Johannes Eurich, Dieter Kaufmann u.a. (Hrsg.): Ambivalenzen der Nächstenliebe
Rezensiert von Dipl.-Sozialpädagogin Iris Jänicke, 26.06.2020

Johannes Eurich, Dieter Kaufmann, Urs Keller, Gerhard Wegner (Hrsg.): Ambivalenzen der Nächstenliebe. Soziale Folgen der Reformation.
Evangelische Verlagsanstalt
(Leipzig) 2018.
239 Seiten.
ISBN 978-3-374-05692-7.
D: 34,00 EUR,
A: 35,00 EUR.
Reihe: Diakoniewissenschaftliches Institut: Veröffentlichungen des Diakoniewissenschaftlichen Instituts an der Universität Heidelberg - Band 60.
Thema
Welchen Einfluss hat die Reformation auf die Entwicklung und Gestaltung des modernen Sozialstaats? Sind Christen sozialer? Gehören Altruismus und Nächstenliebe zu den natürlichen und unausweichlichen Folgen der Reformation? In 14 Beiträgen von Historikern, Soziologen, Politologen und Theologen wird eine spannende Spur gelegt, ausgehend vom späten Mittelalter bis hin zur Gegenwart sozialer Praxis in diakonischen Organisationen.
Herausgeber
Prof. Dr. theol. Johannes Eurich ist Direktor des diakoniewissenschaftlichen Instituts der Universität Heidelberg. Oberkirchenrat Dieter Kaufmann ist Vorstandsvorsitzender des Diakonischen Werkes Württemberg. Oberkirchenrat Urs Keller ist Vorstandsvorsitzender des Diakonischen Werkes Baden. Prof. Dr. theol. Gerhard Wegner war bis 2019 Direktor des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD (Evangelische Kirche in Deutschland) in Hannover.
Entstehungshintergrund
Diese Veröffentlichung dokumentiert die Beiträge der Fachtagung „Religiöse Freiheit und Ambivalenzen der Liebe – soziale Folgen der Reformation“, die im Februar 2018 im Internationalen Wissenschaftsforum der Universität Heidelberg stattfand. Veranstalter waren das Diakoniewissenschaftliche Institut der Universität Heidelberg und das Sozialwissenschaftliche Institut der EKD in Kooperation mit dem Diakonischen Werk Baden und dem Diakonischen Werk Württemberg.
Aufbau
Der Band gliedert sich in drei Teile:
Im ersten Teil wird die historische Entwicklung der Armenfürsorge seit der vorreformatorischen mittelalterlichen Gesellschaft bis hin zu den Anfängen der Sozialpolitik in Deutschland im 19. Jahrhundert diskutiert.
Im zweiten Teil werden die Ressourcen diakonischen Handelns in der Gegenwart thematisiert. Im Mittelpunkt steht die Frage nach den Quellen von Nächstenliebe: Sind Christen sozialer?
Der dritte Teil bezieht sich auf die Praxis diakonischer Arbeit und geht der Frage nach, welche konkrete praktische Relevanz die reformatorischen Grundannahmen im Vollzug christlichen Hilfehandelns in einer pluralisierten Gesellschaft heutzutage noch haben.
Inhalt
Der Band versammelt folgende Beiträge:
Christoph Strohm: „Luthers Freiheitsschrift. Anlass, Inhalt und Wirkung“ (S. 19–35). In Luthers Schrift aus dem Jahr 1520 wird der Zusammenhang hergestellt zwischen der Rechtfertigung des Menschen durch den Glauben an Gott und der Liebe zum Nächsten. Nicht aus der Hoffnung auf himmlische Belohnung heraus sondern aus der Erfahrung der Liebe Gottes ist der Mensch seinerseits befreit zur Nächstenliebe. Strohm beleuchtet die Lutherschrift aus dem historischen Zusammenhang, zeigt die paulinischen und mystischen Sprachmittel auf und würdigt – alles in der gebotenen Kürze – verschiedene Facetten der theologischen Wirkung/Kritik des Freiheitsgedankens.
Bernhard Schneider: „Gute Arme – schlechte Arme. Armut und Armenfürsorge im ausgehenden Mittelalter“ (S. 37–62). Armenfürsorge gab es schon vor Luther. Die vorreformatorischen sozialen Leistungen waren, so Schneider, effektiver als ihr Ruf. Dies gerate heutzutage all zu leicht aus dem Blick. Die religiöse Motivation des Almosengebens (Gutes tun, um Gott gnädig zu stimmen) bewirkte immerhin das Überleben vieler Armer. Nicht überall habe sich im Nachgang der Reformation deren Lage verbessert. Schneider untermauert seine Thesen mit einer Fülle von Beispielen.
Philip S. Gorski: „‚Verfleißigung‘. Reformation als Durchsetzung von Disziplin und Effizienz“ (S. 63–76). Soziale Disziplinierung der Armen wird hier als Folge obrigkeitlicher Armenfürsorge und der Erziehung von Almosenempfängern zu produktiven Bürgern beschrieben. Dabei wird nicht nur die Differenz zwischen katholischen und protestantischen, sondern auch zwischen lutherischen und reformierten Territorien aufgezeigt.
Hans-Richard Reuter: „Der Protestantismus und die Anfänge der Sozialpolitik in Deutschland“ (S. 79–94). In drei Schritten skizziert Reuter zunächst wichtige protestantische Positionen des 19.Jahrhunderts, stellt deren ideengeschichtlichen Traditionen dar und benennt schließlich die Legitimation der daraus entstandenen sozialpolitischen Impulse.
Gerhard Wegner: „Luthers Freiheitsschrift als Ideologie“ (S. 95–122). Der Beitrag geht der Frage nach, ob Luthers „kaum noch zu überbietende gewaltige Vision eines selbstlosen sozialen Handelns als Folge des christlichen Glaubens“ (S. 100) mit ihrem Ursprung in der mittelalterlichen Christusmystik tatsächlich zu Altruismus und Großzügigkeit beim einzelnen Christenmenschen führte. Nach Wegners Auffassung ist dies wirkungsgeschichtlich nicht feststellbar, im Gegenteil, der Protestantismus habe ganz neue Formen der Selbst- und Fremddisziplinierung hervorgebracht. Spontane Nächstenliebe könne folglich nur in der Bindung an eine dritte, transzendente Größe – an Christus selber – resultieren.
Frank Nullmeier: „Die starke Normativität der Nächstenliebe“ (S. 123–136). Im Normalfall erscheine es, so der Autor, heutzutage nicht mehr möglich, Nächstenliebe im Sinne Luthers zu realisieren, weder im individuellen Handeln noch im Bereich sozialer Dienste. Unter Rückgriff auf Schriften von Emile Durkheim, Jürgen Habermas und Hans Joas zeigt er aber auf, dass die „Überführung von individuellen Efferveszenzen in eine kollektive Erfahrung des gemeinsamen Füreinandereinstehens“ (S. 135) möglich und wahrscheinlich sei. In professionellen Kontexten sei es schon ein hinreichend hoher Anspruch, eine starke Kultur von Zugewandtheit und Wertschätzung zu kultivieren.
Gert Pickel: „Sind Christen sozialer?“ (S. 137–154). Aufgrund der Auswertung empirischer Daten u.a. aus der V. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung kann Pickel diese Frage eindeutig bejahen, allerdings nicht in dem normativen Sinne, dass Christen die besseren Menschen seien. Die Religionsausübung in kirchlichen Kontexten geschehe in sozialen Gruppen. Nicht eine ausschließlich altruistische Gesinnung bewirke prosoziales Handeln, sondern ebenso die eigene Nutzenerwartung wie etwa Zufriedenheit und soziale Anerkennung. Da Kirchen „gute Gelegenheitsstrukturen für soziale Vergemeinschaftung“ zur Verfügung stellen, entstehe Sozialkapital und ein natürlicher Ort für Solidarität.
Christel Kumbruck: „Berufung und Beruf in sozialen Diensten“ (S. 155–176). Auf dem Hintergrund des hohen Stellenwertes, den Luther jeglichem Beruf (als Berufung) zugewiesen hat, hinterfragt Kumbruck die reale Berufserfahrung von Pflegern und Pflegerinnen unter ökonomischem Diktat. Sie stellt Ergebnisse verschiedener empirischer Untersuchungen zur subjektiven Wahrnehmung von Beruf und Berufung Pflegender dar und verweist auf mögliche Lösungen zur Verbesserung der Arbeitssituation von Pflegenden.
Anika Christina Albert/Johannes Eurich: „Netzwerkbasierte Solidarität und ihr Bezug zum Gemeinwohl“ (S. 177–200). Solidarität sei nicht gleich Nächstenliebe oder Altruismus, wird in diesem Beitrag festgestellt, könne aber entstehen, wenn die Bedingungen für Kooperation und Reziprozität geschaffen würden. Hierbei komme dem religiösen Sozialkapital eine wichtige Rolle zu als besondere Ressource für gelebte Solidarität.
Dieter Kaufmann: „Was bedeutet Rechtfertigung für die diakonische Praxis?“ (S. 210–208). Kaufmann ist der Überzeugung, dass die Luthers Rechtfertigungslehre im Verbund mit seiner zwei-Reiche-Lehre hohe Relevanz für die heutige Praxis und Mitarbeiterführung in diakonischen Einrichtungen habe und untermauert seine Thesen mit verschiedenen Praxisbeispielen.
Jochen Kunath/Michael Werner/Matthias Schärr/Martin Holler: „Vom Reichtum der Gnade“ (S. 209–2010). Die vier Autoren sind Leitende diakonischer Unternehmen. Sie formulieren kurz und knapp vier Thesen zur praktischen Relevanz der Rechtfertigungslehre.
Martin Holler/Joachim Rückle/Tobias Staib: „Damit drin ist, was draufsteht“ (S. 211–214). In diesem Beitrag werden die Ergebnisse der Arbeitsgruppen der Tagung zusammengefasst. Es werden einige aus Sicht der Teilnehmenden wichtige Umsetzungsbedingungen beschrieben, die diakonisches Handeln als christliches Handeln erkennbar machen.
Loring Sittler: „Zur Zukunft des Altruismus“ (S. 215–226). Nach Sittler ist die Gemeinschaftsbezogenheit des Menschen ein Wesensmerkmal nicht nur des Christenmenschen, sondern diese entspräche allgemein der menschlichen Natur. So könne der Antagonismus von Egoismus versus Altruismus aufgehoben werden. Luthers Freiheitsschrift ziele auf Verantwortung ab: Verantwortung für das Gemeinwesen, für ehrenamtliches Engagement und Kooperation im Quartier. Zur Veranschaulichung beschreibt er drei Beispiele preisgekrönter bürgerschaftlicher Gemeinschaftsinitiativen.
Ulrich Lilie im Gespräch mit Andreas Schröer: „Ist Nächstenliebe 2030 noch relevant?“ (S. 227–235). Nach Auffassung des Präsidenten der Diakonie Deutschland ist Nächstenliebe eine „gesellschaftlich relevante Kraft“ (S. 235). Sie könne wirksam werden, wenn der Programmbegriff „Kirche und Diakonie mit anderen“ als Konzept sozialräumlicher Orientierung profiliert entwickelt werde.
Diskussion
Das 500jährige Reformationsjubiläum konnte hohe mediale Aufmerksamkeit entfalten. Der historische Fokus lag dabei auf den religiösen, kulturellen und politischen Konsequenzen aus dem Umbruch vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit. Die hier vorliegende Veröffentlichung beschäftigt sich dagegen mit explizit diakonischen Themen: Warum kümmern wir uns als Gesellschaft, als Kirche, als Individuen um „die Armen“? Welcher Motivationsstrang zieht sich durch die Jahrhunderte? Wie ambivalent kann „Nächstenliebe“ sein? Hochkarätige Wissenschaftler*innen und theologische Praktiker*innen haben hierzu eine Fülle an Fakten, Ideen, stringenten Gedankengängen zusammengetragen, die in dieser Prägnanz ihresgleichen suchen. Trotz Gendersternchen im vorigen Satz: Leider sind in dieser Veröffentlichung nur 2 Autorinnen gegenüber 18 Autoren mit ihren Beiträgen vertreten. Dieses Missverhältnis ist ärgerlich, weiß man doch, dass die tätige Nächstenliebe (z.B. mit 78 % Frauenanteil bei den Beschäftigten der Diakonie) im Wesentlichen eine weibliche Domäne ist. Auch 500 Jahre nach Luther gehört auch dies immer noch – wenn auch nicht in dieser Veröffentlichung erwähnt – zu den Ambivalenzen der Nächstenliebe.
Fazit
Dieser Band bietet eine Fülle von Sichtweisen und Aspekten rund um diesen beinahe altbacken – poetisch anmutenden Begriff „Nächstenliebe“. Wie aktuell, wie brisant und wie politisch dieser Begriff aber gedeutet werden kann und muss, wird hier schnell deutlich. Für diakonische Praktiker*innen ist das Buch absolut lesenswert, denn auch heute noch kann die Reflektion über kirchlich – soziale Praxis besondere Tiefe erlangen, wenn sie sich mit den Schriften der Reformation beschäftigt. Der Gewinn ist weitaus größer als die rein akademische Beschäftigung mit den eigenen Wurzeln und Entstehensbedingungen. Mitarbeitende in den sozialen Einrichtungen haben ein Recht darauf, dass Antworten gefunden werden auf die Frage: Wie kann Nächstenliebe unter ökonomisierten Bedingungen funktionieren? Dazu wird hier reichlich und fundiert Lesestoff geboten.
Rezension von
Dipl.-Sozialpädagogin Iris Jänicke
Dipl. Sozialpädagogin, Diakoniemanagement M.A., Geschäftsführerin des Diakonischen Werkes Lüdenscheid-Plettenberg
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Zitiervorschlag
Iris Jänicke. Rezension vom 26.06.2020 zu:
Johannes Eurich, Dieter Kaufmann, Urs Keller, Gerhard Wegner (Hrsg.): Ambivalenzen der Nächstenliebe. Soziale Folgen der Reformation. Evangelische Verlagsanstalt
(Leipzig) 2018.
ISBN 978-3-374-05692-7.
Reihe: Diakoniewissenschaftliches Institut: Veröffentlichungen des Diakoniewissenschaftlichen Instituts an der Universität Heidelberg - Band 60.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/26564.php, Datum des Zugriffs 07.06.2023.
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