Cornelia Hildebrandt, Jürgen Klute et al. (Hrsg.): Die Linke und die Religion
Rezensiert von Prof. Dr. Hartmut Kreß, 27.02.2020
Cornelia Hildebrandt, Jürgen Klute, Helge Meves, Franz Segbers (Hrsg.): Die Linke und die Religion. Geschichte, Konflikte und Konturen : eine Veröffentlichung der Rosa-Luxemburg-Stiftung. VSA-Verlag (Hamburg) 2019. 237 Seiten. ISBN 978-3-96488-010-9. D: 16,80 EUR, A: 17,30 EUR.
Thema
In der Bundesrepublik Deutschland werden vermehrt Kontroversen darüber ausgetragen, wie das Verhältnis zwischen dem weltanschaulich neutralen Staat einerseits, den Kirchen und Religionsgesellschaften andererseits einzuschätzen und zu reformieren ist. Der kritische Diskurs betrifft Grundsatz- sowie Einzelaspekte. Zu Letzteren gehören die staatlichen Finanztransfers an die Kirchen („Staatsleistungen“) oder das kirchliche Arbeitsrecht. Teilweise haben die politischen Parteien in ihren Parteiprogrammen zu solchen Fragen bereits Stellung genommen und dabei für durchgreifende Reformen plädiert, zuletzt im Jahr 2016 Bündnis 90/Die Grünen. Im Jahr 2019 rückte das Religionsrecht erneut in den Vordergrund, weil die einschlägigen Bestimmungen des Grundgesetzes weitgehend aus der Weimarer Verfassung stammen, die am 14. August 1919 in Kraft getreten war.
HerausgeberInnen
Die vier HerausgeberInnen des Bandes waren oder sind in unterschiedlichen Funktionen in der Partei „Die Linke“ tätig oder sind ihr anderweitig verbunden. Ähnliches trifft auf die AutorInnen zu, die Aufsätze beigesteuert haben. Insgesamt beinhaltet der Band 24 Beiträge.
Entstehungshintergrund
Offenkundig versucht die Partei „Die Linke“ ihre Haltung zu Kirchen und Religionen zurzeit neu zu bestimmen. Geistesgeschichtlich spielen hierfür bis heute die Religionskritik von Karl Marx oder die Abgrenzungen gegenüber den Kirchen eine Rolle, die im 19. und frühen 20. Jahrhundert in der Sozialdemokratie und in der damaligen Arbeiterbewegung erfolgten. Darüber hinaus arbeitet der Band eine Besonderheit auf, die in dieser Form nur für die Partei „Die Linke“ belangvoll ist. Sie war 2007 durch den Zusammenschluss einer westdeutschen Partei mit der PDS, also der Nachfolgepartei der SED als der sozialistischen Staatspartei der früheren DDR, entstanden.
Aufbau
Ein Geleitwort stammt von der Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau, eine thematische Einleitung von den HerausgeberInnen. Hierdurch gelangen sofort im Eingangsteil gedankliche Herausforderungen zur Sprache, die sich für die Linke bei ihrer Standortsuche gegenüber Kirchen und Religionen stellen.
Der 1. Buchteil ist historisch-systematisch angelegt. Unter der Überschrift „Linke Religionskritiken von der Aufklärung über Marx bis zur SED und PDS“ beschäftigt er sich mit geistes-, kultur- und politikgeschichtlichen Sachverhalten. Teil 2 trägt summarisch den Titel: „Der Staat, die Linken und die Religionen“. Er widmet sich der Religionsauffassung des Bonner Grundgesetzes und schlägt aus „linker“ Sicht Schneisen zu Judentum, Christentum und Islam. Im 3. Buchteil werden „Konfliktfelder einer linken Religionspolitik“ geschildert, unter die das kirchliche Arbeitsrecht, der konfessionelle Religionsunterricht an staatlichen Schulen, die Kirchenfinanzierung, die Militärseelsorge oder der Streit um das Kopftuch zu rechnen sind.
Ein kurzes Nachwort der Bundestagsabgeordneten Christine Buchholz widerspricht der Auffassung, die Linke sei religionsavers, und bilanziert seinerseits, „den Missbrauch der Religion zu Herrschaftszwecken abzulehnen, heißt nicht, Religion an sich abzulehnen“ (S. 227).
Inhalt
Die Beiträge, die durchweg allenfalls ca. 10 Seiten umfassen, lassen sich hier nicht einzeln wiedergeben. Stattdessen sollen einige Leitgedanken genannt werden, die sich quer durch das Buch herauskristallisieren. Zu diesem Zweck werden nachfolgend zunächst (I.) die Analysen zu geistes- und kulturgeschichtlichen Traditionen erwähnt, die in dem Band vorgetragen werden. Danach (II.) wird beleuchtet, wie sich im Spiegel der hier vorliegenden Aufsätze die Linkspartei heute dem Thema „Religion“ nähert. Nicht zuletzt ist (III.) anzusprechen, wie zu aktuellen Streitthemen der Kirchen- und Religionspolitik votiert wird.
I. Geschichtliche Aspekte
Zu Karl Marx wird herausgestellt, dass er die bürgerliche Religion mit praktischer Absicht bzw. mit sozialpolitischer Zielrichtung kritisiert hat; es ging ihm um die radikale Veränderung der sozioökonomischen Verhältnisse. Wolfgang Fritz Haug pointiert seine Darlegungen dadurch, dass er die Rezeption Marx' durch Ernst Bloch, den atheistischen sozialistischen Vordenker utopischer Philosophie im 20. Jahrhundert, ins Licht rückt (S. 33 ff.).
Gegenüber der Aufklärungsphilosophie, auf die sich auch die französische Revolution gestützt hatte, erfolgen partiell Abgrenzungen. Helge Meves weist darauf hin, dass Vordenker und Dokumente der Aufklärung nicht deutlich genug mit der Sklaverei gebrochen haben oder einseitig einer Ideologie des privaten Eigentums verhaftet geblieben seien (S. 57). Trotzdem sei es geboten, an die Programmatik der Aufklärung anzuknüpfen, die auf die individuellen Menschenrechte abzielte. Geistesgeschichtlich beruft sich Marco Schendel zu diesem Zweck namentlich auf die Aufklärungsphilosophen Pierre Bayle und Moses Mendelssohn (S. 71).
Mit dem sozialdemokratischen Gothaer Programm von 1875 befasst sich Karl-Helmut Lechner. Eigentlich hatte man in dieses epochale Dokument explizit den Schutz der persönlichen Gewissensfreiheit aufnehmen wollen. Da der Begriff der Gewissensfreiheit aber politisch einseitig vereinnahmt worden war – er war zur Parole des Kulturkampfs geworden, den Bismarck gegen die katholische Kirche führte –, setzte sich die Formulierung durch, Religion stelle gegenüber dem Staat eine „Privatsache“ dar (S. 75 ff.).
Für die Parteigeschichte der Linken ist wichtig, wie sich eine ihrer beiden direkten Vorgängerparteien, nämlich die PDS, zu Kirche und Religion positioniert hat. Hierzu arbeiten Cornelia Hildebrandt und Ilsegret Fink heraus, die PDS habe nach dem Ende der DDR 1990 auf die Trennung von Staat und Kirche Wert gelegt, aber eine tragende und aktive Rolle der Kirchen in der Gesellschaft anerkannt (S. 94).
II. Heutige Zugänge
Wiederholt wird in dem Aufsatzband das Bemühen deutlich, seitens der Linken zur Funktion der Religionen in der Gesellschaft eine bejahende, positive Einstellung zu bekunden. Die schroffe Abgrenzung von den Kirchen, auf die man zu Beginn der Weimarer Republik gesetzt hatte, sei für den damaligen kirchlichen Konservativismus eine „Steilvorlage“ und politisch kontraproduktiv gewesen (Karl-Helmut Lechner, S. 79). Seitdem hätten in den Religionen selbst Veränderungen stattgefunden und würden gesellschaftliche Reformen von ihnen bejaht. Anknüpfungspunkte für die Linkspartei böten der religiöse Sozialismus des frühen 20. Jahrhunderts (Ulrich Peter, S. 82 ff.) oder die neuere politische Theologie, die sich befreiungstheologisch versteht (Franz Segbers, S. 140). Darüber hinaus vermitteln Faizan Ijaz und Saadad Ahmed ein Bild der islamischen Religion, dem zufolge diese für gesellschaftlichen Pluralismus und für soziales Engagement offen sei (S. 147 ff.).
III. Aktuelle Probleme
Ungeachtet aller Akzeptanz von Kirche und Religion und der pointierten Abgrenzung vom französischen Laizismus (z.B. Kolja Lindner, S. 167 ff.; Hermann-Josef Große Kracht, S. 164) werden heutige Einzelprobleme des Staat-Kirche-Verhältnisses skeptisch und kritisch erörtert. Besonders nachdrücklich fällt die Kritik an der staatskirchlichen Struktur der Militärseelsorge aus (Peter Bürger, S. 215 ff.). Weitgehende Reformvorschläge trägt Jürgen Klute vor. Er plädiert für eine Ablösung des bisherigen Einzugs der Kirchensteuer durch den Staat zugunsten einer Kultursteuer, wie sie z.B. in Italien eingeführt worden ist. Diesem Modell zufolge können BürgerInnen wählen, an welche gemeinnützigen Organisationen der Staat diese von ihnen entrichtete Steuer weiterleiten soll (S. 190 ff.). Zwei Beiträge (Erhard Schleitzer, S. 184 ff., Norbert Wohlfahrt, S. 196 ff.) problematisieren das deutsche kirchliche Arbeitsrecht, das im europäischen Rechtsvergleich einen nationalen Sonderweg darstellt und für die ArbeitnehmerInnen zahlreiche Nachteile erzeugt. Neben vieldiskutierten Streitfragen wie dem Kopftuch (Christine Buchholz/Cornelia Möhring, S. 202 ff.) gelangen ferner Themen zur Sprache, die öffentlich bislang kaum beachtet werden, etwa die Stellung der Theologie an staatlichen Hochschulen (Rainer Kessler, S. 209 ff.).
Diskussion
So knapp die einzelnen Beiträge ausfallen, bieten sie immer wieder interessante Impressionen. Politik- und kulturgeschichtlich ist z.B. erhellend, was zum Gothaer Programm von 1875 dargelegt worden ist. Implizit und auch explizit bildet es eine Leitfrage des Buches, wie die Positionierung der Linken zu Religionen und Kirchen in der Gegenwart ausfallen sollte. Es ist plausibel, dass sich die AutorInnen bemühen, zu diesem Zweck Schnittmengen zwischen sozialreformerischer linker Politik und religiös motiviertem Sozialethos hervorzuheben. Dies erleichtert es ihnen, sich von einem Laizismus zu distanzieren, der die öffentliche Präsenz von Religion delegitimiert und der dieses Nein gar zu einer Art säkularer Staatsreligion erhebt.
In der Absicht, Konvergenzen zwischen linkem Denken und Religion aufzuzeigen, schießt ein einzelner Beitrag völlig über das Ziel hinaus. Die Religionspädagogen Andreas Hellgermann und Barbara Imholz rechtfertigen den von den Kirchen getragenen schulischen Religionsunterricht, indem sie ihn einseitig befreiungstheologisch deuten. Für sie wird Religionsunterricht hierdurch ein „Verbündeter im Kampf gegen neoliberale Bildung“ (S. 178), womit sie ihn für die von ihnen selbst präferierten politischen Anliegen vereinnahmen und ihn instrumentalisieren. Dabei verkennen sie, dass nach geltender Rechtslage die Kirchen über die Inhalte des Religionsunterrichts zu befinden haben und dass es schon aus diesem Grund illusionär ist, ihn nur befreiungstheologisch zu begreifen. Die Notwendigkeit, dass als Alternative zum Fach Religion bundesweit durchgängig ein Ethikunterricht vorhanden sein sollte, oder die nochmals weitergehende Frage, ob anstelle des in die Krise geratenen herkömmlichen Religionsunterrichts künftig Ethik/Religionskunde zum Pflichtfach werden sollte, klammert der Aufsatz aus. Stattdessen präsentiert er ein Zerrbild des Ethikunterrichts, indem er ihn als ideologischen Garanten des status quo verzeichnet (S. 182). Solche plakativen Argumentationen sind nicht haltbar. Andere Akzente werden in dem vorliegenden Aufsatzband hierzu nur beiläufig gesetzt, etwa durch P. Pau, die in ihrem kurzen Geleitwort anstelle des Religionsunterrichts für Ethik als Pflichtfach plädiert (S. 9).
Zu weiteren Themen finden sich wichtige Denkanstöße. Dies gilt etwa für den oben erwähnten Vorschlag des früheren EU-Parlamentariers J. Klute, das deutsche System des staatlichen Einzugs der Kirchensteuern durch eine Kultursteuer zu ersetzen. Zur Begründung macht der Autor geltend, dass gemeinwohlorientierte Institutionen, zu denen auch die Kirchen gehören, gleich zu behandeln sind. Außerdem ließen sich auf diese Weise z.B. Finanzierungsprobleme muslimischer Organisationen vermindern. Auf der Grundsatzebene ist für seinen Vorschlag leitend, Kirchen und Religionen als Teil der Zivilgesellschaft zu bewerten. Dieser Gedanke ist konzeptionell belangvoll, weil er die in Deutschland bis 1918 rechtlich und kulturell dominierende, noch heute nachwirkende Tradition korrigiert, die die Kirchen genuin staatsnah versteht. Angesichts der aktuellen sozioreligiösen Pluralisierung und Säkularisierung werden solche Gesichtspunkte künftig verstärkt zu bedenken sein.
Fazit
Das Buch verdeutlicht die heutige Orientierung der Linken an der individuellen Gewissens-, Religions- und Weltanschauungsfreiheit, die 1919 in die Weimarer Verfassung Eingang gefunden hatte, und am gesellschaftlichen Pluralismus. Zum Staatskirchen- und Religionsrecht mahnt es in verschiedener Hinsicht Reformen an. Dies hätte sich teilweise noch präziser und stringenter entfalten lassen können. Offenbar ist im Spektrum der Linken noch keine umfassende und kohärente Position entwickelt worden. Der Band belegt jedoch, dass der Stellenwert des Themas erkannt worden ist und dass Ansätze vorliegen, auf deren Basis die Reformmüdigkeit der Politik zu diesem Fragenkreis aufgebrochen werden könnte. Denn strittige kirchen- und religionspolitische Fragen sollten eigentlich auf politischer Ebene debattiert und nicht nur den Gerichten überlassen werden, so wie es in den letzten Jahren etwa zum kirchlichen Arbeitsrecht der Fall gewesen ist.
Rezension von
Prof. Dr. Hartmut Kreß
Professor für Sozialethik an der Universität Bonn
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Es gibt 18 Rezensionen von Hartmut Kreß.
Zitiervorschlag
Hartmut Kreß. Rezension vom 27.02.2020 zu:
Cornelia Hildebrandt, Jürgen Klute, Helge Meves, Franz Segbers (Hrsg.): Die Linke und die Religion. Geschichte, Konflikte und Konturen : eine Veröffentlichung der Rosa-Luxemburg-Stiftung. VSA-Verlag
(Hamburg) 2019.
ISBN 978-3-96488-010-9.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/26577.php, Datum des Zugriffs 16.09.2024.
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