Nils Heisterhagen: Verantwortung
Rezensiert von Arnold Schmieder, 17.03.2020

Nils Heisterhagen: Verantwortung. Für einen neuen politischen Gemeinsinn in Zeiten des Wandels. Verlag J.H.W.Dietz (Bonn) 2020. 176 Seiten. ISBN 978-3-8012-0569-0. 18,00 EUR.
Autor
Dr. Nils Heisterhagen ist Philosoph und Publizist. Letzte Werke sind „Existenzieller Republikanismus. Ein Plädoyer für Freiheit“, „Die Liberale Illusion. Warum wir einen linken Realismus brauchen“ und „Das Streben nach Freiheit. Essays gegen die Orientierungslosigkeit“. Er war Grundsatzreferent der SPD-Fraktion in Rheinland-Pfalz sowie Grundsatzreferent und Redenschreiber der letzten beiden IG-Metall-Vorsitzenden.
Thema
Das Buch handelt nach Auskunft des Autors davon, „die Dimensionen der Verantwortung aus Liebe zur Welt auszubuchstabieren“ (S. 37). Seit er begonnen habe, „grundlegender nachzudenken, mithin Philosophie zu betreiben“, so Heisterhagen, habe ihn diese „amor mundi“, dieser Gedanke einer „Liebe zur Welt“ begleitet, wie er ihn bei Hannah Arendt gefunden habe, deren Hauptwerk bereits dieses Wort im Titel tragen sollte. (S. 9) Es bedeute, „aus Verantwortung in Praxis zu gehen“ (S. 37), weil sie sich erst in und durch Praxis verwirklichen lasse, sie sei, was man „als einzelne Person“ tun könne, und zu beschreiben „einerseits als Haltung, aber auch als individuelle(r) Handlungsimpuls“ (S. 9). Facetten individueller Verantwortung reichten „über den Bürger und die politischen Eliten bis hin zur Verantwortung der Intellektuellen“, und zudem geht es dem Autor um ein „Bild eines größeren Ganzen, der Verantwortungsgesellschaft“ (S. 169). Heisterhagen zielt auf und plädiert für eine „Verantwortungslinke“, die eine „Handlungslinke“ sein oder werden müsse, die „die Welt erklären“ und die „Macht suchen“ müsste, „Macht als Diskursmacht“ und „eben auch Macht als Handlungsmacht“, weshalb er eine „SPD will (…), die ins Kanzleramt will“ (S. 202). Sein wesentlicher Kritikpunkt: „Was der politischen Linken gerade abgeht, ist Kärrnerarbeit und Wirklichkeitsbezug“ (S. 195). Seine Kritik ist vornehmlich an die SPD adressiert, deren „zentrale(r) Fehler (…) in der Konturlosigkeit ihres linken Profils“ liege (S. 73). Dabei mahnt Heisterhagen an: „Wer die Deutschen aber für Veränderungen begeistern will, muss sie begründen können. Auf Phrasen und unklare Programme lassen sie sich nicht ein. Sicherheit ist dafür die Vokabel“ (S. 77).
Aufbau und Inhalt
Zusammen mit einer ausführlichen Einleitung ist das Buch in fünf Hauptkapitel mit jeweils mehreren Unterkapiteln sowie einem separaten Nachwort und einem Anmerkungsteil gegliedert.
In der Einleitung. Verantwortung aus Liebe zur Welt setzt sich Heisterhagen kritisch mit „Identitätspolitik“ auseinander und auch mit einer Reform- sowie Diskurslinken, wobei die „Reformlinke (…) materiell orientiert“ sei, „wohingegen sich die Diskurslinke in einer selbstgeschaffenen Illusion eines Eigenlebens und einer Eigenmächtigkeit des Diskurses“ verliere (S. 11), wobei aus seiner Sicht „die politische Linke – wozu ich hier momentan eindeutig nur die SPD und die Linkspartei zählen kann und will – daraus ausbrechen“ müsse, „zentral über Werte und Weltbilder zu sprechen.“ Vor allem spricht der Autor die Sozialdemokratie an und bringt in Vorschlag, sie müsse „vielmehr wieder eine Reformlinke werden, die etwas mit Gesetzen verändern will“ (S. 13) Dabei käme es auf „Vorschläge“ an, „wie man den Kapitalismus eindämmen könnte“, was meint, dass die „Reformlinke immer auch eine Wirtschaftslinke sein“ sollte (S. 14 f.), es mithin „also Zeit für mehr politische Ökonomie“ sei (S. 21). Und um nicht auf ein 'falsches Gleis' zu führen, weist Heisterhagen darauf hin, man könne „links sein, sogar sehr links, ohne gleich ein Sozialist zu sein“ (S. 35).
Im zweiten Kapitel Politische Verantwortung in Zeiten des Umbruchs. Für eine Politik des linken Aufbruchs beschäftigt sich der Autor mit gescheitertem Liberalismus und insbesondere scheiterndem Neoliberalismus, kritisiert Identitätspolitik, einen „identitätspolitischen Kulturkampf“, aus dem man „ausbrechen“ müsse (S. 60), und er will den Etiketten 'links' und 'rechts' wieder eine Bedeutung geben, wobei der Common-Sense nicht verloren werden dürfe, um danach Populismus und populäre Politik gegeneinander abzuwägen. Allen Themen ist jeweils ein Unterkapitel gewidmet. Und da der Autor selbst kein „Opfer der Diskurse“ sein oder werden will und auch nicht „gesteuert“, charakterisiert er sich als eben nicht „klassisch liberal“, sondern „existenzialistisch“, was er damit erläutert, er sei sein „eigener Herr“: „Der Mensch ist nicht darin gefangen, dies oder jenes zu sein und zu tun“; dass er es doch sei, daran „glaube“ er nicht. „Seine Freiheit kann man ihm nicht nehmen – das halte ich für gesichert“ (S. 53 f.). Insofern ist er auch so 'frei', „Linksbürgerlichkeit“ ob ihrer Ferne gegenüber der Ökonomie und ihrer Konzentration auf „Werte“ und ein „neue(s) Weltbild“ zu kritisieren, worin sie „ihre neue Klassenidentität“ gefunden und sich „vom alten Klassenkampf zwischen Arbeit und Kapital“ entfernt habe. Daraus habe sich eine „neue(.) Arroganz“ entwickelt, „die manchmal auch partiell zu moralischer und kultureller Verachtung der Arbeiterklasse oder auch anderer Teile des Bürgertums und der Mittelschicht umschlug“ (S. 64 f.). Zudem unterzieht er den mit dem Bundeskanzler Gerhard Schröder eingeschlagenen „Dritten Weg“ einer Kritik, durch den der SPD die „Lebendigkeit ausgetrieben“ worden sei, und macht hier eine „Form von neoliberalem Technokratismus“ aus, den er in „Analogie“ zu Heidegger (von dem man auch lernen könne: „Denken muss ich selbst“ [S. 86]) als „neoliberales Gestell“ bezeichnet, was einer in Demokratie unverzichtbaren „Dynamik und Veränderung“ entgegenwirke. Zugleich indiziert er das „Korsett des globalen Finanzkapitalismus, ja das neoliberale Gestell“, das „Dynamik, (…) Erneuerung, die grundsätzlich in jede Richtung gehen kann, kaum zu(lässt)“ (S. 70). Politik müsse den „rein pragmatischen und postideologischen Pfad der zunehmend postdemokratisch gewordenen Demokratie“ hinter sich lassen und „Elemente von Vision“ müssten in eine „Form populärer Politik“ münden, was heiße, dass die „politische Linke (…) begreifen (muss), dass sie nur mit einer Form emotionaler, populärer Politik etwas gewinnen kann“ – unter dem Strich: „Linker Realismus und linker Idealismus müssen Hand in Hand gehen“ (S. 92 f.), wobei aber auch gelte, „aus dem Moraldiskurs herauszukommen (…), um den Blick für das Soziale und die Ökonomie frei zu bekommen“ (S. 99).
Welche Moral anzuvisieren sei, wie das Ideal eines Staatsmannes zu konturieren wäre, sind die zentralen Fragen, denen Heisterhagen in seinem dritten Kapitel Individuelle Verantwortung nachgeht, wie er es bereits in seiner Einleitung theoretisch (mit Arendt) abgesteckt hat. Gleich eingangs zitiert er Anna Schneider mit der „Kernfrage“: „Welche Dosis Moral ist im politischen Geschehen vertretbar oder notwendig?“ (zit. S. 105) Für den Philosophen Heisterhagen ist hier eine Bezugnahme auf Kant angezeigt, von dem man lernen könne, „was es bedeutet, diese Urteilskraft zu beweisen“, wobei er (abbreviatorisch) dessen „drei Maximen“ einspeist, nämlich: „die Maxime des Selbstdenkens, die Maxime der erweiterten Denkungsart und die Maxime der Widerspruchsfreiheit.“ Daran anschließend schlussfolgert er, man müsse „sein Urteil konsequent (…) verfolgen – und damit weder in Doppelmoral (…) verfallen noch inkohärent und willkürlich (…) werden.“ Doch gerade die „Geradlinigkeit und jene kantische Kohärenz und Konsequenz“ seien in der „Postmoderne einer neuen Beliebigkeit zum Opfer gefallen“ (S. 109 ff.). Dem so 'aktualisierten' Philosophen der Aufklärung, Kant, hier für je individuelle Moral zu Rate gezogen, begegnet die Leser*in bei Heisterhagens Überlegungen zum 'idealen' Staatsmann zwar nicht im weitreichenden Sinne des kategorischen Imperativs wieder, wo der Autor über ein Zitat des sicher bibelfesten Friedrich dem Großen bekräftigend die sogenannte „goldene Regel“ stattdessen vorhält: „Was du nicht willst, daß man dir tu, das füge keinem andern zu“ (zit. S. 147), was als Regel „im Zusammenhang mit der deontologischen Ethik“ stünde, wobei die „Folgen des Handelns (…) hier noch nicht eingepreist“ wären (ebd.) (und wo man sich bei Kant weiter orientieren könnte). Im Rückbezug auf die Verantwortung des Individuums ist das jedoch gleichermaßen auf das Eingeständnis zu dimensionieren, „dass man gerade nicht wild tun und lassen kann, was man will, und sich das auch nicht ex post mit einem guten anything goes rechtfertigen sollte“ und sich zugleich inne sein, dass „Opportunismus (…) ein schleichendes Gift der Demokratie“ ist (S. 114 f.). Auch der Staatsmann, der sich durch seine „Orientierung auf das Gemeinwohl und seine Fürsorge für das Wohl seiner Mitbürger“ auszeichnen müsste (S. 146), sollte sein Tun und Lassen danach ausrichten, was ihm „Resilienz“ abverlangt, eine gewisse „Seelenstärke“ (Jacob Burckhardt, zit, S. 145) – auch um handlungsfähig zu sein, was heutzutage und zumal in Deutschland vielen „jungen Intellektuellen“ abginge. Diese Intellektuellen hätten „einfach einen anderen Habitus. Sie wollen gar nicht mehr eingreifen, sondern beschreiben und deuten. Handeln sollen andere“, woran der Autor die Frage anschließt: „Ist mit dem Abgesang auf den 'Marxismus' ab 1990 auch die 11. Feuerbachthese von Karl Marx, dass es darum geht, die Welt zu verändern und eben nicht darum, nur zu interpretieren, aus dem Bewusstsein gerückt?“ (S. 158 f.) Demgegenüber sinnt der Autor (mit dem Begriff Musils) den Intellektuellen an, „Wirklichkeitssinn in der Gesellschaft aus(zu)prägen“ und zugleich müssten sie „Desillusionierer“ sein: „Sie müssen Wege aufzeigen, wie Vision und Realismus zusammengehen können“ (S. 161 f.), und dabei „nicht einfach den 'Politikern' die Veränderung überlassen, sondern sie selbst mitgestalten“ (S. 166). Das bekräftigt der Autor durch eine kritische Einschätzung von „Systemintellektuelle(n)“: „Das System verlangt seine Bejahung“, wogegen jener Systemintellektuelle „nur noch Utopien“ anzubieten hätte, „Ausdruck der Sprachlosigkeit gegenüber einem Monster“ und es passiere „nichts, was das Monster verärgern könnte“, und der „Systemintellektuelle“ weiß korrespondierend „nichts mehr von Verantwortung.“ Kehrten die (jungen) Intellektuellen nicht zum wie vom Autor vorgetragenen Verständnis „individueller Verantwortung“ zurück, versäumten sie es, und zwar im Sinne von Aufklärung als Desiderat, „sich selbstbewusst und abgeklärt dem Monster stellen zu können“ (S. 168 f.).
Gegen den radikalen Individualismus, ein kritischer Abgleich von Postmodernismus und Neoliberalismus, ein Plädoyer für das 'Wir' und für Solidarität sind die zentralen Diskussionspunkte des vierten Kapitels Die Verantwortungsgesellschaft. Schlussendlich setzt Heisterhagen seine Hoffnung darauf, dass die Bewegung „'Aufstehen'; nicht der letzte Versuch der Revitalisierung solidarischen Denkens und Handelns in diesem Land bleiben wird. Der 'Sinn für das Ganze'; ist zurückzugewinnen, und das von der politischen Linken. Dafür wird sie im 'Nationalen'; beginnen, da aber nicht aufhören müssen. Die 'Internationale'; bleibt ihr Schicksal. Es muss nach dem Tod der Internationalen zu einer Wiederbelebung der Internationalen kommen.“ (S. 184). Da dann steht auch das „Individuum als Bürger“ in der Pflicht, das nicht nur wissen soll, was es zu unterlassen hat, was weitestgehend durch Gesetze und wesentlich durch die Verfassung geregelt ist, sondern überlegen müsste, „was wir tun sollen“, was „meist offen“ sei. Mit 'Wir'; ist ein „sozialdemokratisches Wir“ (Saxer) gemeint, das „zurückkommen“ solle (S. 186)
Nur folgerichtig lautet die Überschrift des fünften Kapitels Schluss: Frage nicht, was dein Land für dich tun kann, sondern was Du für dein Land tun kannst, womit der Autor laut Selbstauskunft „zum Kern dessen“ kommt, „worum es in diesem Buch ging: der Begründung von Verantwortung“, was auch die Frage beinhalte und somit in Bezug auf Gesellschaft den nervus rerum betreffe: „Was schulden wir als Mensch und als Bürger einander?“ (S. 188 f.) Es helfe schon, „zu einer 'Sprache des Wir' zurückzukehren und dem Ichismus des Neoliberalismus endgültig abzuschwören“ (S. 190). Nach einem knappen kritischen Blick auf Positionen innerhalb der SPD, einer „falsche(n) Sozialdemokratie“, rät der Autor dringend eine „republikanische Sozialdemokratie“ an, „die den Blick vom Individuum weg hin zum Ganzen richtet.“ Es gelte ein „Ruf an uns selbst, mehr für unsere Welt zu wollen. Amor mundi!“, und Heisterhagen ruft den Leser*innen zu: „Wir müssen 'mehr Verantwortung wagen'“ (S. 192).
Doch damit nicht genug, weist der Autor noch mit seinem Nachwort: Für eine Verantwortungslinke in das ein, woran man sich erinnern sollte, was abzulegen ist, was auf der Agenda steht: Man solle sich an etwa Lassalle und Rosa Luxemburg erinnern, an politische Linke, die „einst als Realisten begannen“, und die heutigen politischen Linken müssten „nur zu ihren Ursprüngen zurückfinden“, womit sie sich selbst „mit einer Abkehr vom postmodernen Biedermeier“ nicht „verraten“ würden – „vielmehr ist es so, dass sie sich in der postmodernen Epoche selbst täuschen und 'entfremdet'; sind von ihren Ursprüngen. Diese Entfremdung müssen sie nun überwinden“ (S. 196 f.). Anzuraten sei dabei, sich nicht „in der Abgrenzung zu allem Nicht-Linken“ zu definieren, sondern sich auf die „Suche nach dem Auch-Linken“ zu machen ('Zeit'-Journalist Bittner, zit. S. 199), weil das die Aufgabe einer „Verantwortungslinken“ sei und diese dem Ziel näher brächte, eine „Handlungslinke“ zu sein, die „die Welt erklären“ wolle und deren „Politik“ darauf zielen müsse, „die Welt“ zu „verändern. So viel Karl Marx muss der politischen Linken bleiben: Es geht darum etwas durchzusetzen. Dafür muss man Macht suchen“ (S. 202)
Diskussion
Diese Schrift, um den Begriff der Verantwortung kreisend und insbesondere bei mehr oder minder sich (irgendwie) 'links'; verstehenden Akteuren im bestehenden Parteienspektrum einen neuen politischen Gemeinsinn in Zeiten des Wandels anmahnend, bleibt schuldig zu erörtern‚ was sich 'links'; von einer Linken tut, die er dieser Bezeichnung für würdig befindet oder befände, nähme sie sich seine Botschaften zu Herzen. Eine lapidare Äußerung wie die von Howie Hawkins, Mitbegründer der amerikanischen Grünen: „Der Nationalstaat ist die falsche Analysekategorie. Die richtige ist Klassenpolitik“, würde Heisterhagen, was man ihm angesichts seiner (nicht immer konsistent erscheinenden) Argumentation unterstellen darf, auf das hic et nunc realistisch Erreichbare moderieren, ohne den visionären Gehalt zu verwerfen oder zu diskreditieren, solange er keine Duldungsstarre zur Folge hat. Über (u.a.) ‚Klasse‘ und ‚Klassenpolitik‘ diskutieren Linke, die sich nicht unbedingt unter einem Parteiendach zusammentun. Dass sich der Autor im parlamentarisch demokratischen Rahmen bewegt und gelegentlich radikaldemokratische Ideen aufzüngeln, ist sein gutes weil gesetztes Recht.
Zwischen den Zeilen, gleichsam im Subtext, speist er eine inzwischen feuilletonfähige, wenig analytisch gesättigte Ökonomieschelte und Kritik an politischem und staatlichem Handeln ein. Da mögen die Leser*innen auf den Verdacht und die unliebsame Spur kommen, würden Politiker und Parteien er- und bekennen, wie sehr sie von den Regularien der allen auflastenden Ökonomie, konkreter den Ansprüchen des Kapitals in Gestalt auch vereinzelter Kapitalinteressen beherrscht werden (und gar nicht mal erheblich drangsaliert werden müssen), wäre damit im Doppelsinne kein Staat zu machen. (Doch Staatstheorie, eigentlich der Erweiterung seiner thematischen Behandlung von ‚Verantwortung‘ anrainend, schon gar eine linke und ‚marxistisch‘ orientierte, lässt der Autor außen vor.) Aber vom „Ganzen“ oder dem „Bann“ (Adorno) nach Analyse der kritischen Philosophie zu reden resp. es zu entfalten, spart der Philosoph Heisterhagen aus. Da bedient der Publizist und Redenschreiber Heisterhagen eher die wehmütigen Reminiszenzen von Sozialdemokrat*innen und Gewerkschafter*innen, die nicht kalendarisch älter sein müssen, an die verwehten Spuren ihrer Partei oder Organisation, und rät ihnen wie in toto der „politischen Linken“ an, zu ihren „Ursprüngen zurückzufinden“ (s.o.), wobei er auch Rosa Luxemburg ins Gespräch bringt. Damit will er zum anderen an einer Stellschraube drehen, mit der postmodern orientierte Philosophie und Soziologie wie weitere „Menschenwissenschaften“ (Elias) schon bis zum Anschlag auf Reformfähigkeit des ökonomischen und sozialen Systems noch mit notfalls gesellschaftskritischem Zungenschlag einjustiert haben.
Ob Rosa Luxemburg an diese wie vom Autor gemeinte Reformierbarkeit geglaubt und in der Weise auf sie gesetzt hat, darf bezweifelt werden. Sie schrieb weiland 1916 zur „Krise der Sozialdemokratie“: „Geschändet, entehrt, im Blute watend, von Schmutz triefend – so steht die bürgerliche Gesellschaft da, so ist sie. Nicht, wenn sie, geleckt und sittsam, Kultur, Philosophie und Ethik, Ordnung, Frieden und Rechtsstaat mimt – als reißende Bestie, als Hexensabbat der Anarchie, als Pesthauch für Kultur und Menschheit, so zeigt sie sich in ihrer wahren, nackten Gestalt.“ Flammende Worte, die sich weder an den jetzigen Zeitgeist anschmiegen noch in ihrer Metaphorik der heutigen bildungsbürgerlichen Ausdrucksgewohnheit entsprechen – und doch kein Zerrspiegel, sondern aktuell sind gegenüber dem mit dem immer erneuerten Reformlappen blank gewischten Spiegel der Zeit und Umstände, besonders wenn man über den nationalen Tellerrand hinaus und hinter diesen Spiegel auf bei weitem manifestere Armut und Not nicht mehr nur südhalbkugelweit schaut. Reformhebel gibt es genug, sie sind nur äußerst morsch geworden und ersichtlich abgenutzt. Desintegration, wie sie beständig produziert wird, ist kaum noch, auch nicht mit hochtourig laufender 'Integrationsmaschinerie'; zwischen Kulturindustrie und blanker Gewalt, abzuwinkeln.
Natürlich ist es nicht nur für einen Publizisten nicht ehrenrührig, eine „Reformlinke“ zu reklamieren; doch wenn man sich als Philosoph nicht gerade in ‚analytische Philosophie‘ mit explizitem Verzicht auf Philosophiegeschichte oder weniger bedeutsamen Glasperlenspiel-Varianten einigelt oder sich anders aus der Schusslinie hält, wenn man sich auf die 11. Feuerbachthese Marxens -wenn auch nur deklamatorisch wie Heisterhagen - und auf „verändern“ (s.o.) statt bloßen Interpretierens bezieht, darf man erwarten, dass sich der Autor dann in Bezug auf eine gleichermaßen unverzichtbare „Wirtschaftslinke“ (s.o.) weitergehende Gedanken über das ‚Wirtschaften‘, seinen Zweck und seine Folgen macht, was in (s)einem Affront gegen den Neoliberalismus nicht aufgeht. Ansonsten: si tacuisses… Der Hinweis, dass solche Wirtschaftslinke den „Kapitalismus sozial eindämmen“ (s.o.) könnte und sollte, ist kein Ersatz für eine Analyse, die belegte oder widerlegte, dass so etwas gehen könnte oder – was immer deutlicher der Fall zu sein scheint – nicht geht. Der Aufruf, es sei „Zeit für mehr politische Ökonomie“ (s.o.), mutet dann zumindest merkwürdig oder gar widersprüchlich an, jedenfalls dann, wenn man aus augenscheinlich anderen Wissensbeständen um politische Ökonomie schöpft als der Autor. Das muss der Fall sein, weil er sonst nicht vorschlagen könnte, diese „sozio-ökonomische Ursachen durch sozio-ökonomische Maßnahmen zu beheben“ (S. 95) (was er als Antidot gegen linken und rechten Populismus ansinnt); übersetzt man „Ursachen“ in ‚Wesen des Kapitalismus‘, dann ist das – politisch ökonomisch und analytische gesehen – hanebüchener Unsinn. Da verhallt dann auch seine großzügige Restbezugnahme auf Marx und dessen 11. Feuerbachthese: „Ergo: Aus Theorie soll Praxis werden“ (S. 137) und verbleibt als gefällige Worthülse.
Gutwillig könnte man den Luxemburgschen Begriff der „reißenden Bestie“ mit dem „Monster“ bei Heisterhagen parallelisieren, dem man sich „selbstbewusst und abgeklärt“ stellen sollte und muss (s.o.). Doch sein „Monster“ ist bei näherem Hinsehen auf seine Zielvorstellung einer „republikanische(n) Sozialdemokratie“ (s.o.) nicht die „Bestie“ im Sinne Rosa Luxemburgs noch das „Ganze“ im Sinne der kritischen Theorie und prominent bei Horkheimer und Adorno, die allemal (was zu verschweigen bei den Letztgenannten sich heute einige Exegeten elaboriert bemühen) auf der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie fußten, der Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft. Seinen Begriff vom „Ganzen“ legt Heisterhagen unter Zuhilfenahme eines längeren Zitats des Politikwissenschaftlers Saxer dar (zit. S. 192), in dem es heißt: „Die Sozialdemokratie sollte (…) sich auf die Aushandlung von Klassenkompromissen und die Verteilung von Macht, Ressourcen und Anerkennung konzentrieren. Nur so kann eine breite gesellschaftliche Allianz entstehen, die zum kollektiven Handeln fähig ist.“ Nur so sei „Gemeinwohl“ zu bewerkstelligen. Lässt man einmal den Begriff von 'Anerkennung'; beiseite, ererbt von Honneth, der damit den Widerspruch von Lohnarbeit und Kapital auf ein Anerkennungsproblem herunterbricht und verwischt, so bilden „Klassenkompromisse“ und „Verteilung von Macht“ genau das ab, was, wenn auch in anderer Form, Stolpersteine des Austromarxismus waren und die Sozialdemokratie zu dem geführt hat, was die heutige SPD ist. Wenn nicht einen Bremsklotz vorlegen, so doch eine Weiche stellen will Heisterhagen der SPD als abgehalfterter „Kollektivpartei“ (gegenüber einer 'liberallastigen' „Individualismuspartei“, deren Fürsprecher zu sein er Kevin Kühnert anlastet [S. 191]), und daher müsse so viel „von Marx (…) der politischen Linken bleiben“, „etwas durchzusetzen“, man müsse die „Macht suchen“ (s.o.).
Es bedarf schon einiger Chuzpe, den Leser*innen mit Marx in dieser Weise und in vielleicht interessiertem Absehen von seiner Analyse und schließlich auch schlicht falsch zu kommen. ‚Klassenkompromisse‘ waren ganz und gar nicht seine vorrangige Option war; im Gegenteil, er schurigelte seine ‚linken‘ Zeitgenossen für (wenn auch entfernt) vergleichbare Vorstellungen, z.B. auch etwa was Lohnkampf und Verbesserung von Arbeits- und Lebensbedingungen betraf, frühsozialistischen Vordenkern warf er gar ‚Utopismus‘ und ‚Idealismus‘ vor. „Es geht nicht um Revolution, es geht um harte Reformen“ (S. 34), so Heisterhagen. Das sah Marx völlig anders (was Linke jenseits der Heisterhagenschen Linken bis heute beschäftigt, die nicht nur aus einer nebulösen Verantwortung und aus einer verschwiemelten „Liebe zur Welt“ heraus „in die Praxis“ wollen und die Welt „auszubuchstabieren“ antreten, wie es in Heisterhagens Ohren misstönend klingen dürfte [S. 37]).
Man möchte nachfragen, und zwar schon bei Kant, dessen „drei Maximen“ (s.o.) aus der „Kritik der Urteilskraft“ der Autor recht bündig und eigenwillig für sich fruchtbar macht (vgl. S. 109 f.), und auch bei Hegel, dem er ohne jede Kritik und affirmativ richtig testiert, in ‚ihm‘ (vermutlich dessen ‚Staatsphilosophie‘) sei mehr vom „heutigen Zeitgeist zu finden, als man vielleicht denkt“ (S. 83), ob Heisterhagen sich selbst das zugutehält, was er dem Staatsmann, wie er ihn sehen möchte, konzediert: „Was man vom Staatsmann erwarten darf, ist, sich bewusst zu sein, dass er nur einen ‚Ausschnitt‘ im philosophischen Denken und Interesse und Wille haben sollte, sich über die Implikationen dessen Gedanken zu machen und gleichzeitig offen für andere Ansätze, Denkweisen und Philosophien zu sein. Wenn er das leistet, darf sein Kompass als funktionsfähig gelten.“ (S. 149 f.) Das mag – günstigenfalls – Realität abbilden und ist nicht ohne Weiteres als ganz normale Halbbildung zu desavouieren, weil nicht mehr machbar scheint, dass hochgebildete Denker auch mit ebenso gebildeten Beraterstäben dem Staatswesen vorstehen. Doch ist nun Heisterhagen mehr Philosoph, der sich nicht mit „Ausschnitten“ oder gar Versatzstücken begnügen darf und in der Weise für andere „Denkweisen und Philosophien“ insoweit „offen“ sein müsste, um sich kritisch an ihnen abzuarbeiten und die Philosophie weiterzuentwickeln; oder ist der Autor mehr Zuträger, Grundsatzreferent und Redenschreiber, der Kompasse für eine auftraggebende Klientel einnordet und – aus seiner Sicht – zukunftsträchtig „funktionsfähig“ macht… Die Leser*innen mögen entscheiden, ob sie das Buch als hauptsächlich politische Streitschrift zur Kenntnis nehmen oder als diskussionswürdigen politisch-philosophischen Essay – was ihnen keine tiefere Vertrautheit mit Philosophie, mit Marxismus, mit Soziologie, Politologie und Geschichte abverlangen dürfte.
Fazit
„Man kann links sein, ja sogar sehr links, ohne ein Sozialist zu sein“ (s.o.): „links“ als real existierender Sozialdemokrat?; „sehr links“ mit radikaldemokratischen Tendenzen, „ohne ein Sozialist zu sein“, der (da sei die ‚soziale Marktwirtschaft‘ vor!) zum Kommunisten werden könnte? Letzterer ist im Zuge eines Wandels des Meinungsklimas nicht zuletzt durch publizistische (ideologische) Flankierung und allerdings abzuwägender Skepsis gegenüber intellektuellen Schulterschlüssen mit entsprechenden Regimes anrüchig geworden. Wiederentdeckt, und zwar nach historisch relativ kurzer Zeit, wird die Kritik der politischen Ökonomie; unter welchem Label die ‚Wiederentdecker‘ firmieren werden, die das Ganze nicht durch einen sich wissenschaftlich profilierenden Fleischwolf drehen und auf Praxis hin aufklären und wirken, steht noch aus. Und da der Autor die von ihm gemeinte ‚Linke‘ an (u.a.) Rosa Luxemburg erinnert, kommt man eigentlich nicht umhin, bei ihr in einer Schrift über Marx von 1903 zu blättern, wo sie sich über „revolutionäre Realpolitik“ auslässt, die sich nicht nur „erreichbare Ziele“ zu stecken habe, sondern „durch all ihre Teilbestrebungen in ihrer Gesamtheit über den Rahmen der bestehenden Ordnung“ hinausgehen müsse. Die vom Autor gesetzte Aufgabe, die Frage zu klären, wie „Vision und Realismus zusammengehen können“ (s.o.), ist auf dieser Folie höchstens ein schmalllippiges Bekenntnis, und sein Hinweis auf „Elemente von Vision“ (s.o.) höchstens ein Trostpflästerchen.
Dem Publizisten Heisterhagen mag man seinen irritierenden Eklektizismus nachsehen; die (wenigen) zentralen – politischen – Aussagen seines Buches können nicht nur unter denjenigen, die für ihn ein linkes Lager repräsentieren, weitergehende Diskussionen um die klassische Frage „Was tun?“ anregen, die man nicht nur leninistisch verstehen muss.
Rezension von
Arnold Schmieder
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