissertation hinausgehen, hat die Autorin einen wichtigen und nicht zu übersehenden Beitrag zur Auseinandersetzung mit dem Armutsrisiko Alleinerziehender vorgelegt. Das Buch überzeugt dabei durch seine argumentative Nachvollziehbarkeit, sein Forschungsdesign, die empirisch Analyse der benutzten Datensätze, den durchgeführten Ländervergleich und die Modellierung ihrer Ergebnisse. Auch wenn nicht unbedingt überraschend Neues dargelegt wird, das muss auch nicht sein, zeigt die Autorin dennoch einen innovativen, und somit auch neuen bzw. erweiterten Kontext, indem sie das Zusammenspiel der sozialen Komposition und den institutionellen Arrangements erörtert und dies auf eine empirisch fundierte Basis gründet. Mit diesem Ansatz können Schnittstellen neu bearbeitet werden, an denen zukünftig zu arbeiten sein wird.

Das Buch ist, wie betont eine wichtige Studie in diesem Forschungsfeld, es wird aber vor allem in einem eher engen akademischen Bereich rezipiert werden, für den es auch offenkundig geschrieben scheint.

Rezension von
Prof. em. Dr. phil. Ronald Lutz
Soziologe und Anthropologe
Fachhochschule Erfurt
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Es gibt 9 Rezensionen von Ronald Lutz.


Zitiervorschlag
Ronald Lutz. Rezension vom 16.11.2020 zu: Sabine Hübgen: Armutsrisiko alleinerziehend. Die Bedeutung von sozialer Komposition und institutionellem Kontext in Deutschland. Budrich Academic Press GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2019. ISBN 978-3-86388-818-3. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/26522.php, Datum des Zugriffs 06.12.2024.


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