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Bernhard Pörksen, Andreas Narr: Schöne digitale Welt

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 04.03.2020

Cover Bernhard Pörksen, Andreas Narr: Schöne digitale Welt ISBN 978-3-86962-477-8

Bernhard Pörksen, Andreas Narr: Schöne digitale Welt. Analysen und Einsprüche von Richard Gutjahr, Sascha Lobo, Georg Mascolo, Miriam Meckel, Ranga Yogeshwar und Juli Zeh. Herbert von Halem Verlag (Köln) 2020. 218 Seiten. ISBN 978-3-86962-477-8.
Reihe: edition medienpraxis - 18.

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Dystopie, Kakophonie, Alarmismus

Es sind nicht nur die Skeptiker, die bei der Suche nach der Wahrheit weder auf der einen Seite in Euphorie und Positivismus verfallen, aber andererseits auch den Momentanismusa als fatale Einstellung betrachten (vgl. dazu z.B.: Heinz von Foerster/​Bernhard Pörksen, Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Gespräche für Skeptiker, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/​13980.php), sondern auch die Analytiker, die beim Informations- und Kommunikationsprozess der Menschen kritisch und warnend auf die digitale Entwicklung schauen. Im intellektuellen, philosophischen, aristotelischen Diskurs gilt zwar die Auffassung, dass der anthrôpos in der Lage ist, Allgemeinurteile zu bilden und zwischen Gut und Böse unterscheiden zu können, doch in der Wirklichkeit des menschlichen Daseins ist auch die „kakia“, die Schlechtigkeit und das Böse, präsent (Bettina Stangneth, Böses Denken, 2016, www.socialnet.de/rezensionen/​23593.php; Hässliches Sehen, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/​25303.php). Es wird von der „Empörungsgesellschaft“ gesprochen, von „Alarmismus“, von „Fakeismus“ und „Populismus“, die Angst erzeugen und Hass schaffen, und mit ihren Rezepten von einfachen Ja-Nein-Antworten das Denken den Ideologen überlassen. Die Kommunikation- und Manipulations-Dystopien gehören, neben der „akrasia“ (Unbeherrschtheit) und der „thêriotês“ (Rohheit) zu den Untugenden, die Menschlichkeit zerstören (Otfried Höffe, (Hrsg.), Aristoteles-Lexikon, 2005).

Die digitale Entwicklung im World-Wide-Web versprach erst einmal eine „schöne, neue Welt“, in der der „Homo Informator“ ein vor Mühe und Anstrengung entlastetes, gutes, gelingendes Leben zu führen vermag. Dort, wo Hoffnung, Optimismus und tätige Zuversicht abhandenkommen, bleiben nur Abhängigkeiten von Fake News, Verzweiflung, Egoismus und feindliches Gegeneinander: „Sie lähmt im starren Blick auf die selbst produzierten Bilder totaler Aussichtslosigkeit das eigentlich nötige Engagement“.

Aufbau und Inhalt

Der Tübingen Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen und der Redaktionsleiter des SWR-Studios und Mediendozent Andreas Narr konstatieren, dass das „Zeitalter der Netzutopien“ zu Ende ist und durch die Gerüchteküche und lokalen und globalen Fake-Werkstätten abgelöst wurde: „Aus Euphorie ist Ernüchterung geworden“, und damit auch der Anspruch, den Dystopien Eutopie entgegen zu setzen. Sie bringen in dem Sammelbändchen zusammen, was an Intellekt und Kritik den Hassattacken, Untergangsschreien, antifreiheitlichen und antidemokratischen Parolen entgegensteht. Sie legen Essays von Autorinnen und Autoren vor, die nicht als Technik- und Entwicklungsverächter bekannt sind, sondern individuelle und gesellschaftliche Veränderungsprozesse befürworten; freilich in dem Sinne, dass sie für Freiräume des Denkens und Handelns eintreten und überzeugt sind, dass „demokratisches Bewusstsein vom Aufklärungs- und Mündigkeitsgedanken lebt“.

Der Netz-Journalist, Digital-Experte und Mitbegründer von „emobly“, Richard Gudjahr, sagt von sich: „Ich liebe die digitale Welt“. Gerade deshalb aber setzt er sich kritisch und argumentativ mit den Hass-Entwicklungen im Netz auseinander. Er tritt ein für „digitale Empathie“ und plädiert dafür, „die eigene moralische Sensibilität zu schulen“. Mit seinem Beitrag „Die Hass-Spirale“ legt er einen Erfahrungsbericht vor, in dem er seine Erfahrungen und Auseinandersetzungen mit Populisten, Verschwörungstheoretikern und Ideologen schildert und Argumente liefert, wie die Vorstellung, dass jedes Individuum ein Selbst und Anderes ist, verwirklicht werden kann. Es sind Visionen, wie sie in dem Gedicht zum Ausdruck kommen: „Lass‘ mich Ich sein, damit du Du sein kannst!“, und wie sie in der Brechtschen Vorstellung verwirklicht werden kann, dass jeder Sender auch gleichzeitig Empfänger und umgekehrt ist. Es ist der Kampf um Deutungshoheiten und Macht, die für andere zur Ohnmacht und zum Fake wird. Und es ist die Aufforderung zum selbstbewussten, ethischen Denken und Handeln: Warten wir nicht „auf Behörden, auf Kirchen, auf Politiker, auf irgendwelche Netzexperten oder irgendwelche schlaue Professoren, sondern nehmen… das Zepter, sprich (das) iPhone, selbst in die Hand“; freilich nicht, um uns berieseln, überrumpeln oder betäuben zu lassen, sondern aktiv und ganzheitlich gegen HassistInnen und ManipulistInnen einzutreten: „Schweigen Sie lauter!“.

Der Netzphilosoph, Blogger und Digitalstratege Sascha Lobo ruft das „Ende der Gesellschaft“ aus, und zwar nicht im Sinne einer resignativen, politischen Verirrung, sondern mit dem hoffnungsvollen und durchaus optimistischen Tenor, dass eine digitale Gesellschaft (eigentlich) Meinungsfreiheit ermögliche. Grundlagen und Elemente einer digitalen, sozialmedialen Öffentlichkeit freilich müssten sein: Wissensbildung, Selbstvergewisserung und Identifikation, und politische Wirkung, die weder den unpolitischen Ohne-mich-Standpunkt, noch das egoistische „Ich-will-alles-und-das-sofort“ beinhalten kann. Sein Aufruf dazu: „Erobert die sozialmediale Gesellschaft zurück!“.

Der investigative Journalist, Medienexperte und Leiter des Recherchenetzwerks von NDR, WDR und SZ, Georg Mascolo, spricht vom „Krieg der Worte“, indem er über „Fakt, Fake und die neue Macht der Lüge“ nachdenkt. Er entwirft ein Szenario, in dem er Fake News, Manipulationen und Propaganda-Nachrichten, wie sie während des US-Wahlkampfes vollzogen wurden und nach zahlreichen Analysen von politischen Beobachtern einen als gefährlich, unberechenbar und sogar krankhaft eingeschätzten Präsidenten hervorgebracht, auf ein Gedankenspiel nach Deutschland überträgt. Was wird daraus? Die Weltmacht „Wut“, Politikverdrossenheit, Ego- und Ethnozentrismus, Rassismus und Populismus. Dagegen antreten, journalistisch, individuell und gesellschaftlich, das braucht Mut und (Lebens-)Kraft: „Optimismus ist eine besondere Form des Muts“.

Die Politikerin und Medienwissenschaftlerin von der Universität St. Gallen, Miriam Meckel, fragt mit dem Beitrag „Der berechenbare Mensch“, was die digitale Evolution mit unserer Individualität und Freiheit macht. Es sind die KI-Phantasien und Entwicklungen, die sich im Spannungsfeld von Mensch und Maschine bewegen, einerseits Befürchtungen hervorrufen, dass die Künstliche die humane Intelligenz überflügeln würde, andererseits die Algorithmen überhaupt den Menschen ersetzen könne. Es sind die Unbestimmtheiten und Unvollkommenheiten, die menschliches Leben ausmacht und bestimmt. Sie mündet in die uralte, philosophische, aktuelle Frage: Darf der Mensch all das tun, was er kann oder zu können glaubt? 

Der Wissenschaftsjournalist und Physiker Ranga Yogeshwar analysiert „Journalismus im Zeitalter der Erregungsbewirtschaftung“. Er verweist auf die verstörende, irritierende aber vielfach wirksame Erfahrung, dass tatsächliche Wahrnehmungen und Ereignisse im Zentrum des Geschehens meist nicht, oder nicht sofort, mit den gleichen Aufmerksamkeiten und Wirkungen wahrgenommen werden, wie bei den medialen Berichterstattungen fernab. Der (gläserne) Mensch liefert seine Durchschaubarkeit selbst und bewirkt so die immer größer und nicht mehr beherrschbarer und kontrollierbarer werdenden Informationsflüsse: „Der Überwachungskapitalismus muss aufhören, denn der Einsatz seiner Überwachungsinstrumente bedroht die Menschenrechte auf der ganzen Welt“.

Als der „Spiegel“ im Juli 2018 in einem Aufmacher einen scheinbaren Aufwacher setzte, dass das bescheidene Abschneiden der deutschen Fußballnationalmannschaft ein Symptom dafür sei, dass auch die bisher starke ökonomische Entwicklung im Land den Bach runter gehe, da kam von ökonomischen und politischen Analysten Widerspruch. Solche Ad-hoc-Interpretationen zeigten ein „Verrutschen von Relevanz und Proportion“ und wären einer objektiven Einschätzung nicht angemessen. Damit sind wir bei Julie Zeh. Die erfolgreiche Schriftstellerin tut sich mit ihrem bisher schon umfangreichen, anerkannten, preisgekrönten Werk besonders dadurch hervor, dass sie mit bemerkenswertem zivilgesellschaftlichem Engagement Gesellschafts- und Demokratietheorie mit literarischen Mitteln betreibt. Mit dem Beitrag „Das Turbo-Ich“ reflektiert sie die Situation des Menschen im Kommunikationszeitalter. Sie fordert die „Conditio humana digitalis“ und zeigt auf, wie ego- und ethnozentrierte, nationalistische, rassistische und populistische Einstellungen zu „Grenzenlosigkeit oder Entgrenzung des übersteuerten Ichs“ führen. Ihr Rat wäre ins Stammbuch der Menschheit zu schreiben: „Besinnen wir uns auf das große Ganze, auf das, was unsere persönliche Existenz übersteigt!“.

Mit dem Schlussbeitrag des Sammelbandes – „Vom Experiment zur Institution“ – informiert Andreas Narr über die Entwicklung und Funktion der 2003 eingerichteten Tübinger Mediendozentur. Die Initiative gründet sich auf der Kooperation des öffentlich-rechtlichen Senders SWR mit der Universität, die sich sowohl in Seminaren und Workshops für Studierende (nicht nur des Journalismus), als auch in öffentlichen Reden von MedienexpertInnen ausdrückt. Einige ausgewählte Vorträge werden im Sammelband präsentiert.

Fazit

Sascha Lobos Appell „Reclaim Social Media“ ist nicht nur ein kritischer Einwurf gegen missbräuchliche und schädliche mediale Entwicklung, sondern auch – wie auch die anderen abgedruckten Beiträge der InhaberIn der Tübinger Mediendozentur von 2015 bis 2019 – eine Aufforderung, den Dystopien der totalen Medienmanipulation eine „digitale Aufklärung“ entgegen zu setzen. Es ist die Sorge, dass nicht nur die „Unbedarften“, gesellschaftlich und politisch Nichtengagierten und Uninteressierten den Verführungen und Handhabungen der digitalen Medien erliegen, sondern auch „die Intellektuellen der Mitte, einst Garanten des Widerstands gegen das antiliberale Denken, (dabei sind) eine antiliberale Anthropologie zu adoptieren, die sie ihren Gegnern, den Unheilspropheten von rechts, formal immer ähnlicher werden lässt“. Die „schöne digitale Welt“ ist nicht zu erreichen durch „anything goes“, sondern nur durch ein kritisches, nachhaltiges, humanes Mittun!

Es wäre denkbar, in schulischen Projekten, in universitären Seminaren und in Kursen der Erwachsenenbildung die Reden der Tübinger Mediendozenturen zu analysieren und sich mit den Fragen auseinander zu setzen, wie wir aktuell und zukünftig mit den Herausforderungen des digitalen Daseins umgehen sollen!

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Es gibt 1706 Rezensionen von Jos Schnurer.

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ISSN 2190-9245