Hermann Kappelhoff, Jan-Hendrik Bakels et al. (Hrsg.): Emotionen
Rezensiert von Elisabeth Vanderheiden, 04.08.2020

Hermann Kappelhoff, Jan-Hendrik Bakels, Hauke Lehmann, Christina Schmitt (Hrsg.): Emotionen. Ein interdisziplinäres Handbuch. J.B. Metzler Verlag (Stuttgart) 2020. 477 Seiten. ISBN 978-3-476-02483-1. D: 69,95 EUR, A: 71,91 EUR, CH: 77,50 sFr.
Thema
Anliegen und Anspruch dieses Handbuches ist es, die vielfältigen Traditionen der Emotionsforschung zusammen zu führen. Dies umfasse eine historische Betrachtung der Emotions- und Affekttheorien von der Antike bis zur Moderne sowie eine umfassende Darstellung zentraler Emotionskonzepte der Gegenwart. Das Handbuch inkludiert dabei Sichtweisen unterschiedlicher Disziplinen darunter Ethnologie, Philosophie, Literaturwissenschaft, Soziologie, Psychologie und entwickelt eine Typologie der Emotionen. Das Spektrum reicht dabei etwa von etwa Trauer, Melancholie und Depression bis hin zu Freude, Glück und Wohlbefinden. In Bezug gestellt werden sie dabei jeweils zu zentralen Konzepten aktueller Emotionsforschung wie beispielsweise Sprache, Kultur, Politik.
HerausgeberInnen
Hermann Kappelhoff ist Professor für Filmwissenschaft an der Freien Universität Berlin und Direktor der dort angesiedelten DFG-Kolleg-Forschergruppe Cinepoetics.
Jan-Hendrik Bakels ist Junior-Professor und Projektleiter der BMBF-Nachwuchsgruppe Affektrhetoriken des Audiovisuellen an der Freien Universität Berlin.
Hauke Lehmann ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Filmwissenschaft und Projektleiter im Sonderforschungsbereich Affective Societies – Dynamiken des Zusammenlebens in bewegten Weltenan der Freien Universität Berlin.
Christina Schmitt ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin der DFG-Kolleg-Forschergruppe Cinepoeticsan der Freien Universität Berlin. (Verlagsangaben)
Aufbau
Das fast 500 Seiten starke Buch umfasst sieben Schwerpunkte mit insgesamt 64 Einzelkapiteln:
- Geschichte der Affekt- und Emotionstheorien
- Emotionskonzepte der Gegenwart
- Typologie
- Interdisziplinäre Perspektiven zu Emotion und Sprache
- Interdisziplinäre Perspektiven zu Emotion und Kultur
- Interdisziplinäre Perspektiven zu Emotion und Politik
- Interdisziplinäre Perspektiven zu Emotion und Medien.
Einige Artikel sind in englischer Sprache verfasst, die meisten jedoch in Deutsch.
Inhalt
Exemplarisch sollen hier zwei ausgewählte Kapitel detaillierter vorgestellt werden.
Zunächst Kapitel 36 „Kulturelle Facetten der Scham“ von Birgitt Röttger-Rössler, die Professorin am Institut für Sozial- und Kulturanthropologie an der Freien Universität Berlin ist. Neben einer kurzen Einführung widmet sich die Autorin insbesondere vier Facetten des Themas:
- Scham- und Schuldkulturen
- Ehre und Schande – Stolz und Scham
- Forschung
- Fachübergreifenden Forschungsfragen.
In ihrer kurzen Einleitung nimmt die Autorin eine sozial- und kulturanthropologische Verortung vor. Sie beschreibt Scham als „von fundamentaler Bedeutung für soziale Konformitätsprozesse“, denn „Schamgefühle lassen sich also als empfundener Anerkennungsverlust, als Angst vor sozialer Exklusion definieren, sie binden die Einzelnen somit in die Norm- und Wertgefüge ihres sozialen Umfeldes ein“ (230). Sie nimmt Bezug darauf, dass der Stellenwert von Scham in manchen Kulturen höher ist als in anderen, äußert sich aber an dieser Stelle nicht dazu, wie divers Scham in unterschiedlichen kulturellen Kontexten konnotiert wird.
Im ersten Schwerpunktteil nimmt sie Bezug auf die Forschungen von Margaret Mead und Ruth Benedict, auf die das in vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts entwickelte Konzept der Scham- und Schuldkulturen zurückgeht und erwähnt auch die Kritik an dieser Typologisierung.
Im zweiten Abschnitt ihres Kapitels nimmt die Autorin eine zweite Typologie auf, nämlich das Konzept von ›Ehre und Schande‹, das mit dem von John Peristiany 1966 herausgegebenen Buch Honour and Shame. The Values of the Mediterranean Societyals Spezifikum der ›mediterranen Welt‹ eingeführt wurde. Sie verweist darauf, dass shame hier einerseits als Scham, zum anderen aber auch als Schande zu interpretieren ist. Damit wird verwiesen auf die Vorstellung von Ehrkulturen‹ im mediterranen Raum, in der arabischen Welt, in West- und Zentralasien sowie Südasien, in denen – so die Autorin – Ehre keineswegs nur individuell, sondern immer auch kollektiv angelegt sowie eng mit Genderaspekten verwoben ist (232).
Im nächsten Teil ihres Textes stellt Birgitt Röttger-Rössler einige aktuelle Diskussions- und Forschungsstränge ethnologischer Schamforschung vor, die insbesondere auf die soziale Funktion von Scham fokussieren. Scham wird dabei als „eine pan-humane emotionale Kapazität dargestellt und somit in allen Gesellschaften anzutreffen ist, aber sehr unterschiedlich gewichtet und bewertet wird“ (232).Forschungsarbeiten dazu setzen sich nach Aussage der Autorin entweder kulturvergleichend mit der Hyper- und Hypokognition von Scham in verschiedenen Gesellschaften auseinander oder beschäftigen sich intensiver mit der Bedeutung von Scham in regionalspezifischen Kontexten.
Im letzten Teil ihres Artikels richtet die Autorin ihren Blick auf fachübergreifende Forschungsfragen. Sie hebt hervor, dass je nach kulturellem Kontext Emotionen sozial unterschiedlich bewertet werden, in Indonesien etwa Scham eher als eine generell erwünschte Emotion betrachtet wird, während sie in anderen kulturellen Zusammenhängen eher als Emotion wahrgenommen wird, die man meiden möchte (233). Sie geht auch auf die Sozialisation von Scham ein und kommt zum Schluss, dass „Scham eine pan-humane Emotion darstellt, die von zentraler Bedeutung für die Integration des Einzelnen in soziale Ordnungsgefüge ist. Ihre durch ethnologische Arbeiten belegte kulturell unterschiedliche Ausgestaltung, Bewertung und Gewichtung wirft zahlreiche weiterführende Fragen auf, deren Beantwortung fachübergreifende Kooperationen erfordert.“ (233).
Des weiteren soll Kapitel 50 „Emotion als kulturelle Praxis“ von Monique Scheer genauer betrachtet werden. Monique Scheer ist als Professorin für Kulturwissenschaft an der Universität Tübingen tätig. Sie geht davon aus, dass Menschen Emotion „nicht haben“, sondern „tun“ (352), gemeint ist damit habituelles Tun im Sinne halb bis ganz bewusster Akte. Den Körper beschreibt sie in Bezug auf diese emotionale Tun als „ein immer durch und durch sozialisierter Akteur“ (352), sodass Emotion als Emotion das Ergebnis einer Zusammenführung von physiologischen und sozialen Voraussetzungen verstanden werden kann, bei der die Kultur die Formen und Regeln des körperlichen Tuns vorgibt. Zugleich werden körperliche Ressourcen genutzt, um kulturelle Expressionen zu entwickeln und zu verfeinern.
Scheer legt in ihrem Artikel einen Ansatz dar, wie Emotion speziell als Praxis im Sinne einer Praxistheorie verstanden werden kann. Dazu beschreibt sie zunächst ihr Verständnis von Praxis, erläutert in einem nächsten Schritt, wie Emotion als Praxis verstanden werden kann, um schließlich zu skizzieren, welche Vorteile diese Perspektive auf Emotionen für historische und ethnografische, psychologische und philosophische Fragestellungen haben könnte. Unter Emotionspraktiken versteht die Autorin Praxiskomplexe, die in besonderer Weise mit Emotion zu tun haben. Sie unterscheidet vier mögliche Arten von Emotionspraktiken, die einander jedoch nicht ausschließen, sondern meist gleichzeitig und überlappend auftreten (357):
- Mobilisierende Praktiken, alsoPraktiken, die oft als emotionalisierend bezeichnet werden. „Mobilisierende Emotionspraktiken sind die Praxiskomplexe, die darauf abzielen (bewusst oder unbewusst), den Körper zu aktivieren und Emotionen zu evozieren. Zu diesem großen Bereich der Emotionspraktiken können alle Arten des rituellen Handelns zählen, Hochzeitszeremonien und Beerdigungen, Gottesdienste und Gebet, politische Demonstrationen bis hin zu Hass generierenden und aufrechterhalten- den Akten oder zum aktiven, engagierten Zuschauen bei einem Sportevent.“ (357)
- Benennende Praktiken beschreiben die Versuche, „unsere Gefühle eindeutig wahrzunehmen und zu äußern, damit sie ihre soziale und relationale Funktion wahrnehmen können.“ (358)
- Kommunizierende Emotionspraktiken „mobilisieren die Gefühle anderer und bieten den Tausch und Austausch von Emotionen zwischen Menschen an“. (358)
- Regulierende Praktikensind impliziet in den anderen drei Arten von Emotionspraxis enthalten, denn sie sind alle durch eine bestehende soziale Ordnung strukturiert, die sie wiederum strukturieren, zugleich verweisen sie auch auf die Bedeutung von Gefühlsnormen und deren Übernahme. (359)
Am Ende ihres Kapitels ordnet Scheer ihre Erkenntnisse in den aktuellen Fachdiskurs ein und argumentiert: „Der Ansatz, Emotionen als kulturelle Praxis im Sinne der Bourdieuschen Praxistheorie zu verstehen, bietet die Möglichkeit, Kultur und Materialität der Emotion unter einen Hut zu bringen. Wenn man Emotionen als Praktiken betrachtet, dann privilegiert man weder Sprache noch Mimik, weder Herzfrequenz noch Kognition, denn alles – Ausdruck und Erfahrung, Wahrnehmung von Intensität und Bedeutungszuschreibung – ist etwas, was ein sozialisierter, mit Wissen und Erfahrung aufgeladener Körper tut.“ (360) Sie weist, zurecht darauf hin, dass dies als sehr dynamisches Geschehen zu verstehen ist, dass von Menschen aktiv und kreativ gestaltet wird, weswegen sie die statische Einteilungen in Scham- und Schuldkulturen als wenig hilfreich erachtet. Kultur ist vielmehr als etwas zu verstehen, das aktiv von Menschen gestaltet und ausgehandelt wird und Emotionen finden darin immer neue Ausdrucksformen, um sie den jeweiligen Bedürfnissen und Lebensbedingungen anzupassen.
Fazit
Der Sammelband bietet zahlreiche spannende interdisziplinäre Perspektiven auf das Thema Emotionen. So werden beispielsweise ebenso pädagogische, psychologische, neurowissenschaftliche, medizinische, sprach- und literaturwissenschaftliche, kunst-, medien und filmwissenschaftliche, soziologische, theologisch-philosophische, ethnologische wie sozial- und kulturanthropologische Sichtweisen eingebracht. Auch inhaltlich bietet das Buch ein facettenreiches vielfarbiges Kaleidoskop an Einsichten und Darstellungen. Neben einer vermutlich erwartbaren historischen Einordnung werden exemplarisch wichtige aktuelle Emotionskonzepte ausführlicher betrachtet. Es werden wichtige Emotionen genauer be- und ausgeleuchtet, einige davon durchaus unerwartet, wie die Bewunderung oder Verehrung oder die ästhetische Lust.
Spannend und auch unbedingt lesenswerte Ergänzungen sind die interdisziplinären Diskurse zu Emotionen in Hinblick auf Sprache, Kultur, Politik und Medien – die Herausgeber*innen sprechen hier von „vier wesentliche Fluchtlinien der Emotionsforschung“ IX – welche den Blick auf Emotionen noch einmal weit und vielfältiger öffnen und teilweise sehr inspirierende Bögen in die jeweiligen Disziplinen schlagen.
Rezension von
Elisabeth Vanderheiden
Pädagogin, Germanistin, Mediatorin; Geschäftsführerin der Katholischen Erwachsenenbildung Rheinland-Pfalz, Leitung zahlreicher Projekte im Kontext von beruflicher Qualifizierung, allgemeiner und politischer Bildung; Herausgeberin zahlreicher Publikationen zu Gender-Fragen und Qualifizierung pädagogischen Personals, Medienpädagogik und aktuellen Themen der allgemeinen berufliche und politischen Bildung
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