Michael Pohl: Coaching denkt weiter
Rezensiert von Peter Schröder, 14.05.2020

Michael Pohl: Coaching denkt weiter. Ideen, Konzepte und kreative Methoden. ISB-Verlag Medienhaus Waltrop (Waltrop) 2019. 172 Seiten. ISBN 978-3-936083-42-2. D: 24,90 EUR, A: 25,20 EUR, CH: 24,90 sFr.
Thema
Im Jahr 2001 erschien das Buch „Coaching mit System“ von Heinrich Fallner und Michael Pohl (Rezension https://www.socialnet.de/rezensionen/77.php). Es markierte den Weg des Formates Coaching aus den Businesskontexten in die Welt der sozialen Arbeit. Fallner und Pohl hatten in den Jahren zuvor Weiterbildungen konzipiert und durchgeführt und damit unter anderem auch die Gründung der Deutschen Gesellschaft für Coaching e.V. (DGfC) vorbereitet. In DGfC-zertifizierten Weiterbildungen galt „Coaching mit System“ lange als eines der Standardlehrbücher. Mittlerweile ist es in 4. Auflage erschienen, aber auch in die Jahre gekommen. Coaching ist ein Beratungsformat, das auf Entwicklung fokussiert, die Entwicklungschancen veröffentlichter Bücher sind aber sehr beschränkt. Besser also, man schreibt ein neues Buch. Das hat Michael Pohl getan – mit dem programmatischen Titel „Coaching denkt weiter“. Der Band öffnet die Perspektive und integriert neue Themen und Aspekte.
Autor
Michael Pohl ist Diplomsoziologe, Lehrsupervisor DGSv und Lehrcoach/​Seniorcoach DGfC. Er ist Mitgründer des „Coachingnetz Wissenschaft“ und arbeitet freiberuflich in eigener Praxis „pohlvision“ in Bielefeld. In den Jahren 1999 – 2008 hat er auch als Weiterbildner für Coaches und Mastercoaches gearbeitet. Er ist Ehrenmitglied der Deutschen Gesellschaft für Coaching.
Aufbau und Inhalt
Das Buch ist in fünf Kapitel gegliedert, und es beginnt mit einem Vorwort, das die Anknüpfung an „Coaching mit System“ markiert und dann betont: „Ziel des Buches ist es nicht, eine basale Einführung ins Coaching zu geben. Es richtet sich an Menschen, die bereits in der einen oder anderen Form mit Coaching zu tun haben“ (S. 9). Es folgt das erste Kapitel: 1. Wie Coaching wirkt – Theoretisches. Pohl vermeidet das leidige Abgrenzungsthema z.B. zu Supervision, zu Therapie, zu Training, fachlicher Beratung etc. und setzt stattdessen auf eine möglichst präzise Beschreibung des Formates Coaching. Daraus mag sich alles Weitere ergeben.
Die Kapitel sind jeweils in weitere Abschnitte gegliedert, hier 1.1. bis 1.8. In einem ersten Zugang beschreibt Pohl sein Verständnis des Formates Coaching. Da Coaching üblicherweise auf Veränderung zielt, ist es gut, sich zunächst in akzeptierender, wertschätzender Weise mit dem auseinanderzusetzen, was ist. Wer sich auf den Weg der Veränderung begibt, begegnet zunächst vor allem einem: der Verunsicherung. Eine der ersten Aufgaben von Coaching ist es also, das Gegenüber zum Vertrauen in den Prozess zu ermutigen. Das ist keine kleine und schon gar keine nebensächliche Aufgabe – mehr als einmal zitiert Pohl das Bild von Holger Wyrwa [1] vom Navigieren bei driftenden Inseln. Ein zielführender Umgang mit Unsicherheiten und Unwägbarkeiten ist nur eine Seite des Coachingprozesses, eine andere sind die stabilisierenden Elemente, zu denen nicht zuletzt die Haltung des Coaches gehört, denn „Haltung gibt Halt“ (S. 28). Auch dieses Thema taucht in dem Buch immer wieder auf. Die Bedeutung von „Resonanz“ im Coachingprozess wird nicht erst seit den Arbeiten von Hartmut Rosa diskutiert, der „Resonanzbericht“ taucht schon in frühen Konzepten von Fallner auf. Auch Pohl widmet dem Thema einen ausführlichen Abschnitt (1.5.). In Anlehnung am Watzlawicks Unterscheidung von „digitalen“ und „analogen“ Aspekten der Kommunikation hat sich im Coaching die Unterscheidung von „digitalen“ und „analogen“ Interventionsformen eingebürgert. Coaching braucht beides: eine präzise und zugleich anschauliche Sprache und analoge Methoden wie Bilder, Skulpturierungen, Figuren, Steinen etc., die gerade durch ihren „unpräzisen“ Bedeutungsüberschuss wirksam werden im Coachingprozess. Der siebte Abschnitt reflektiert „Qualifizierungswege und Qualitätsmerkmale“ im Coaching (S. 41ff), dabei u.a. auch die Bereiche des Lernens: Wissenslernen, Kompetenzlernen, Haltungslernen. Ein Merkmal qualitätsvoller Coachingqualifikation ist das Lehrcoaching – ein Metier, in dem auch Pohl über umfangreiche Erfahrungen verfügt.
Das zweite Kapitel ist überschrieben mit „Coaching aktiv – Praktisches“. Hier zeigt der Autor, wie er konkret im Coaching mit den oben beschriebenen Aspekten Präsenz, Resonanz, Prozessvertrauen, Haltung und Kreativität arbeitet. Der erste Abschnitt (2.1.) beschreibt die Struktur einer Coachingsequenz, im zweiten Abschnitt und seinen Unterabschnitten werden verschiedene Einstiegsmethoden vorgestellt, im dritten Abschnitt verschiedene im Coaching und in Weiterbildungen immer wieder nützliche Modelle wie die Wirkungsfelder (Rolle, Person, Aufgabe, Kontexte), das Interventionskreuz, die Räume der Veränderung und das Persönlichkeitsmodell der Transaktionsanalyse.
Das dritte Kapitel, „Coaching im Diskurs“, nimmt den Buchtitel wieder auf: Der Abschnitt 3.1. ist überschrieben mit „Weiter Denken“. Es beginnt mit einer Reflexion der Frage, wie „wissenschaftlich“ Coaching ist bzw. sein muss, und wird fortgesetzt mit dem Satz, der schon „Coaching mit System“ eröffnet: „Der Coach stiehlt, wo er kann“. Gut geklaut in diesem Sinn ist auch eine Methode, die ursprünglich Jochen Becker-Ebel vorgestellt hat: „Ohnmächtige Götter“. Eine Inspiration zum kreativen Weiterdenken sieht Pohl auch in Bob Dylan – er widmet auch ihm einen ausführlichen Abschnitt. Weiterdenken geschieht sinnvollerweise in die Richtungen aller Kontexte, so auch in Richtung Politik: „Ist Coaching politisch?“ fragt der fünfte Abschnitt des Kapitels. Das Zauberwort gegenwärtigen Coachings wird ein wenig entzaubert in dem Abschnitt „Alles systemisch oder was?“ Selbst wenn „systemisch“ reflektiert benutzt wird und nicht nur als werbewirksamer Aufkleber für die eigene Praxis, neigt der Begriff dazu, verdinglicht gebraucht zu werden – nach dem Motto: „Alles ist systemisch – außer das Systemische“. Insofern ist es ein erster hilfreicher Schritt, „das Systemische“ selbstreflexiv auf sich selbst zu beziehen, ein zweiter ist die Erweiterung oder Flankierung durch andere, ebenfalls praxiserprobte Konzepte. Mit 3.7. folgt eine Reflexion, die gerade jetzt, wo der Corona-Virus viele unmittelbare Begegnungen unmöglich macht, große Relevanz erhält: „Coaching und virtuelle Welten – Online-Beratung, New Work und 4.0“ (S. 116ff). Das dritte Kapitel wird abgeschlossen mit einigen Gedanken zu Teamentwicklung und Teamcoaching.
Das vierte Kapitel ist überschrieben mit „Coaches Little Helpers – Impulstexte, Materialien & Zitate“. Es bietet zum einen Impulstexte, z.B. für den Einstieg in Coachingsitzungen, Grundregeln für Coaches, eine angeleitete Meditation, eine Reflexion zum Thema „Driftende Inseln“, einige kurze Anmerkungen zu „Salutogenese“ sowie weitere Texte und Impulszitate.
Das abschließende fünfte Kapitel enthält Danksagungen, einen Hinweis auf gendergerechte Sprache, ein Literaturverzeichnis, den Nachweis der Illustrationen, eine Kurzbiographie des Autors sowie die Anmerkungen.
Diskussion
Wenn ein Coachingkonzept nicht weiterdenkt, hat es sozusagen „seinen Beruf verfehlt“. Die Coachingpraxis fokussiert auf Wahrnehmungserweiterung, Vermehrung der Handlungsoptionen, Anreicherung durch weitere, bisher nicht gesehene Perspektiven etc. Menschen erwerben in ihrer (persönlichen und beruflichen) Biographie ein Deutungs- und Handlungsrepertoire, das solange zielführend ist, bis sie einer Aufgabe begegnen, für die das Repertoire nicht ausreichend ist. Ein Coachingkonzept gibt Antworten auf Fragen, die sich in bestimmten Kontexten stellen. Wenn es gut geht, sind die Antworten nicht erschöpfend, aber hinreichend. Tauchen aber in der Fachdiskussion und/oder in der Praxis neue Fragestellungen auf, ist das alte Konzept möglicherweise nicht mehr hinreichend, sondern beginnt defizitär zu wirken. Dann kommt es darauf an, Coaching auch auf Coachingkonzepte zu beziehen, um neue Aspekte integrieren zu können. So lese ich das Buch von Pohl: als Wahrnehmungserweiterung und Anreicherung durch weitere Perspektiven und Deutungsfolien. Dabei handelt es sich nicht um eine „Abhandlung“, sondern eher um Gedanken, Gedankenanstöße, gelegentlich auch nur Gedankensplitter, aber eben dadurch um eine Einladung zum Weiter- und Selberdenken. Dass das Buch in verschiedener Hinsicht anders ist als die meisten anderen Publikationen zum Thema Coaching, lässt schon die Aufmachung vermuten: Ein quadratisches Format, Hochglanzpapier, viele und sorgsam ausgewählte Bilder, Zweispaltenformat, ein breiter Rand – das verheißt etwas anderes als die oft trockene Sachbuchkost.
Vieles finde ich plausibel und nützlich, anderes weniger. Aber ich bin nur ein Leser, mit eigenen Gewohnheiten und Vorlieben. Andere werden anderes schätzen und von mir Geschätztes beiseitelegen. Einig werden sich vermutlich die meisten sein, was die ersten beiden Kapitel betrifft: Sie bieten Coaches eine gute Anknüpfung an Bekanntes und denen, die sich erst einmal informieren möchten, eine gute Orientierung in einem komplexen Feld sowie einige methodische Zugänge. Das dritte Kapitel „Coaching im Diskurs“ wartet mit sehr unterschiedlichen Aspekten und Diskurspartnern auf. Man kann das als Vielfalt oder Reichtum erleben, aber auch als zusammenhanglos, und nicht jeder Diskurspartner ist einem gleich nah. Besonders stark finde ich Pohls Reflexion zum Thema „Alles systemisch oder was?“ In den Diskurs würde ich sofort einsteigen. Das Thema „Teamcoaching“ hingegen ist mit vier Seiten m.E. zu kurz, vielleicht hätte man es hier einfach auslassen können. Die kleine Sammlung von Impulstexten finde ich bei weitem inspirierender als die neun Seiten mit Impulszitaten. Aber noch einmal: Ich bin nur ein Leser, ich bin sicher, andere werden zu anderen Einschätzungen kommen.
Und genau darauf bin ich gespannt: Wie die Diskursimpulse des Buches in der Coaching-Community wirken werden, welche Denkprozesse, welche Diskussionen sie anstoßen werden, welche neue Denkrichtungen und -erweiterungen sie möglich machen werden. Ich werde das Buch als Literaturempfehlung mitnehmen in Coachingweiterbildungen und in kollegiale Austauschgruppen – und bin sehr sicher, dass es sich in vielen Kontexten als ein anregender, inspirierender und einladender Impuls erweisen wird. Das Buch von Pohl ist fertig – das Weiterdenken nicht!
Fazit
Ein in vielerlei Hinsicht kreatives Buch: in der Gestaltung, in der Wahl der behandelten Themen, in der Darstellung verschiedener Methoden, in ungewohnten Zugängen, in der Korrespondenz von Bildern und Texten. Das Eigentliche passiert nicht in den Zeilen und Buchstaben des Buches, sondern im Kopf der Lesenden, wenn sie bereit sind weiterzudenken. Insofern tritt man beim Lesen von Anfang bis zum Ende in einen bereichernden Dialog ein. Noch einmal: Eine entschiedene Leseempfehlung für Coaches und Weiterbildungsteilnehmende – und vermutlich auch über diesen Kreis hinaus!
[1] Holger Wyrwa, Supervision in der Postmoderne, in: Kersting/​Neumann-Wirsig (Hg.), Supervision in der Postmoderne. Aachen 1988.
Rezension von
Peter Schröder
Pfarrer i.R.
(Lehr-)Supervisor, Coach (DGSv)
Seniorcoach (DGfC) Systemischer Berater (SySt®)
Heilpraktiker für Psychotherapie (VFP)
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