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Gerd Jüttemann (Hrsg.): Menschliche Höherentwicklung

Rezensiert von Prof. Dr. Dr. Uwe Krebs, 29.05.2020

Cover Gerd Jüttemann (Hrsg.): Menschliche Höherentwicklung ISBN 978-3-95853-500-8

Gerd Jüttemann (Hrsg.): Menschliche Höherentwicklung. Pabst Science Publishers (Lengerich) 2019. 324 Seiten. ISBN 978-3-95853-500-8. D: 30,00 EUR, A: 30,90 EUR.
Reihe: Die Psychogenese der Menschheit - 7.

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Thema

Der Psychologe Gerd Jüttemann, TU Berlin, stellt als Herausgeber einen bunten Strauß aus 24 Beiträgen verschiedener Wissenschaften vor die Leserschaft. Auf insgesamt 318 Seiten werden innerhalb eines Spektrums, das von der Biologie bis zur Philosophie reicht, unterschiedliche Annäherungen an das Generalthema „Menschliche Höherentwicklung“ unternommen. Da der „Mainstream“ der universitären deutschsprachigen Psychologie zu diesem genuin psychologischen Thema nahezu schweigt – vielleicht weil man mit der Geschichte nicht experimentell arbeiten kann – ist die Behandlung dieses großen übergreifenden Themas umso notwendiger.

Die ausgeprägte inhaltliche Unterschiedlichkeit der Beiträge resultiert nicht allein aus der Vielfalt der Disziplinen, sondern auch aus den berechtigterweise sehr verschieden gewählten Zugängen zum Generalthema. Es stehen überblicksartige Beiträge neben vertiefenden Analysen eines einzelnen Aspektes und prognostischen Ansätzen. Jedem Beitrag folgt eine Liste einschlägiger Quellen. Ein Autorenverzeichnis schließt den Band ab.

Aufbau

Thematisch gliedert sich der Band in zwei Bereiche mit je zwölf Beiträgen: „Allgemeine Fragen“ und „Besondere Veränderungen“. Den beiden Bereichen sind ein knapp dreiseitiges Vorwort und eine siebzehnseitige Einführung durch den Herausgeber vorangestellt.

Im Vorwort bedauert Gerd Jüttemann, dass die bereits von dem Begründer der experimentellen Psychologie, Wilhelm Wundt, in dessen Werk „Kultur und Geschichte“ aufgeworfene Frage der Historizität der Psychischen kaum Widerhall im Fach Psychologie fand. Stattdessen, so Jüttemann, haben die Universalhistoriker sich des Themas der Höherentwicklung angenommen, wobei die psychische Dimension naturgemäß kaum beachtet wurde. Dann bekennt der Herausgeber – sympathisch offen – dass es nicht möglich war, die Autoren und Autorinnen auf das deutlich schmalere und enger psychologische Spektrum „Autogenese und Soziogenese“ festzulegen. Bereits erfolgte Zusagen zur Mitwirkung würden dann, so äußerten zahlreiche Mitwirkende, zurückgezogen werden. Dieser Sachverhalt erscheint interessant. Könnte es schlicht inhaltlich zu früh sein im Bemühen, um deutlichere Zusammenhänge den Suchwinkel zur Psychogenese schmaler anzulegen? Bei einem so umfassenden Thema mag in dieser Phase seiner Bearbeitung das Sammeln, Sichten, Ordnen und vorsichtige Bewerten Vorrang genießen, so schwer es Ungeduldigen auch fallen mag.

In einer Einführung „Universelle Autogenese oder die psychologische Gestaltungsgeschichte der Menschheit“ streift Gerd Jüttemann zunächst die so genannte Vorgeschichte und postuliert zu ihrem Verlauf drei Zäsuren mit Bedeutung für die Psychogenese: Vor und nach der Kultur der Großwildjäger, Beginn des Ackerbaus vor nur 12.000 Jahren.

Es folgen „Divergente Ausdrucksformen historisch-politischer Autogenese“, die die Griechische und Römische Antike, das kirchlich dominierte Mittelalter, die ‚Magna Charta’, die Reformation, die Bauernkriege, die Französische Revolution, Napoleon Bonaparte, den Wiener Kongress, die Frankfurter Paulskirche etc. streifen. Alles in der Absicht, ein – trotz Rückschlägen – zunehmend erfolgreicheres Ringen der Regierten mit den Regierenden um Freiräume und Freiheiten zu verdeutlichen.

Sodann widmet er sich unter breitem Rückgriff auf Steven Pinker der „empirisch belegten Entwicklungspsychologie des Fortschritts“, die den letzten 200 bis 250 Jahren gilt.

Im letzten Abschnitt wird das Verhältnis von „Autogenese und Psychogenese“ beleuchtet und mit einem Dreistufenmodell Jüttemanns abgeschlossen. Damit ist ein breiter zeitlicher und inhaltlicher Rahmen konturiert, in dem sich die Beiträge ein- und zuordnen lassen.

Eine Würdigung jedes Einzelbeitrages würde bei 24 Beiträgen den Rahmen einer Rezension sprengen, weshalb versucht wird, dem breiten Spektrum an Wissenschaften dadurch gerecht zu werden, dass besonders unterschiedliche Beiträge vorgestellt und andere nur angeführt werden. Es sagt nichts über die Qualität eines Beitrages aus, wenn er nur knapp erwähnt wird. Nahezu alle Beiträge sind gut mit Belegen versehen, sodass die interessierte Leserschaft leicht vertiefen kann.

Bereich Allgemeine Fragen

Der erste Bereich, „Allgemeine Fragen“, wird durch den Biologen Ulrich Kull mit dem Thema „Höherentwicklung in der Evolution des Menschen: Was sagt die Biologie?“ eröffnet. Einleitend erinnert Ulrich Kull daran, dass in der Biologie die Betrachtung der Evolution stets von der Evolutionstheorie ausgeht und zudem deren Aussagen sich auf die Gesamtheit der Population einschließlich ihres Genpools beziehen.

Sodann folgt eine zusammenfassende Darstellung der biologischen, ökologischen und klimatologischen Fakten zur Evolution des Menschen. Wer diese Entwicklungsgeschichte trotz dichter Faktenlage heutzutage noch grundsätzlich in Frage stellt, dem ist nicht zu helfen.

Im Verlauf der weiteren Ausführungen kann kaum ein Zweifel bestehen, dass auch die kulturellen Leistungen der Menschen eine biologische Basis haben, die so genannten Prädispositionen. Sie lassen sich übrigens auch heutzutage noch gut an unseren zoologisch nahen Verwandten, den Menschenaffen beobachteten. Kull nennt ausführlich die Wesentlichen. Um die psychische Evolution des Menschen aufzuhellen, bleiben nur indirekte Methoden, sie sind aber inhaltlich und methodologisch vielfältig und reichen – wie Kull ausführt – von der Genetik und der Soziobiologie bis zur Spieltheorie. Abschließend befasst sich Ulrich Kull knapp mit der „Integration von genetischen Vorgaben und Lernen“ indem er auf die Arbeitsweise des menschlichen Gehirns eingeht. Der Beitrag besticht durch allgemeine Verständlichkeit und den Blick für das Wesentliche dieses umfassenden Themas.

Im nächsten Beitrag geht es zwar ebenfalls um eine allgemeine Frage, doch ist sie völlig anderer Art. Der Psychologe Siegfried Preiser betitelt seinen Beitrag „Kann die Menschheit scheitern?“. Dabei inspirierte ihn das Buch von Acemoglu & Robinson (2015) „Warum Nationen scheitern…“. Der Autor schränkt einleitend seinen Beitrag ein auf „nur einige Denkanstöße zum Thema der Menschheitsentwicklung aus politisch-psychologischer Sicht“. Diese Sicht gliedert er in sieben Unterkapitel. Sie enthalten vielfach eine Gegenüberstellung des Faktischen und des Wünschenswerten und streifen zahlreiche einschlägige Aspekte, die auch die psychischen Haltungen des Optimismus und Pessimismus in ihren Auswirkungen erwähnen.

Der Sprachwissenschaftler, Wissenschaftsminister der ersten frei gewählten Regierung der DDR und spätere Sächsische Staatsminister für Wissenschaft und Kunst, Hans Joachim Meyer, kann auf ein bewegtes Leben zwischen Exmatrikulation in der DDR (wegen „mangelnden Kontaktes zur Arbeiterklasse“) und hohen politischen Ämtern nach dem Fall der Mauer zurückblicken. Für sein Thema „Gewinn und Grenzen gesellschaftlichen Fortschritts“ keine schlechten Voraussetzungen. Dies bestätigen dann auch seine kritischen Ausführungen, die ein Abriss historisch-politischer Aspekte sind. Menschliche Höherentwicklung und gesellschaftlicher Fortschritt, so Meyer, stehen in einem spannungsvollen Zusammenhang. Konkret wurden im 20. Jahrhundert – so Meyer – Millionen von Menschen für ideologische Projekte, die sich den Fortschritt der Menschheit verschrieben hatten, gewaltsam um ihr Leben gebracht.

In der Gegenwart sind für den Autor Globalisierung und Internationalisierung die zentralen Prozesse. Meyer tadelt beispielsweise Opportunismus und Kenntnisarmut als treibende Faktoren bei der Anglisierung, bzw. Amerikanisierung der deutschen Universitäten, ihrer Abschlüsse und der Publikationsorgane. „Alle Einwände gegen diese vordergründige und wenig durchdachte Studienreform, so meine Erfahrung, verhallten ungehört… Endlich war man nicht mehr ‚so deutsch’“. Als „prägendes westliches Lebensideal“ sieht Meyer den Individualismus, dessen Vorzüge und Gefahren. Menschliche Höherentwicklungen, so Meyer, „…vollziehen sich immer nur im wechselvollen und widersprüchlichen Prozess der geistigen und politischen Geschichte.“

Der Beitrag des Philosophen Thomas Gill „Was heißt, geschichtsphilosophisch zu denken“ kann als methodisches Werkzeug betrachtet werden, das komplexe Thema der menschlichen Höherentwicklung zu bearbeiten. Auch der Psychologe Michael Sonntag blickt in seinem Beitrag auf die formalen Probleme „Zur Problematik des historischen Vergleichs“. Der Philosoph Emil Angehrn schildert mit seinem Beitrag „Ideengeschichte und Entwicklung der Menschheit“ die Bedeutung wechselnder großer Ideen.

Die dann folgenden Themen „Paradoxien der Moderne“ (Journalist Klaus Franke); „Kosmopolitismus – Weltbürgertum im Anthropozän jenseits von Wunschdenken“ (Ethnologe Christoph Antweiler); „Menschheit versus Animalität. Friedrich Schillers Gesellschaftsutopie“ (Philologe Manuel Mackasare); Der Fortschritt im Bewusstsein, eine Menschheit als Ganzheit zu sein – mit Hegel über Hegel hinausdenken (Historiker Andreas Herberg-Rothe) verdeutlichen das breite methodologische und inhaltliche Spektrum des ersten Bereiches. Am Ende dieses ersten großen Bereiches stehen zwei Beiträge, die insofern neueren Forschungsansätzen Rechnung tragen, indem sie die bekannte Trennung von ‚Geist’ und ‚Körper’ hinter sich lassen und die gegenseitige Beeinflussung psychischer und physischer Prozesse empirisch belegen.

Der Psychologe Benjamin P. Lange befasst sich mit dem Thema Menschliche Kultur aus „biopsychosozial-lebensgeschichtstheoretischer Perspektive“. Ebenfalls aus der Schnittmenge zwischen psychischen und biologischen Vorgängen berichtet der Mediziner Christian Schubert in seinem Beitrag „Die Psychoneuroimmunologie an der Schwelle zum biopsychosozialen Paradigmenwechsel.“ Dass es beiden Autoren engagiert darum geht, biologische, psychologische und soziale Phänomene als miteinander interagierend zu begreifen, drücken schon ihre ‚schwer verdaulichen’ Titel aus. Durch einen solchen innerfachlichen Jargon wie „biopsychosozial“ wird allgemein verständliche Kommunikation nicht gerade erleichtert.

Bereich besondere Veränderungen

Der zweite große Bereich, „Besondere Veränderungen“ betitelt, besteht aus zwölf Beiträgen und bietet der Leserschaft wichtige, wenngleich unverbundene Einzelthemen. Sie lassen sich zunächst unterteilen in längsschnittliche Analysen, die überwiegen und die historische Entwicklung eines Sachbereiches darstellen, wie z.B. der Beitrag „Die Abschaffung der Sklaverei. Zum Ursprung von Menschenwürde und Menschenrechten“ (Althistoriker Egon Flaig). Des Weiteren finden sich querschnittliche Analysen eines komplexeren Problembereiches, wie z.B. im Beitrag des Soziologen Helmut KuzmicsMoralische Bedingungen für die Erhaltung des Weltfriedens: Das Phänomen der Staatenkonkurrenz aus soziologischer Sicht“.

Der Psychologe Rolf Oerter führt in seinem ebenfalls längsschnittlich angelegten Aufsatz „Die Verwandlung der Aggression in der Menschheitsgeschichte – vom rohen Affekt zur emotionalen Distanz“ aus, dass „ein hochaggressives Lebewesen“ (Oerter) wie der Mensch verstanden werden könne durch das Zusammenwirken dreier Merkmale: den „Aggressionstrieb“, die „Fähigkeit zur Empathie“ und die „kreativen Einfallskraft“. Diese Merkmalskombination -so Oerter – könne durch die Unterschiedlichkeit ihres jeweiligen Anteils an einem Geschehen sowohl die mittelalterlichen öffentlichen bestialischen Hinrichtungen als auch die aus technisch erzeugter Distanz anonymen Bombenabwürfe an sich friedlicher Familienväter auf Zivilbevölkerung in den letzten Jahrzehnten erklären. Wenn auch die individuelle Gewaltbereitschaft in langfristiger Perspektive kulturell – lt. Oerter – nachweislich deutlich verringert wurde, so bleibt das große und relativ neue Problem der technisierten und anonymen Kriegsführung mittels Massenvernichtungswaffen. Oerter plädiert dafür, das „Geschenk der Evolution“, die Hirnentwicklung und die durch sie erreichte Vernunft einzusetzen und die „Pathologie der Aufrüstung“ zu erkennen.

Die Philosophin Marie-Luisa Frick fragt in ihrem Artikel „Moralischer Fortschritt im Zeitalter der Menschenrechte“ ob trotz der Vielzahl an nationalen und internationalen Institutionen, die die Menschenrechte moralisch und juridisch begründen und Verstöße aufdecken, „Menschenrechte lediglich dünner Firnis über dem nach wie vor krummen Holz der menschlichen Natur“ seien. Jedenfalls erlaube „das Vorhandensein von staatlichen Bekenntnissen zu menschenrechtlichen Garantien…“ (…) „keinen Schluss auf eine ethische Höherentwicklung der Menschheit.“ Frick zeigt, dass ideengeschichtlich die Menschenrechte ein Kind der Epoche der Aufklärung sind, was vielleicht auch ihre zeitgleich sehr unterschiedliche Bedeutung in der Welt erklärt.

Das Thema des Historikers und Philosophen Hubert Kiesewetters „Sozigenetische Probleme und ihre Überwindung im modernen Kapitalismus“ zeichnet den Beginn der Industriealisierung (in England) anhand der Folgeprobleme nach. Der nahezu explosive Bevölkerungsanstieg mit den bekannten Verelendungsfolgen und in seiner Folge auch der unmäßige Alkoholkonsum sowie die brachialen zeitgenössischen Versuche, beiden Entwicklungen entgegen zu treten, stehen im Vordergrund. Kiesewetter kritisiert die ideologisch bedingte Fixierung des Marxismus auf ein gesellschaftliches Zweiklassenmodell, wodurch er „zur erkenntnistheoretischen und empirischen Soziogenese des modernen Kapitalismus wenig beigetragen (habe)“.

Im Beitrag „Ökonomische Ungleichheiten als strukturelle Gewalt – und ihre Überwindung als Demokratie- und Friedenssicherung“ weisen die Psychologen Norbert Groeben und Julia Schnepf auf die innergesellschaftlichen Folgen der zunehmenden Schere zwischen arm und reich in den letzten Dekaden hin. Erodierende Wirkungen auf die Mittelschicht gefährden -so die Autoren- die liberale Demokratie. Länder mit einkommensstarker Mittelschicht, so zeigte sich empirisch, verfügen über stabilere demokratische Verhältnisse. Strukturelle Marginalisierung bestimmter sozialer Schichten, strukturelle Gewalt also, fördere die personelle Gewalt. Aus den „derzeit empirisch vorliegenden Negativ-Dynamiken“ – so die Autoren – lässt sich das Kontrastbild der Überwindung struktureller und personeller Gewalt entwickeln.

Dem Betriebswirtschaftler Hartmut Kiehling geht es um „Europa und die Evolution der internationalen Kooperation“. Gut nachvollziehbar zeigt der Autor im internationalen Zugriff auf sein Thema -- das Europa „…trotz seines schwindenden Einflusses (…).“ etwa beginnend mit dem Westfälischen Frieden „… einen besonderen Weg …“ entwickelte und entwickelt in dem man stärker als andere Kontinente auf internationale Konferenzen und das Völkerrecht anstelle des im Übrigen meist blutig gescheiterten Interventionismus setzt.

„Industriealisierung als Triebkraft des gesellschaftlichen Aufstiegs“ erläutert der Wirtschaftshistoriker Felix Butschek. Auch dieser Beitrag zeigt insgesamt positive langfristige Entwicklungen, die – so der Autor – von häufiger Gewaltanwendung zu friedlicher Konfliktlösung verlaufen und im Kontext einer Zunahme von Wohlstand, Freiheit, Gleichheit und Rechtsordnungen stehen. Die größten Forschritte hierin sieht der Autor in Europa „…die europäische Entwicklung vermittelte hier einen Quantensprung“. Der Rezensent erlaubt sich die Anmerkung, dass der aus der Physik entlehnte Begriff „Quantensprung“ dort die geringste, gerade noch messbare Veränderung beschreibt. Das kann der Autor nicht gemeint haben.

Die Soziologin Adelheid Kühne wendet sich mit „Kultur und Konsum“ ganz der Gegenwart und Zukunft zu. Auch die Politologin Joanna Schmölz befasst sich mit der Gegenwart und geht mit „Internet und Wertewandel“ auf die tiefgreifenden Veränderungen ein, die Digitalisierung, Algorithmen und künstliche Intelligenz auslösen können. Sie spricht von der Möglichkeit einer „Reise der Menschheit vom Anthropozän ins Technozän“. Ob ihren Ausführungen wie z.B. „Der Rohstoff des neuen Jahrtausends sind Daten.“ nicht eine gewisse euphorische Engführung eigen ist, mag die Leserschaft beurteilen. Gewöhnungsbedürftig erscheint auch, dass ihre Literaturliste von dreizehn Quellen sechs Mal entpersonalisiert und nur mittels Initialen das eigene Institut nennt (DIVSI; Deutsches Institut für Vertrauen und Sicherheit).

Der Schriftsteller Christian Schüle widmet sich der „Werteverlagerung im Heimatverständnis“. Angesichts der Phänomene Globalisierung und Migration solle der Heimatbegriff – so der Autor – neu bestimmt werden. Der Soziologe Hans-Peter Müller greift in seinem Beitrag „Lebensführung“ umfänglich auf Max Weber zurück und zeigt dessen Aktualität.

Diskussion

Der Begriff „Höherentwicklung“ bedarf eines Maßstabes, doch ist dieser für viele Menschen strittig. Zumindest zwei Sachverhalte erschweren, einen hinreichenden Konsens zu gewinnen: Zum einen ist ein gewisser „Gattungsnarzissmus“ (Horstmann 1984) nicht von der Hand zu weisen. Horstmann führte aus, dass wir dazu neigen, von uns begeistert zu sein. Gattungsnarzissmus erschwert aber die sachliche Bewertung. Zum anderen aber ist die Fülle einschlägiger kultureller Entwicklungen in Organisation (z.B. erste Stadtstaaten Mesopotamiens bis zur UNO); in Technologie (z.B. von der Dampfmaschine zum Wasserstoffantrieb) und Bildung (z.B. von einstelligen schreib- und lesekundigen Bevölkerungsanteilen bis zur Schulpflicht und fast 400 Ausbildungsberufen) ein deutlicher Ausdruck der Weiterentwicklung, die bei sachlicher Betrachtung den Begriff „Höherentwicklung“ rechtfertigt. Dem wird – nicht grundlos – entgegengehalten, was in unserer Kulturgeschichte ebenfalls unübersehbar ist: die lange Blutspur, die zahlreichen Unzulänglichkeiten und Ungerechtigkeiten auf unserem Planeten.

Fazit

In einer solchen Gemengelage ist ein interdisziplinärer Sammelband, in dem elf verschiedene Wissenschaften zu einem Thema zu Wort kommen, orientierend. Die Leserschaft wird nämlich in die Lage versetzt, sich auf komfortable Weise – anhand eines Sammelbandes von gut dreihundert Seiten – ein eigenes und vermutlich nun verbessertes Urteil zu bilden. Dabei assistieren Biologie, Medizin, Psychologie, Soziologie, Betriebswirtschaft, Volkswirtschaft, Historik, Philosophie, Philologie, Politologie und Linguistik, ergänzt durch einen Schriftsteller und einen Journalisten, die dieser Frage nachgehen.

Die 24 Beiträge bieten sich geradezu an, in Einzeletappen gelesen zu werden, um sie in Ruhe zu überdenken. Dass ein solches Vorgehen – bei aller Heterogenität – einem allgemeinhistorischen Vorgehen einer Person, die dazu noch gesetzesmäßige Abläufe sucht und gefunden zu haben glaubt, überlegen ist, liegt nahe. Dies hatte Karl Popper bereits in seinem Werk „Das Elend des Historizismus“ (1957, 2004) kritisiert.

Literatur

Horstmann, Ulrich (1984): Der Narziß in der Menschenleere: Wider eine ptolemäische Anthropologie. In: Deutsches Ärzteblatt1984; 81 (47): A-3517.

Popper, Karl (1957): Das Elend des Historizismus. Tübingen. Mohr Siebeck.

Rezension von
Prof. Dr. Dr. Uwe Krebs
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ISSN 2190-9245