Philipp Ther: Das andere Ende der Geschichte
Rezensiert von Prof. Dr. Gertrud Hardtmann, 31.03.2020

Philipp Ther: Das andere Ende der Geschichte. über die Große Transformation.
Suhrkamp Verlag
(Berlin) 2019.
198 Seiten.
ISBN 978-3-518-12744-5.
D: 16,00 EUR,
A: 16,50 EUR,
CH: 23,50 sFr.
Reihe: Edition Suhrkamp - 2744.
Thema
Die großen gesellschaftlichen Transformationen östlich und westlich des Eisernen Vorhangs, die Liberalisierung der Ökonomien und die damit verbundene wachsende Verunsicherung.
Autor
Philipp Ther ist Professor am Institut für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien. Veröffentlichungen: ‚Die neue Ordnung auf dem alten Kontinen. Eine Geschichte des neoliberalen Europa‘ und ‚Die Außenseiter. Flucht, Flüchtlinge und Integration in Europa‘.
Entstehungshintergrund
Die wirtschaftspolitischen Irrwege seit der Wiedervereinigung (von der Treuhand bis Hartz IV) sind Anlass für diese Analyse von Fehlentwicklungen und deren Ursachen und Folgen, u.a. Bezug nehmend auf das Buch von Karl Polanyi ‚The Great Transformation‘.
Aufbau
Der Aufbau des Titels gliedert sich in die sechs nachfolgenden Kapitel:
- Neoliberalismus, Illiberalismus und Große Transformationen werden in Anlehnung an Karl Polanyi vorgestellt und die Entwicklungen seit 1989 analysiert.
- Den Frieden verloren. Die USA nach dem Kalten Krieg.
- Der Preis der Einheit. Die Transformation der Bundesrepublik nach 1989.
- Crisi. Der Abstieg Italiens als Menetekel Europas.
- Der Westen, Russland und die Türkei: Geschichte einer Entfremdung.
- Nachwort: die polanyische Pendelbewegung nach rechts. Hat die USA nach dem Kalten Krieg den Frieden verloren?
Inhalt
Neoliberalismus, Illiberalismus und die Große Transformation nach Karl Polanyi
Nach der Wahl von Trump im November 2016 kursierte in USA eine neue Krankheit mit den Symptomen: Paranoia, Hypervigilanz, Angst, Intrusionen, Depressionen, somatische Beschwerden, Alpträumen, Konzentrations- und Schlafstörungen, die ‚Trump Anxiety Disorder‘.
Die Ursache? Viele Amerikaner erkrankten, weil sie die politischen Verhältnisse nicht mehr ertragen konnten oder weil sich an den behaupteten und realen Missständen nichts änderte. Ist die Abwendung von Politik das Ziel von Trump und von Rechtspopulisten? Wie kommt es, dass eine Demokratie regiert wird von einem, der täglich Unwahrheiten, Eitelkeiten und Beleidigungen von sich gibt? Verdankt er seinen Erfolg sich selbst oder der Schwäche der Konkurrenz? Was ist geschehen seit 1989? Die Engländer votierten für den Brexit, die Amerikaner wählten Trump und die Italiener stimmten gegen den letzten Versuch ihren maroden Staat zu reformieren. Der wachsende Wohlstand in Deutschland hat Probleme der neunziger Jahre in den Hintergrund gerückt, die jetzt durch die Wahlerfolge der AfD offenkundig werden. Rechtspopulisten regieren inzwischen in vielen Ländern, in Ost und West. War die Wahl von Trump nur der Endpunkt einer längeren Entwicklung, von schrankenlos freier Marktwirtschaft und liberaler Demokratie?
Im Jahr 1944 erschien das Buch von Karl Polanyi ‚The Great Transformation‘, in Erinnerung an den Börsencrash 1929. Darin geht es um eine Begrenzung des Marktes (‚eingebetteter Kapitalismus‘). Polanyi konzentrierte sich als ‚revisionistischer Marxist‘ auf ökonomische Verwerfungen, die zum Ausbruch des 1. Weltkrieges, zur Weltwirtschaftskrise und zum Faschismus geführt haben, und auf die Dialektik des freien Marktes und das Schutzbedürfnis der Gesellschaft. Schutz gegen den freien Markt waren im 19. Jahrhundert die Arbeiterbewegung und die Gewerkschaften. In der Zwischenkriegszeit seien die Gewinner und Verlierer zum Freihandelssystem und Goldstandard im internationalen Währungssystem zurückgekehrt, mit der Folge der großen Depression, des Zusammenbruchs des liberalen Weltwirtschaftssystems, der Zerstörung sozialer Gemeinschaften (Verlust menschlicher Grundbedürfnisse).
Nach dem zweiten Weltkrieg kam es zu einer Entwicklung zum Sozialstaat und einer stärkeren Regulierung der Wirtschaft, wobei in Deutschland die Systemkonkurrenz Ost/West zusätzlich eine Rolle spielte. In den 70er Jahren folgten erste Sparmaßnahmen und Zweifel an der Steuerungsfähigkeit des Staates. In Chile fand eine umfassende Privatisierung, Liberalisierung und Deregulierung statt und in den 80ern zunehmend ein Laissez-faire-Kapitalismus und eine Austeritätspolitik. In den ehemaligen Ostblockländern war zunächst eine Rezession, dann eine Erholung durch Produktionsverlagerungen, da Investoren von dem relativ hohen Bildungsniveau profitierten, zu beobachten.
Nach einer Entflechtung von Staat und Wirtschaft ging es in der ehemaligen DDR auch um staatliche Kernkompetenzen wie Altersvorsorge, Gesundheits- und Bildungswesen. Das Wachstum war sehr ungleich verteilt, Dörfer, Kleinstädte und, ehemalige Industriestandorte fielen zurück, und die Schere zwischen arm und reich vergrößerte sich. Obwohl sich die Ausstattung mit Konsumgütern in den Ostblockländern insgesamt verbesserte, gab es Arbeitslosigkeit, soziale Probleme und Verunsicherung. Auch entstand ab 2006 eine ‚Osteuropablase‘, deren Rettungspakete an soziale Einschnitte gebunden waren und eine Emigrationswelle produzierten, die in Großbritannien zu einer Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt führte.
Wie das British Empire im späten 19. Jahrhundert durch das Deutsche Reich unter Druck geriet, so heute die USA durch China. Die Praxis des Laissez-faire ist keinesfalls naturwüchsig, sondern von Menschen gemacht, denen an einer Delegitimierung des Staates als übergeordneter am Gemeinwohl orientierter Instanz gelegen ist. Die Folge sind nicht nur ökonomische Probleme, sondern auch fehlende soziale Anerkennung, Menschenverachtung und Armutsdrohung. Die Bevölkerung reagierte auf die scheinbar alternativlosen (!) sozialen Einschnitte erst mit Wahlenthaltung, dann mit einer politischen Revolte in Gestalt von wachsendem Populismus in Ländern, die sich der Globalisierung geöffnet und ihre Sozialsysteme reduziert hatten.
Unter Politikwissenschaftlern wird diskutiert, inwieweit sich der Rechtspopulismus verschiedener Ideologien bedient. Ther sieht ein Bündel von Schutz- und Sicherheitsversprechen (vor Konkurrenz in der Wirtschaft und auf dem Arbeitsmarkt, vor Freihandel, Kriminalität, Terror und Verlust von traditionellen Werten). Die Mächtigen hingegen haben – wie Trump – ihre eigenen Geschäftsinteressen und setzen den Nationalismus gezielt zur Ablenkung von eigenen Problemen ein.
Den Frieden verloren. Die USA nach dem Kalten Krieg
Mit Präsident George Bush wurde ein gemäßigter Konservatismus zu Grabe getragen. Clinton verbreitete eine Aufbruchsstimmung, denn er war volksnah und weckte Hoffnungen. Ein Vierteljahrhundert später ist ein Zerfall der westlichen Werte- und Staatengemeinschaft zu beobachten. Die These von Francis Fukuyama, dass es keine Alternative zur liberalen Demokratie und freien Marktwirtschaft gebe, erwies sich als Irrglaube.
Unter Clinton hatten die Demokraten viele Reformprojekte verfolgt, doch waren weder die Industriearbeiter, noch das Dienstleistungsproletariat, in Washington angemessen repräsentiert. Auch die Linke hatte die Sprache der Unterschichten verlernt, da ihre Vertreter meist von der Universität kamen und nicht aus der Arbeiterklasse. 1994 errangen die Republikaner und Anhänger des Neoliberalismus die Mehrheit im Repräsentantenhaus. 1996 sprach der Publizist Pat Buchanan von ‚Umvolkung‘, und rechtsnationalistische Parteien bildeten sich in Frankreich, Belgien, Italien und Österreich. Einschnitte im Asylrecht und bei der Einwanderung wurden diskutiert.
Die 90er Jahre unter Clinton bedeuteten für viele Staaten in USA einen Aufschwung, nicht aber für die alten Industriegebiete. Viele verloren ihre Arbeitsplätze durch die Konkurrenz aus dem Ausland. Mit einer aktiven Sozialpolitik hätte man die negativen Folgen der Globalisierung lindern können. Doch kamen Sozialreformen vor allem der Mittelklasse zugute. Steuergeschenke verminderten die Staatseinnahmen, und der Schulterschluss mit den Börsen bestärkte die Tendenz zur Mitte. Vom Boom der 90er Jahre hatte die Arbeiterklasse nicht profitiert; sie blieb den Wahlen fern oder wählte nicht mehr demokratisch. Auch in Deutschland führten Einschnitte in den Sozialstaat (Hartz IV) dazu, dass die Sozialdemokraten sich den Konservativen annäherten.
Trump gab vor, die Interessen der Arbeiter zu vertreten, obgleich er die Staatskasse zugunsten der Reichen plünderte. Das Budgetdefizit wächst seitdem. Das Platzen der Immobilienblase traf vor allem die untere Mittelklasse, die auch von der wirtschaftlichen Erholung nicht profitierte. Ihr Zorn richtete sich gegen die Regierung, nicht aber gegen die Konzerne, denen Trump durch seine Steuerreform noch zusätzliche Einnahmen verschaffte, die aber nicht zu Investitionen genutzt wurden.
Politisch sind die Flüchtlinge in USA wie in Europa eine Personifikation der Globalisierung; gleichzeitig ist das ‚Kapital‘ anonym. Linkes Profil wird in den USA als ‚sozialistisch‘ diffamiert. Die Hochburgen der Demokraten leiden besonders unter sozialen Problemen; die Zahl der Wohnungslosen aller Altersgruppen nimmt zu und gegen Monopole (Amazon) wird nichts getan. Junge Familien können sich kaum noch ein Eigenheim oder eine Wohnung leisten. Die Herkunft entscheidet meist über den Aufstieg. Kann man tatsächlich alle menschlichen Grundbedürfnisse dem Markt überlassen?
Der Preis der Einheit. Die Transformation der Bundesrepublik 1989
30 Jahre nach der Wiedervereinigung ist es an der Zeit, die damals getroffenen politischen Entscheidungen und ihre Folgen noch einmal zu überdenken. Marcus Böick (2018) hat die Erwartungen und Fehlentscheidungen der Treuhand untersucht: Eine rasche Angleichung an den Westen wurde angestrebt. Bis heute können jedoch die ostdeutschen Länder nicht auf eigenen Füssen stehen. Die Wiedervereinigung wurde nicht nach Artikel 146 des Grundgesetzes, sondern nach Artikel 23 als »Beitritt« der fünf »neuen Länder« vollzogen. Die DDR war seinerzeit ökonomisch am Ende; die ohnehin niedrigen Löhne und Gehälter wurden nach der Wiedervereinigung weiter entwertet. Die Bundesbank warnte vor einer zu starken Aufwertung der Ostmark (1: 1), weil das der wirtschaftlichen Leistungskraft nicht entsprach; mit einer verbilligten Währung hätte man den Export ankurbeln, die Großbetriebe retten und die Arbeitslosigkeit bekämpfen können. Der Währungsunion folgte als zweiter Schock die rasche Liberalisierung des Außenhandels; es entstand ein Konkurrenzdruck, dem die ostdeutsche Wirtschaft nicht gewachsen war. Für westdeutsche Unternehmen hingegen war die ehemalige DDR ein lukrativer Absatzmarkt. Der Ausverkauf der Betriebe ließ die Preise sinken und führte meist zur Einstellung der Produktion.
Trotz sozialer Abfederung und Transferzahlungen zogen in den 90er Jahren 2 Millionen Menschen – meist jung oder mittleren Alters – in den Westen. In den Abwanderungsgebieten verarmte die Bevölkerung. Alternativlos war diese Politik nicht.
Allerdings ist der Sieg der AfD nicht allein den ‚Transformationsverlierern‘ zuzuschreiben. Andere Gründe waren die schwache Bindung an die Linke und eine Verunsicherung auch in der Mittelklasse. Man hätte, wie in Polen und Tschechien, auch einige Betriebe unter staatlicher Regie weiterführen können. Alternativlos war allerdings die Liberalisierung des Außenhandels. Viele wagten den Sprung in die Selbstständigkeit auch bei fehlende Kapitalreserven. Staatsdiener wiederum bekamen einen spürbaren Gehaltszuwachs, das galt auch für Westdeutsche, die mit Zulagen in den Osten geschickt wurden. Die Mischung von fehlenden Visionen und nationaler Selbstbezogenheit führte zu einem Einbruch der Industrieproduktion bis Mitte der 90er Jahre und zu einer Überforderung des Bundeshaushalts und der Sozialversicherungen, die für Transferleistungen aufkommen mussten. Das ‚Bündnis für Arbeit‘ unter Gerhard Schröder führte zu einer Lohnzurückhaltung und einem Arbeitsplatzerhalt, was die deutsche Industrie wieder wettbewerbsfähiger machte; stagnierende Reallöhne weckten jedoch auch Aggressionen.
Die von Ostdeutschland ausgehende Transformation traf auch die Bundesrepublik (Hartz IV, Teilprivatisierung des Arbeitsmarktes, Gesundheitsabgaben, Beschneidung der Sozialleistungen) und führte zu einer wachsenden sozialen Ungleichheit. Die derzeitige Wirtschaftsordnung begünstigt gut aufgestellte Regionen und Gruppen und benachteiligt die weniger guten. Trotz der Geldzuflüsse erwirtschafteten die neuen Bundesländer 25 Jahre nach der Einheit nur 2/3 des Bruttoinlandproduktes pro Kopf.
Die massive Verunsicherung führte in der Bevölkerung zur Ablehnung von Flüchtlingen im Hinblick auf Sozialleistungen (welfare chauvinismus), wobei auch Ängste eine Rolle spielten. Nach Polanyi werden Entbehrungen auch dann nicht vergessen, wenn es den Leuten besser geht; so blieben Ängste vor einem sozialen Abstieg und ein Protest durch die Wahl der AfD.
La Crisi. Der Abstieg Italiens als Menetekel Europas
Italien ist ein Musterbeispiel, wie populistische Politik ein Land in den Ruin treibt: am Beispiel des ‚Berlusconismo‘ (falsche Versprechungen, Ausschaltung der Konkurrenz, auch durch deren Schwäche, parteipolitisches und ideologisches Vakuum, Plünderung des Staates). Berlusconi übernahm 1994 eine florierende Volkswirtschaft (Olivetti, Fiat). Staatliche Unternehmen wurden seit 1991 zur Sanierung des Staatshaushalts privatisiert (Unternehmen und Banken, die in der staatlichen Industrieholding Iri organisiert waren). Trotz geringer Löhne wanderte in den 90ern immer mehr Produktion nach Osteuropa oder Ostasien ab. Durch eine Reduzierung der Gesamtverschuldung gelang es der Eurozone beizutreten. Der Linken fehlte es einer Vision und an gemeinsamen Projekten. Die Privatisierung führte zu Kartellen und Monopolen mit der Folge von Preiserhöhungen (Strom, Gas, Telefon). Berlusconi benutzte die Taktik des „power grabbing“ (Machtkonzentration) und bediente in Süditalien seine Wählerklientel; aber auch linke Stammwähler gingen zur zu Berlusconi über, dem auch Skandale nicht schadeten.
2008 traf die globale Krise Italien mit voller Wucht, das Sparpaket ging zu Lasten von Schulen und Universitäten. Die Außenstände des Staates nahmen zu (Insolvenzen und Verlust von Arbeitsplätzen); die Rezession dauerte an.
Berlusconi reduzierte das Niveau des öffentlich-rechtlichen Fernsehens radikal i.S. billiger Unterhaltung (mediale Volksverdummung). Die Zahl der Jugendlichen mit nur einem Pflichtschulabschluss und anschließender Arbeitslosigkeit stieg auf fast 40 %: die Abhängigkeit von den Eltern (‚mammoni‘) wuchs. Ein von den Linken durchgesetztes Bürger- und Grundeinkommen kam durch hohe Auflagen nur wenigen zugute. Die Kaufkraft sank zunehmend, und mit der Armut stieg die Perspektivlosigkeit und Emigration.
Während Schumpeter annahm, dass eine solche Krise in den Sozialismus führe, hielt Polanyi auch einen Faschismus für möglich. Nach Berlusconi sah es zunächst mit Renzi nach einer reformorientierten Sozialdemokratie aus, doch wurden seine Reformen abgelehnt, weil rasche Besserungen ausblieben und weil es zur Stagnation kam, durch die von der EU aufoktroyierte Schuldenbremse. Viele Italiener fühlen sich alleingelassen, auch mit dem Problem der vielen Flüchtlinge. Das polanyische Pendel hatte in Italien bereits mehrfach nach rechts und nicht nach links ausgeschlagen. Aufgrund der gemeinsamen Währung bestimmt die Entwicklung in Italien auch über die Zukunft der EU, deshalb ist eine konstruktive Lösung notwendig.
Der Westen, Rußland und die Türkei: Geschichte einer Entfremdung
Die Osmanen haben vom 15. Bis zum 18. Jahrhundert halb Europa in Angst und Schrecken versetzt. Aber es gab auch eine Waffenbrüderschaft zwischen Deutschland und dem osmanischen Reich (erste Weltkrieg) und keinen ‚Bruch mit der eigenen Geschichte‘ in der Türkei durch die Neutralität im 2. Weltkrieg.
Das türkische Militär stimmte 1946 dem Übergang zur Demokratie und später einem friedlichen Machtwechsel zu. Es putschte jedoch 1960 und 1971, und 1979 forderten Auseinandersetzungen zwischen Lins- und Rechtsextremisten mehr als 3000 Todesopfer. Das Militär stellte die Ordnung wieder her, ging aber brutal gegen Linksintellektuelle, kurdische Aktivisten und Oppositionelle vor. Die Bundesrepublik kündigte 1980 das Assoziierungsabkommen mit der EWG (freie Niederlassung für türkische Staatsbürger in der EG). Man wollte ursprünglich mit dem Abkommen die Türkei stärker an den Westen binden. 2016 ergab sich durch das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei erneut eine Annäherung, aber keine Abschaffung der Visumpflicht.
Die Hoffnung, dass sich Russland und die Türkei in liberale Demokratien und freie Marktwirtschaften verwandeln würden, schlug fehl. Beide gehen inzwischen eigene Wege und benutzen innenpolitisch den Westen als Feindbild. Obwohl sich der aggressive Nationalismus nicht ‚rechnet‘, ist er ein Pflaster für verletzte Eitelkeiten und Komplexe. Eine Abgrenzung gibt es auch in der Bundesrepublik (obwohl mindestens 5 Millionen Einwohner von dort kommen und ein Teil eine doppelte Staatsbürgershaft besitzt).
Seit dem 19. Jahrhundert gab es in Russland eine Ausrichtung auf Europa, die auch den Kalten Krieg überstand. Das hat sich seit Putin zugunsten Eurasien verändert.
Die Zugehörigkeit der Türkei zu Europa ist jedoch fraglicher: Die Belagerungen von Wien 1529 und 1683, die Expansion des osmanischen Reiches nach Nordosten (sogar Gebiete von Polen) und die Küsten des Schwarzen Meeres, bildete zwar ein großes europäisches Imperium, doch schrumpfte das osmanische Reich nach der Niederlage 1683 sukzessiv, obwohl es bis 1878 einer der größten Flächenstaaten in Europas blieb. Ein reger kultureller Austausch fand statt, doch verhinderte der konfessionelle Gegensatz dynastische Verbindungen.
Nach dem ersten Weltkrieg gehörte das osmanische Reich zu den Verliererstaaten. Unter dem Kommando von Kemal Pascha/Atatürk besiegte die osmanische Armee 1919 die griechische Armee, und es kam zur Vertreibung und Zwangsaussiedlung aller Christen aus Anatolien und zum Genozid an den Armeniern, was „den Türken“ fälschlicherweise kollektiv vorgeworfen wurde; Türken/Muslime wurden auch aus anderen Staaten vertrieben. Sowohl in Rußland als auch in der Türkei kam es nach 1900 zu Revolutionen: Oktoberrevolution 1917 in Rußland, Republik der Türkei 1923 (eine ‚Entwicklungsdiktatur‘ mit Reformen wie die Abschaffung des Kalifats, Reform der Schrift und der Bekleidungsvorschriften, Gleichberechtigung der Frauen durch kommunal aktives und passives Wahlrecht 1930, national 1934). Es folgte eine stärkere Anbindung der Türkei an den Westen (Marshallplan, Beitritt zur Nato, Assoziierungsabkommen mit der EWG). Letzeres weckte Hoffnungen, die enttäuscht wurden.
Der Rückzug der Türkei hatte starke innenpolitische Folgen: In Deutschland wurde die Eingliederung von Türken erschwert durch die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt, die mangelnde soziale Durchlässigkeit des Bildungssystems und einen kulturellen Rassismus mit entsprechenden Diskriminierungen.
Der größte Teil Rußlands liegt (im Gegensatz zur Türkei) in Asien und lässt sich kaum in eine europäische Ordnung integrieren. Der Zerfall des sowjetischen Imperiums nach 1989 wurde als Niederlage erlebt und die Transformationen stürzten einen großen Teil der Bevölkerung in Not und Elend, woran die eigenen Eliten, und auch der Alkohol, schuld waren. Der Staatszerfall unterstützte kriminelle Machenschaften, deren Akteure aber in westlichen Ländern willkommen waren. Dennoch gab es bis 1999 Annäherungsversuche. Mit der Nato-Erweiterung kam es zu einer Provokation der russischen Föderation, die Putin für seine Zwecke ausnutzte.
Das Modell der ‚Geopolitik‘ bedeutet ein ständig notwendiger und gerechtfertigter Machtkampf um Ressourcen und Eínflusssphären. So nutzte Putin auch die Revolution in der Ukraine 2014 zur Annexion der Krim und zur Intervention in Donbas. Weil er den Krieg in das Land trug, konnte es nicht in die Nato aufgenommen werden. Dennoch ist die Frage, warum es nicht gelungen ist, Rußland stärker in das westliche Bündnis zu integrieren und in die Sicherheitssysteme einzubinden. Die Aufstellung von Interkontinentalraketen hat nicht zur Vertrauensbildung beigetragen.
Kann man seitdem Annexion der Krim von einen neuen Kalten Krieg sprechen? Das Konzept der ‚EU-Nachbarschaftspolitik‘ erwies sich als unrealistisch. Auch die von Schweden und Polen 2008 entwickelte „Östliche Partnerschaft“ verstärkte eher die russischen Einkreisungsängste. Könnte man die Anbindung an die EU nicht von der Nato-Mitgliedschaft trennen? Die Bundesrepublik ist gespalten: wegen der Ukraine und der Krim verhängte sie Sanktionen gegen Rußland, förderte aber andererseits die Pipeline Nord Stream 2. Offensichtlich geht es um Macht und wirtschaftliche Vorteile, – und nicht um Werte.
Putin hat seit 2007 mit seiner neoimperialen Politik viel erreicht: Die Russische Föderation ist wieder Weltmacht geworden durch die Intervention in Syrien, den Stopp der Erweiterung der Nato und die Annexion der Krim. In der Ukraine hat Putin jedoch verloren (keine mehrheitsfähige prorussische Partei, Abspaltung der ukrainischen orthodoxen Kirche vom Patriarchat in Moskau) und nach wie vor ist sein Umgang mit politischen Gegnern und die Unterwanderung der Demokratie ein Problem.
Auch in der Türkei führt die Fixierung auf die Person Erdogan ebenso wenig weiter. Ein Kalter Krieg kann in Niemandes Interesse sein, die wirtschaftlichen und politischen Abhängigkeiten sind zu groß. Russland und die Türkei sind mit großen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Problemen konfrontiert. In der Türkei hat die Lira stark an Wert verloren, und die Inflation steigt. Die Reisefreiheit ermöglicht Türken und Russen, sich selbst ein Bild zu machen. Begegnungen/​Jugendaustausch/​Partnerschaften überwinden die Feindschaft, wie das Beispiel Deutschland und Frankreich/​Polen zeigt. Russland und die Türkei sind inzwischen zwar stärker in die Weltwirtschaft integriert, der wirtschaftlichen Integration ist jedoch keine politische Annäherung gefolgt. Es ist damit zu rechnen, dass allein schon ökonomische Gründe zu einer Annäherung führen. Eine nationalistische Rhetorik und Außenpolitik wird in Russland fortgesetzt, wobei Russland tatsächlich eine militärische Großmacht ist, während der türkische Neo-Osmanismus ein Fantasieprodukt. 2015 prallten die Interessen der beiden Autokraten aufeinander und danach kam es immer wieder zu Entzweiung und Annäherungen. Zusammen können Putin und Erdogan bei der Energieversorgung und den Migrationsströmen Druck ausüben; militärisch wäre eine Flanke vom Nord- bis zum Mittelmeer ein Alptraum für die Nato.
Nachwort: Die polanyische Pendelbewegung nach rechts
Polanyi hatte den Ausgang der von ihm diagnostizierten Pendelbewegung offengelassen. Obgleich er auch damals angesichts der Zeitgeschichte hätte verzweifeln können, hatte er im Gegenteil Hoffnung, dass die moderne Industriegesellschaft mehr Freiheit und Gerechtigkeit bringt, wenn es gelingt, den Kapitalismus zu zähmen (‚einzubetten‘). Dieser Trend kehrte sich jedoch seit den 80er Jahre um, da schon Mitter der 70er das globale Währungs- und Finanzsystem von Bretton Woods endete und es zu eine Stagflation nach der Ölkrise und einen Umschwung zum Neoliberalismus unter Thatcher und Reagan kam.
1989 brach der Staatssozialismus zusammen und es kam zu einer Hegemonie des Neoliberalismus, der zur Krise 2008/9 führte. Polanyi plädierte seinerzeit für eine christlich-jüdische Ethik und den Frühsozialismus von Robert Owen. Nach den Krisen erwarteten viele einen Pendelschlag nach links, oder wenigstens zu einem stärker regulierten Kapitalismus, was aber ausblieb. Ist der globale Kapitalismus stabiler als Polanyi glaubte? Was wird aus der liberalen Demokratie, wenn der Drift zum Rechtsnationalismus und Illiberalismus zunimmt? Dazu genügt nicht ein Blick auf die frühen Rechtspopulisten und -nationalisten. Was ist der Grund für die jetzt wachsende Anziehung? Ist der Kommunismus nicht auch ein ‚Kind der europäischen Aufklärung‘? Die Gewerkschaften haben versäumt, sich den prekär Beschäftigten und dem neuen Dienstleistungsproletariat anzunehmen. Die Linke verlernte, die Sprache der Basis zu sprechen. Gerhard Schröder, Francois Hollande, Barack Obama und Matteo Renzi gewannen die Wahlen durch den Zug zur Mitte. Rutschen wir seitdem in Richtung eines Faschismus, der aus einem Laissez-faire-Kapitalismus resultiert? Trump ist kein Faschist, eher eine amerikanische Version von Berlusconi. Warum ist Anmaßung von Macht überhaupt politisch wirksam? Die Begrenzung von Macht (z.B. zwei Amtszeiten) ist ein wirksames Instrument gegen Plutokratie und Diktatoren. Hasspropaganda und Machtkonzentration führt zu Radikalisierung (Beispiel Ungarn); in Polen existieren möglichweise noch verinnerlichte autoritäre Strukturen und eine nachwirkende Verunsicherung durch die postkommunistische Transformation. In der Slowakei hingegen ist der Rückhalt der Populisten rasch gesunken.
Wie geht man mit Rechtspopulisten um, wenn sie die Macht verlieren? Ist mit Kontingenz zu rechnen und muss deshalb die liberale Demokratie streitbarer werden, ohne ihre liberalen Grundlagen zu verletzen? Ein möglicher Weg in der EU wäre, die korrekte Verwendung finanzieller Mittel zu überprüfen und stärker auf die Einhaltung der Menschenrechte und -Würde, als einer zentralen Forderung, zu achten.
Angesichts der sich ankündigenden Klimakatastrophe ist der Aufstieg des Rechtspopulismus verlorene Zeit, wenn wir die ‚große (Klima)Transformation‘ aus dem Auge verlieren, anstatt sie für unsere Kinder abzuwenden.
Diskussion
Der Autor steht mit beiden Beinen in der europäischen und transatlantischen Geschichte, und kennt sich aus mit ihrer Transformation und deren unterschiedliche Auswirkungen auf die Gewinner und Verlierer, die nach Polanyi sowohl nach links als nach rechts tendieren könnten, aber z.Zt. eher nach rechts. Das hängt vielleicht damit zusammen, dass die populistischen Wähler meist nicht aus der traditionellen Arbeiter- oder Unterschicht stammen, sondern aus einer Schicht, die zwar Verarmungsängste hat, aber trotz Einbußen nicht verarmt ist, und ihren Gefühlen von Neid, Ressentiment und fehlender Anerkennung Luft macht, was durch die Anonymität des Internet erleichtert wird.
Eine solche Entwicklung hat nicht nur was mit ökonomischem Problemen zu tun, sondern eher mit seit der Kindheit bereits alltäglich, auch in der Schule, gemachten Erfahrung der fehlenden Anerkennung aufgrund einer einseitigen Ausrichtung primär auf intellektuelle Kompetenzen. Die aufgrund ihrer intellektuellen und sozialen Fähigkeiten nicht nur überlegenen, sondern sich auch dafür haltenden, Eliten haben weitgehend Führungspositionen erobert. Die Nöte und Sprache der einfachen Leute verstehen sie nicht und sind auch nicht daran interessiert. Trump und auch Orban geben sich zwar als die großen ‚Versteher‘ und beharren mit einem gewissen Trotz auch auf ihren Fehlern, was ihnen jedoch eher die Sympathie bestimmter Wähler verschafft, insbesondere wenn es ihnen gelingt im Umkehrschluss, aus einer Niederlage einen Erfolg machen. Die Kränkungen des Narzissmus, der gesunden Selbstliebe und Selbstachtung werden nicht durch reale Leistungen und Fakten, sondern durch ‚Meinungen‘ kompensiert und mit einer gewissen Lust am Erfolg auch gegen die sich allzu selbstsicher fühlende intellektuelle ‚Elite‘ ins Feld geführt. Die potentiellen Wähler der Linken spielen dabei nach meiner Meinung nur eine untergeordnete Rolle. Rechte Wähler fürchten vielmehr, gerade bei der Linken, ihren noch vorhandenen prekären Status zu verlieren, d.h. den Rest von Anerkennung, den sie brauchen, um ihren berechtigten und unberechtigten Ressentiments freien Lauf lassen zu können.
Diese sehr lesenswerte und auch durch die zahlreichen Anmerkungen und Detailkenntnisse überzeugende Buch, ist aus der Sorge um eine Entwicklung geschrieben, die die liberalen Demokratien bedrohen könnte. Es bedarf jedoch der Ergänzung durch interdisziplinäre Forschung über sozialpsychologische und schichtspezifische mentale Entwicklungen, die auch Generationen übergreifend, zu Affekten von Neid, Hass und Ressentiment geführt haben und verstärkt wurden durch anerzogene und verinnerlichte autoritäre Strukturen. Diese waren verbunden mit der Hoffnung, dass das Sozialkapital durch angepasstes Verhalten und Unterwerfung auch angemessen belohnt wird. Das war bei den Transformationen von 1989 meist nicht der Fall und hat Spuren hinterlassen.
Ich wünsche dem Buch, dass es viel diskutiert wird, auch wenn die Leser vielleicht durch die umfangreichen Ausflüge in andere Länder in Gefahr sind, überfordert und leicht ermüdet zu werden.
Fazit
Ein wichtiges aktuelles Buch, auch wenn es nicht immer leicht zu lesen ist.
Rezension von
Prof. Dr. Gertrud Hardtmann
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Es gibt 111 Rezensionen von Gertrud Hardtmann.
Zitiervorschlag
Gertrud Hardtmann. Rezension vom 31.03.2020 zu:
Philipp Ther: Das andere Ende der Geschichte. über die Große Transformation. Suhrkamp Verlag
(Berlin) 2019.
ISBN 978-3-518-12744-5.
Reihe: Edition Suhrkamp - 2744.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/26565.php, Datum des Zugriffs 06.12.2023.
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