Christopher Bollas: Wenn die Sonne zerbricht
Rezensiert von Prof. Dr. Annemarie Jost, 09.10.2020
Christopher Bollas: Wenn die Sonne zerbricht. Das Rätsel Schizophrenie.
Klett-Cotta Verlag
(Stuttgart) 2019.
259 Seiten.
ISBN 978-3-608-98151-3.
D: 28,00 EUR,
A: 28,80 EUR.
Übersetzerin: Karla Hoven-Buchholz.
Thema und Zielgruppe
Es handelt sich um eine deutsche Übersetzung des US -amerikanischen Buches: „When the Sun Bursts: The Enigma of Schizophrenia“, das 2015 erschien.
Der Autor regt an, Schizophrenie neu zu denken, d.h. sich wirklich auf die Gedankenwelt der Patienten einzulassen, indem TherapeutInnen und Angehörige lernen, die Sprache schizophrener Menschen zu enträtseln. Den Schlüssel im Umgang mit schizophrenen PatientInnen – und sogar zur Heilung – sieht Christopher Bollas im intensiven, aber Grenzen wahrenden Gespräch und dem persönlichen Kontakt mit dem Erkrankten, je früher in der Entwicklung einer Psychose, desto besser.
Dieses Buch richtet sich an:
- PsychoanalytikerInnen und PsychotherapeutInnen
- Menschen, die beruflich mit Schizophrenen zu tun haben
- Angehörige schizophrener PatientInnen
- PhilosophInnen, TheologInnen und andere an existentiellen Fragen Interessierte
Autor
Christopher Bollas begann seine akademische Ausbildung als Historiker, arbeitete jedoch in den 1960er Jahren nach seiner Studienzeit in Berkeley im nahegelegenen East Bay Activity Center mit Kindern, die Diagnosen wie Autismus oder Schizophrenie erhalten hatten. Er bildete sich dann zunächst in Buffalo psychotherapeutisch weiter, um später in London eine Ausbildung zum Psychoanalytiker zu absolvieren. Er war sowohl als Professor für englische Literatur als auch langjährig als analytisch ausgebildeter Therapeut tätig. Von 1978–98 war er Gastprofessor am Istituto di Neuropsichiatria Infantile der Universität Rom. Christopher Bollas befasst sich unter anderem intensiv mit freier Assoziation. Er lebt und arbeitet jetzt in freier Praxis in Santa Barbara, Kalifornien.
Aufbau
Das Buch ist – nach einer Einführung – im Teil 1 zunächst chronologisch entlang der frühen beruflichen Begegnungen des Autors mit seinen PatientInnen aufgebaut und enthält viele genaue Schilderungen konkreter Interaktionen. Teil 2 vertieft den Kern der Theorie des Autors und Teil 3 diskutiert die Psychotherapie der Schizophrenie.
Das Literaturverzeichnis wurde ersetzt durch eine kommentierte Bibliografie, in der Christopher Bollas die AutorInnen und ihre Texte bewertet.
Inhalt
Teil 1
Das Buch ist getragen von der Grundhaltung „Auf dem Gebiet der geistigen Gesundheit werden wir nie Experten sein. Wir alle, die mit Menschen arbeiten, bleiben immer Lernende.“. Schizophrene Menschen werden in ihrem Scheitern betrachtet, die „normale“ Abwehr von Komplexität und die mitmenschlich geteilte Ruhe im vereinfachten Alltäglichen finden zu können. Einen Ausweg bietet nach Auffassung des Autors weniger ein biologisch medikamentöser Therapieansatz (der zwar zeitweilig helfen könne), sondern eine echte menschliche Verbindung, das Gefühl, Gehör zu finden und die wirkliche Anwesenheit empathischer Anderer.
Bei den Schilderungen seiner Begegnungen und individuellen Unterstützungsversuche für schwer beeinträchtigte, z.T. hoch aggressive Kinder kommt Christopher Bollas im Kapitel „Wahnsinn einer Nation“ auch auf die paranoiden Trends in der amerikanischen Politik der 1960er Jahre und die Attentate auf John F. Kennedy, Malcolm X, Martin Luther King und Robert Kennedy zu sprechen. Er schildert die Reaktionen der Kinder und ihre unangemessenen Schuldgefühle – und die Versuche der Fachkräfte, den Kindern die politische Situation zu erklären. Er geht allerdings nicht so weit, nachzufragen, ob sich unter den schwer kranken Kindern möglicherweise auch Opfer von damals praktizierten Mind Control Experimenten oder ritueller oder organisierter Gewalt befunden haben könnten.
Teil 2
Im zweiten Teil versucht der Autor in einigen Kapiteln wie „Metasexualität“ eine Synthese zwischen psychoanalytischen Theorien und dem Verständnis schizophrener Symptome. Dies ist nicht immer ganz leicht nachzuvollziehen, wie folgendes Zitat veranschaulichen soll: „Metasexualität ist demnach eine schizophrene Objektbeziehung, die auf der manischen Überzeugung beruht, dass das Subjekt Vater und Mutter übertrumpft und sich einverleibt habe … Obwohl sich das Körper-Selbst durch die Aneignung erregt fühlt, entsexualisiert der Triumph der Einverleibung die Urszene – ähnlich wie das Verdauungssystem den Geschmack von Essen zerstört.“
In anderen Kapiteln – z.B. „Den Verstand verstecken“ zeigt sich eine sehr genaue, gut verständliche Beobachtung schizophrener Menschen und ein neuartiger, sehr ergiebiger Zugang, indem versucht wird, die Alltagsgestaltung schizophrener Menschen wahrzunehmen und zu verstehen: So beobachtet der Autor, wie schizophrene Menschen Teil ihres Selbsts in Gegenständen verstecken, beispielsweise aggressive Anteile in einem Staubsauger oder einem Hackebeil aufbewahren; die schizophrenen Patienten suchen dann diese Gegenstände regelmäßig auf, um sich zu vergewissern, dass dieser Selbstanteil sicher aufbewahrt ist. Der Autor beobachtet unterschiedlich verborgene Symbolisierungen und Projektionen, einige sind nah und für die Kontaktpersonen eher verstehbar, wie die Projektion des Gedächtnisses in ein Tonbandgerät, andere entfernter oder bizarrer. Bei einer Thematisierung dieser Symbolisierungen und Projektionen könne der Patient leicht das beängstigende Gefühl entwickeln, man dringe in ihn ein. So gebe es im Kontakt „No-go-Areas“ die beim Patienten enorme Angst auslösen. Wenn ein Schizophrener erstmals in eine Klinik käme, würde er rasch Objekte mit Teilen seines Geistes und geistigen Inhalten besetzen. So könne einerseits das bloße Umschalten eines Fernsehprogrammes durch MitpatientInnen enorme Angst auslösen, andererseits könne diese Auslagerung von Selbstanteilen auch zu einer subjektiv erlebten inneren Entleerung führen.
Im Kapitel „Gedanken ausweichen“ wird nachvollziehbar, dass manche sinnlosen Handlungen schizophrener Menschen dem Ziel dienen können, das Auftauchen verstörender Gedanken durch Handlungen zu verhindern.
Menschen mit Schizophrenie seien zu den kollektiven Vereinfachungen und Verleugnungen, die von normalen Personen eingesetzt werden, nicht in der Lage. Sie seien – aus welchen Gründen auch immer – unfähig, schöpferisch in der mütterlichen Ordnung zu leben. Die sensorische Kommunikation und ein abgestimmter intuitiver Kontakt konnten nicht wie bei anderen Menschen zu einem Selbst führen, das sich als verlässliche Basis für sprachlich formulierbares Wissen etabliert und selbstverständlich als intaktes Ich handlungsfähig wird. Sie würden mit unbewussten Prozessen überflutet und müssten sich auf neue, bizarr anmutende Weise organisieren. Schizophrene Menschen würden dabei zum Sensorischen zurückkehren und die Sprache ihrer Bedeutungsfunktion entkleiden. Gilt ein Wort mit seelischem Schmerz besetzt, wird es aus dem Sprachschatz gestrichen. Ein sicheres Wort hingegen wird wie ein Talismann gebraucht und wird so zum Ding. Die Person geht an etwas verloren, das wir Schizophrenie nennen. Der Kontakt zur Umwelt werde bedrohlich. Schizophrene Menschen widmeten sich dann dem Aufbau einer neuen Welt und suchten Kontrolle über die Gedankenprozesse, als Abwehr gegen Vernichtungsängste.
Teil 3
Eine genaue Betrachtung richtet sich in diesem Buch auf den schizophrenen Zusammenbruch. Im dritten Teil des Buches erläutert der Autor u.a. die Ergiebigkeit, sich ganz genau danach zu erkundigen, was in den Tagen passierte, die zu dem Augenblick führten, als sich der Patient/die Patientin veränderte. Dies sei bedeutend einfacher zeitnah nach dem Zusammenbruch, denn mit der Zeit hätten viele PatientInnen die Erfahrung gemacht, in ihrem psychotischen Universum alleine gelassen zu sein. So müsse zu Menschen, deren Zusammenbruch länger zurückliege, zunächst einmal in mühsamer Kleinarbeit Vertrauen aufgebaut und „die schizophrene Neugier“ geweckt werden. Im weiteren Therapieverlauf macht der Autor seinen PatientInnen Mut, das schöpferische Potenzial von Veränderung wieder zu entdecken und sich gemeinsam mit dem empathischen Analytiker auf den mühsamen Weg einer wiederentstehenden Verständigung zu machen.
Im letzten Absatz des Buches merkt Christopher Bollas an, dass Dichter uns vielleicht mehr über die Schizophrenie beibringen können als Psychiatrie und Psychopharmakologie.
Diskussion
Die Stärke des vorliegenden Buches liegt darin, dass der Autor durch jahrelange sehr genaue Beobachtungen und respektvolle Gespräche in der Lage ist, einen tiefen Einblick in die Bedeutung schizophrener Symptome zu geben. Seine Beobachtungen sind immer wieder mit psychoanalytischer Theorie untermauert, was an manchen Stellen sehr ergiebig ist, an anderen aber auch spekulativ erscheint. Wer sich auf die Lektüre dieses Buches einlässt, wird insgesamt eine große Bereicherung erleben, denn das Buch weist Wege zu einem neuen tieferen Verständnis für schizophrene Menschen und macht Mut, gemeinsam mit schizophrenen Menschen die Wege zur Verständigung auszuloten.
Fazit
Christopher Bollas zeigt seiner Leserschaft neue Wege auf, mit schizophrenen Menschen geduldig, empathisch und genau hinhörend in Kontakt zu treten, er schildert dabei auch die Ängste der PatientInnen vor Vereinnahmung und die langen Phasen, in denen eine sprachliche Verständigung kaum möglich erscheint. Er entwickelt zugleich – psychoanalytisch geprägte – Modelle zur Entstehung des schizophrenen Zusammenbruchs und hinterfragt kritisch die „gesunde“ Normalität.
Rezension von
Prof. Dr. Annemarie Jost
Professorin für Sozialpsychiatrie an der Fakultät 4 der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg
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Es gibt 144 Rezensionen von Annemarie Jost.
Zitiervorschlag
Annemarie Jost. Rezension vom 09.10.2020 zu:
Christopher Bollas: Wenn die Sonne zerbricht. Das Rätsel Schizophrenie. Klett-Cotta Verlag
(Stuttgart) 2019.
ISBN 978-3-608-98151-3.
Übersetzerin: Karla Hoven-Buchholz.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/26538.php, Datum des Zugriffs 04.12.2024.
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