Harlich H. Stavemann, Wiebke Bergmann: Auf ins Leben!
Rezensiert von Dr. Philipp Thaler, Prof. Dr. Carl Heese, 17.04.2020

Harlich H. Stavemann, Wiebke Bergmann: Auf ins Leben! Wie Kinder lernen, selbstsicher, motiviert und zuversichtlich zu sein. dgvt-Verlag (Tübingen) 2019. 119 Seiten. ISBN 978-3-87159-230-0. D: 14,95 EUR, A: 15,40 EUR.
Autoren
Harlich Stavemann ist ein bekannter Vertreter der kognitiven Verhaltenstherapie. Er hat die rational-emotive Therapie von Albert Ellis in Deutschland verbreitet und hat in drei Jahrzehnten als Leiter des Hamburger Ausbildungsinstituts für integrative Verhaltenstherapie eine große Zahl von psychologischen Psychotherapeuten geprägt. Die Co-Autorin Wiebke Bergmann ist eine Schülerin von Stavemann. Sie führt eine psychotherapeutische Praxis bei Leipzig und bietet auch Elterntrainings und Ausbildungskurse für Eltern-Coaches an.
Entstehungshintergrund
Das Buch steht in der Tradition der klinisch-psychologischen Erziehungsratgeber, wie sie besonders von der Schule Alfred Adlers begründet wurde. Adler ist von seiner klinischen Erfahrung ausgehend dazu gelangt, dass sich psychische Störungen durch Erziehung vorbeugen lassen. In der Folge wurde dann die Erziehungsberatung und eine spezifische Ratgeberliteratur entwickelt. Besonders erfolgreich war hier der Erziehungsratgeber „Kinder fordern uns heraus“ des Adlerianers Rudolph Dreikurs. Dieser Auflagenklassiker aus dem Jahr 1966 erschien 2014 in der 19. Auflage. Hier knüpfen Stavemann und Bergmann an und formulieren Grundsätze einer Erziehung, die den klinischen Erfahrungen, die in den Praxen heute gemacht werden, entsprechen.
Inhalt
Im Vorwort benennen die Autoren „Eltern, Großeltern, Lehrer und Erzieher“ als Zielgruppe ihres Erziehungsratgebers, er soll „psychischen Problemen vorbeugen“ (S. 8), „alle Inhalte [seien] wissenschaftlich begründet und fachlich untermauert“ (ebd.) und sie versprechen auf „Psychologenkauderwelsch“ (ebd.) zu verzichten. Als Erziehungsziele werden benannt…
- ein gesundes Selbstbewusstsein,
- Eigenverantwortlichkeit,
- Akzeptanz von Unausweichliche und Unsicherheit,
- Frustrationstoleranz,
- Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit sowie
- Mut gegenüber Gefahren und Lebensrisiken.
Um diese Ziele zu erreichen, soll eine konkrete Anleitung gegeben werden, wie ein gesundes Selbstbewusstsein jenseits von pauschaler Selbstabwertung oder -überhöhung aufgebaut, wie Frustrationstoleranz erlernt und wie die Unsicherheiten des Lebens ohne permanente Angst ertragen werden können.
Bevor auf die Entwicklung dieser Fähigkeiten in drei größeren Kapiteln eingegangen wird, wird im Kapitel 1 - ‚Wie Kinder lernen‘ – behandelt, wie Gefühle entstehen, wie soziale Verhaltensmuster erlernt werden und was ungünstige Gefühle und Verhaltensweisen sind. Für letzteres werden die Begriffe Selbstunsicherheit, Wutausbrüche, Bequemlichkeit und Risikovermeidung eingeführt. Es wird der Vorzug der Prävention gegenüber der Reparatur erklärt und auch, worauf Erziehende in ihrer Kommunikation mit Kindern achten können. Hier – wie im gesamten Buch – illustrieren anschauliche Beispiele die Ausführungen.
In Kapitel 2 – Selbstsichere Kinder steht die Förderung eines gesundes Selbstbildes im MIttelpunkt. Es wird die Bedeutung der Bezugspersonen für die Entwicklung von Selbstwertkonzepten unterstrichen. Der Nährboden für Selbstwertprobleme sei, wenn ein „Kind auch über sich immer pauschal gut oder schlecht denkt“ (S. 29). Ungünstige Selbstwertkonzepte zeigen sich, „wenn ein Kind verallgemeinernde Gesamturteile über sich fällt und deswegen mit unnötigen emotionalen Problemen und/oder schädlichen Verhaltensweisen reagiert“ (S. 30). Die Autoren veranschaulichen die Problematik anhand von typischen Konstellationen (die sie aber nicht als Typen oder Persönlichkeitsstile verstanden wissen wollen): ‚verschämte Selbstabwerter‘, ‚Lobhascher‘ und ‚Versagensangsthasen‘ (S. 31–34). Gegen Pauschalierungen, auch pauschales Loben, empfehlen sie gezieltes, differenziertes Loben (S. 39), es soll den Kindern vermittelt werden, dass es kein absolutes Richtig und Falsch gebe (S. 47) und sie sollten sich weder mit ihrem Verhalten identifizieren, noch mit ihrer Leistung, irgendeinem bestimmten Merkmal oder mit dem, wofür andere sie halten (S. 47 f.).
Den Kapitelschluss bildet ein Exkurs über Märchen. In ihnen lassen sich Pauschalierungen und Schwarz-Weiß-Denken reichlich entdecken. So beispielsweise in Goldmarie und Pechmarie oder in Tischlein deck dich, während das Tapfere Schneiderlein und König Drosselbart diese Klippe besser umschiffen. In der neueren Kinderliteratur finden die Autoren bessere Beispiele für differenzierendes Denken. Sie heben Leo Lausemaus und Lauras Stern hervor.
In Kapitel 3 – Ausgeglichene und motivierte Kinder wird zunächst mit Fehlannahmen aufgeräumt. Eine geringen Frustrationstoleranz sei kein Ausdruck eines starken Willens oder einer starken Persönlichkeit, sie sei eher angeboren und stelle keine Entwicklungs- oder Anstrengungsleistung dar (S. 60). Eltern sollen vermitteln, dass sich Frustrationen aushalten lassen und dass sie zu überwinden und oft auch zu akzeptieren sind (S. 59). Dafür ist es hilfreich, Kinder durch Begrenzung und Anforderungen gezielt zu frustrieren, ihnen aber auch gleichzeitig zu ermöglichen, „die notwendige Selbstüberwindungsfähigkeit und Akzeptanzleistung zu erlernen“ (S. 60). Einen Gegenentwurf dazu bilden Helikopter-Eltern, die den Kindern wohlmeinend die Entwicklung ihrer Gefühlsregulationsmöglichkeiten abnehmen (S. 61). Als typische Erscheinungen der Frustrationsintoleranz werden der ‚Wutbrummer‘ und der ‚Anstrengungsvermeider‘ vorgestellt (S. 61–64). Frustrationstoleranz wird dagegen als Einsatzbereitschaft und Akzeptanz für die Grenzen des eigenen Einflusses gekennzeichnet (S. 64 f.). Die Unterstützung beim Aufbau von Eigenverantwortung und langfristiger Planverfolgung wird differenziert für verschiedene Altersstufen dargelegt.
Kapitel 4 – Mutige Kinder widmet sich dann der Förderung von Zuversicht und Lebensmut. Es wird einiges zur Psychologie der Angst entfaltet. Wichtig ist den Autoren der Hinweis, dass Angst per se nicht vor Gefahr schützt (S. 97), dies leisten nur ein rechtzeitiges Erkennen und geeignete Bewältigungsanstrengungen. Die Problemtypen heißen hier die ‚Übervorsichtigen‘ und die ‚Lebensängstlichen‘. Existenzielle Angst wird von sozialer Angst abgehoben. Strategien, wie Eltern den Kindern einen gelassenen Umgang mit Unsicherheit und Risiko vermitteln können, werden vorgestellt. Das hilfreiche Gespräch mit Kindern über die Angst vor dem Tod bildet den Abschluss dieses Kapitels.
Im Nachwort plädieren die Autoren noch einmal für eine engagierte Erziehung und gegen der Irrglauben, die Arbeit mache sich von selbst. Man solle die Anstrengungen der Auseinandersetzung nicht scheuen und auch ein später Start in eine aktive Erziehung nach dem Konzept der Autoren sei noch möglich, wenn auch mühsamer.
Diskussion
Der Erziehungsratgeber ist ein kompaktes, didaktisch gut gemachtes und schön gestaltetes Buch. Es behandelt bei weitem nicht die Breite der Erziehungsprobleme, sondern beschränkt sich auf Wesentliches. Wesentlich ist bei diesen Autoren, was im Misslingensfall früher oder später in die psychotherapeutischen Praxen führt, weil es dann zu ‚emotionalen Turbulenzen‘, d.h. psychischen Störungen kommt. Für die Therapieschule von Ellis und Stavemann sind das die Themenkomplexe der Selbstwertprobleme, der Frustrationsintoleranzprobleme und der existentiellen Ängste. Der Häufigkeit, mit denen diese Probleme in den Psychotherapiepraxen auftauchen, entspricht in etwa der Umfang der Darstellung im Ratgeber. Die Erziehung, die ein gesundes Selbstwertgefühl ermöglicht, erhält dabei den meisten Raum. Für jeden dieser Problembereiche zeigen die Autoren bis in die Praxis der der Gesprächsführung mit den Kindern spezifische Vorgehensweisen auf, die helfen diese Probleme zu vermeiden; und zu jedem hat Stavemann auch einen Patientenratgeber verfasst, der als Therapiebegleitlektüre gedacht ist und der auch hier bei Bedarf zur Vertiefung herangezogen werden kann.
An passenden Stellen fallen dann auch Seitenblicke auf Zeitgeistprobleme wie Helikopter-Eltern, eine auf bequeme Weise falsch verstandene Autonomievorstellung für die Kinder oder das Stehenbleiben bei Emotionen wie Scham und Angst. Hinzu kommen konkrete Anleitungen zu zeitlosen Themen: Wie man mit Kindern spricht, wie man ein gutes Vorbild ist oder wie man Fragen nach Sterben und Tod beantwortet.
Insgesamt ist das Buch ein Plädoyer für eine engagierte, Orientierung gebende Erziehung, die aber nicht autoritär daherkommt. Es nimmt Eltern und Erzieher als Vorbild ernst und es gibt eine Anleitung zur Einübung in selbstständiges Entscheiden und den Umgang mit Relativität, die beide heute so wichtig sind wie nie zuvor. Der Wertesubjektivismus, den die Autoren dabei zu Prüfzwecken einführen, wird vielleicht manche Leser befremden. Hier sprechen die Autoren für unseren Geschmack etwas zu sehr aus der therapeutischen Erfahrung, bei der die Verflüssigung von bereits zementierten Wertungen eine große Rolle spielt. Trotzdem ist die diskursive Erziehung, die sie dabei anstreben, völlig überzeugend.
Das Buch ist kompakter als die meist doppelt so umfangreichen Ratgeber von Rogge, Dreikurs und anderen und überdies auch noch konkreter, z.B. mit seinem altersdifferenzierenden Anleitungen für ein schrittweises Vorgehen zu einem langfristigen Planen (S. 81 f.) oder mit der Liste von Möglichkeiten, wie man für die Kinder als ein hilfreiches Vorbild beim Umgang mit Unsicherheit und Risiko fungieren kann (S. 103). Beim Eingehen auf die Fragen, die in der Erziehungsberatung häufig gestellt werden, verfahren die Autoren streckenweise so pragmatisch nach einem Frage- und Antwortschema wie der Allzeit-Klassiker ‚Dr. Spock's Baby and Child Care‘. Der Umgang mit Begriffen, die Klarheit der Gliederung, die Technik der Illustration durch Beispiele – das alles ist ausgezeichnet gemacht und zeugt davon, dass hier ganz bewusst ein Ratgeber nicht nur für Akademikerhaushalte entwickelt wurde. Dabei ist das Buch auch sehr schön und einladend anzusehen. Das Foto von dem Mädchen in dem Moment, da es von der Schaukel springt, ist eine wunderbare Illustration des Titels und besonders auch des Mut-Kapitels.
„Auf ins Leben!“ ist jetzt ein Hardcover des dgvt-Verlages. Hoffentlich interessiert sich auch bald ein Taschenbuchverlag dafür, damit es noch besser die Öffentlichkeit erreichen kann, für die es geschrieben wurde!
Fazit
Ein Erziehungsratgeber, mit dem eine aktuelle Psychotherapieschule ihr Denken für die Erziehung fruchtbar macht. Er ist orientiert an einer zeitgemäßen autoritativen Erziehung, geschrieben für nicht-professionelle Leser, sicher didaktisch etwas vereinfachend, aber in einer durchaus vertretbaren Weise und dabei ungemein anschaulich und praktisch.
Rezension von
Dr. Philipp Thaler
Pädagoge an der Frühförderung Kinderhilfe Treuchtlingen / Verein für Menschen mit Körperbehinderung Nürnberg e.V., in Ausbildung zum psychologischen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten am IVS in Fürth.
Mailformular
Prof. Dr. Carl Heese
Professur für Rehabilitation an der Ostbayerischen Technischen Hochschule Regensburg
Website
Mailformular
Es gibt 14 Rezensionen von Philipp Thaler.
Es gibt 37 Rezensionen von Carl Heese.