Davide Brocchi: Große Transformation im Quartier
Rezensiert von Carolin Herrmann, 28.02.2020
Davide Brocchi: Große Transformation im Quartier. Wie aus gelebter Demokratie Nachhaltigkeit wird. oekom Verlag (München) 2019. 211 Seiten. ISBN 978-3-96238-148-6. D: 28,00 EUR, A: 28,80 EUR.
Thema
Ausgangspunkt der Studie von Davide Brocchi ist die Feststellung, dass wir einen weltumspannenden Wandel (Erderwärmung, Artensterben, labile Volkswirtschaften, soziale Polarisierungen, Krise der Demokratie) durchlaufen, den es in Richtung zu mehr Nachhaltigkeit zu gestalten gilt. Der eingeleitete internationale Nachhaltigkeitsprozess ist ins Stocken geraten. Es rücken auch deshalb eher polyzentrische Ansätze und Bottom-up-Strategien in den Fokus. Brocchis Studie konzentriert sich auf Entwicklungen in urbanen Quartieren und dort auf die partizipative Gestaltung von Transformationsprozessen durch bürgerschaftliche Initiativen.
Autor
Davide Brocchi wurde 1969 in einem kleinen Dorf bei Rimini, Italien, geboren und lebt seit 1992 in Köln. Er gehört zu den Menschen, die sowohl wissenschaftlich arbeiten als auch eigene Projektideen in der Praxis erproben und umsetzen. Als Selbstständiger (https://davidebrocchi.eu/) übernimmt er Beratungsmandate und Projektleitungen. Sein bisher bekanntestes Projekt ist der „Tag des guten Lebens“ in Köln und hoffentlich bald in Berlin.
Aufbau
Die Studie gliedert sich grob in vier Teile: Theorie, Schilderung und Vergleich von sechs empirischen Beispielen in Köln, Wuppertal und Bonn sowie Empfehlungen bzw. Vorschläge für Quartiersinitiativen und Kommunalverwaltungen.
Inhalt
Theoretischer Hintergrund
Neoliberale Globalisierung konstatierend zeichnet Brocchi mit den Stichworten Segregation, Polarisierung und Konflikt nach, wie sich diese in Städten und Quartieren abbilden. In urbanen Quartieren zeigen sich Spannungsfelder und Spielräume für Nachhaltigkeitsprozesse, da der aktuelle Wandel nicht alle sozialen und physikalischen Räume erfasst. Ansatzpunkte für lokale Transformationen sieht Brocchi gemeinsam mit anderen in
- sozialen und räumlichen Nischen, die nicht „durchrationalisiert“ sind,
- der Ökonomie der Nähe (Paech 2012),
- der Rückkehr zum menschlichen Maß (Schumacher 1977)
- Vertrauen zwischen Menschen als zentralem Faktor von Wandel,
- Vielfalt als Fundament und
- räumlicher Nähe als Ausgangspunkt für Sinnlichkeit und Erfahrung von Selbstwirksamkeit.
Zu seinem Denken „vom Quartier her“ gehört für Brocchi auch die Vorstellung einer „Starken Demokratie“ (Barber 1984) und öffentliche Aufenthalts- und Begegnungsräume für Menschen im Quartier.
Fallbeispiele
Durch Interviews mit den Machern in 2017 erschließt Brocchi die nachfolgenden Fallbeispiele als Material für seinen Vergleich:
- Bürgerinitiative Helios (Köln-Ehrenfeld)
- Bürgerinitiative Viva Viktoria! (Bonn-Zentrum)
- Aufbruch am Arrenberg (Wuppertal-Arrenberg
- Tag des guten Lebens: Kölner Sonntag der Nachhaltigkeit (Köln-Ehrendfeld, Sülz und Deutz)
- Jack in the Box (Köln-Ehrenfeld)
- Utopiastadt (Wuppertal-Nordstadt)
Vergleichspunkte der Analyse sind Gemeinsamkeiten und Unterschiede der drei Städte und der sechs Quartiere, in denen die ausgewählten Initiativen aktiv sind bzw. waren. Natürlich stehen die Initiativen beim Vergleich im Mittelpunkt: Da geht es um Ziele und Motivationen (explizit und implizit), Strategien, Organisationsweisen, Kommunikation und Finanzen. Darüber hinaus fokussiert er auf die „Pioniere des Wandels“ und fragt nach biographischen, soziokulturellen und psychologischen Gemeinsamkeiten. Auch das Verhältnis der Initiativen zu externen Institutionen (Kommunen und Immobilieninvestoren) und Wirksamkeit sind Vergleichsgesichtspunkte, die zur Sprache kommen.
Ergebnis der Analyse sind u.a. Hinweise auf komplexe Herausforderungen, die die Arbeit der Initiativen kennzeichnen:
- Selbstbestimmung versus normative Vorgaben der Macher*innen
- Avantgarde der Nachhaltigkeit versus Vielfalt im Quartier
- Sozialkapital/unentgeltliche Arbeit versus Fördergelder/entgeltliche Arbeit
Empfehlungen für Quartiersinitiativen
Ausgehend von den Erfahrungen mit unbezahlter und bezahlter Arbeit schlägt Brocchi vor, dass Quartiersinitiativen sich in Bürgergenossenschaften umwandeln, um sich idealerweise eine eigene Ökonomie zu schaffen.
Um die je spezifische Begrenzung zu überwinden, empfiehlt Brocchi, dass sich die Quartiersinitiativen untereinander vernetzen, auch mit unkonventionellen Partnern, um auf diese Weise mehr Druck in Richtung nachhaltiger Transformation auf die Institutionen ausüben zu können.
Die Nachhaltigkeit des Erfolgs von Quartiersinitiativen sieht Brocchi vor allem dann, wenn möglichst viele Bürger*innen von passiven „Konsument*innen“ zu „Prosument*innen“ werden, die das gute Leben gemeinsam produzieren und gleichzeitig konsumieren.
Er appelliert an die Macher*innen im Quartier: Es gibt kein gutes Leben auf Kosten anderer, sondern nur ein gutes Leben für alle.
Und last but not least geht er so weit, zivilen Ungehorsam zu empfehlen, wenn Immobilieninvestoren sich nicht um die Anliegen der Menschen „vor Ort“ kümmern, sondern ausschließlich ihre eigenen Interessen vertreten.
Vorschläge für Kommunalverwaltungen
Aus den analysierten Erfahrungen der sechs Quartiersinitiativen ergeben sich eine Fülle von Vorschlägen für Kommunalverwaltungen: Da geht es um Orte zum gemeinsamen Lernen (Akademie für Nachbarschaftsarbeit) und selbstverwaltete Gemeinschaftsräume und/oder ökologische Gemeingüter wie „Urban Gardening-Plätze“ in jeder Nachbarschaft. Die Infrastruktur für lebenswerte Quartiere und ihre Kommunen erfordert eine radikale Neuausrichtung der Verkehrspolitik mit wachsender Infrastruktur für ÖPNV, Fahrrad und Fußgänger und Rückbau der Infrastruktur für den motorisierten Individualverkehr. Sehr wichtig ist für Brocchi auch die politische Ebene: Er plädiert für „Bürger*innenparlamente“ und Quartiersräte. Zur Kooperation zwischen Verwaltungen und Initiativen empfiehlt er gemischte Projektteams. Überhaupt sind ihm Nischen für Alternativen sowie Freiräume für kreative und ökologische „Wildnis“ wichtig, solidarische Wohn- und Bodenpolitik der Kommunen und die Förderung von Initiativen. Außerdem bringt er ein Grundeinkommen für Aktivisten der Transformation ins Gespräch.
Diskussion
Brocchi schlägt bewusst die Brücke zwischen Quartiersprojekten der Nachhaltigkeit zur Demokratiearbeit und deren Verankerung im Quartier. Weniger schreibt er zum Brückenschlag zur sozialen Arbeit, die sich in den letzten Jahren immer stärker auf den Sozialraum bezieht. Sozial benachteiligte und ausgegrenzte Menschen im Quartier werden von verschuldeten Kommunen nicht nach fachlichen Kriterien optimal unterstützt und beteiligt, vielmehr richtet sich Unterstützung und Beteiligung nach den finanziellen Spielräumen, die der Rat der jeweiligen Kommune erkennen kann. Dabei sind öffentliche Gemeinschaftsräume im Quartier, um nur einen Vorschlag herauszugreifen, sowohl für Projekte der sozialen Arbeit, der nachhaltigen Transformation und für Demokratiearbeit von ganz herausragender Bedeutung.
Der empirische Teil der Studie ist eine Fundgrube für reflektiertes Erfahrungswissen zu Transformationsprozessen im Quartier und deshalb sowohl für Aktivisten, politisch interessierte Menschen als auch für Wissenschaftler lesenswert.
Fazit
Mit seiner Studie „Große Transformation im Quartier“ wertet Davide Brocchi nicht nur eine Fülle von praktischen Erfahrungen von urbanen Quartiersinitiativen aus, sondern macht plausibel, warum Quartiere hervorragende Ausgangpunkte für demokratisch gestaltete Transformationen in Richtung einer größeren Nachhaltigkeit sind. Einerlei ob der/die Leser*in bereits Erfahrungen mit Initiativen im Quartier hat oder nicht, macht es Spaß, die Berichte zu lesen, gemeinsam mit dem Autor nachzudenken, seinen theoretischen Bezügen zu folgen und Neuland zu betreten. Sein Plädoyer für lokale Bottom-up-Initiativen ermutigt nachdem die globalen Top-down-Initiativen bisher nur so geringen Erfolg hatten.
Rezension von
Carolin Herrmann
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Zitiervorschlag
Carolin Herrmann. Rezension vom 28.02.2020 zu:
Davide Brocchi: Große Transformation im Quartier. Wie aus gelebter Demokratie Nachhaltigkeit wird. oekom Verlag
(München) 2019.
ISBN 978-3-96238-148-6.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/26545.php, Datum des Zugriffs 19.01.2025.
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