Joseph Stiglitz, Thorsten Schmidt: Der Preis des Profits
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 03.03.2020

Joseph Stiglitz, Thorsten Schmidt: Der Preis des Profits. Wir müssen den Kapitalismus vor sich selbst retten! -. Siedler Verlag (München) 2020. 368 Seiten. ISBN 978-3-8275-0136-3. D: 25,00 EUR, A: 25,70 EUR, CH: 35,90 sFr.
„Der Markt wird es schon richten!“
Diese Überzeugung von den marktregulierenden, kapitalistischen Entwicklungen bestimmte Jahrzehnte lang das Bewusstsein und wirkte als Bollwerk gegen alle warnenden, antikapitalistischen Stimmen, in den USA, den westlichen kapitalistischen und sogar in den kommunistischen und sozialistischen Ländern. Dem neoliberalen Konzept schien nichts entgegen zu stehen, und die Kapitalismuskritik schien höchstens in den neomarxistischen Studierstuben diskutiert und gehört zu werden. Die Berichte an den Club of Rome signalisieren seit 1972, dass die Grenzen des (ökonomischen) Wachstums erreicht seien (Dennis L. Meadows, u.a., Die Grenzen des Wachstums, Stuttgart, 183 S.), die Weltzustandsanalysen der Weltkommissionen warnen, dass wirtschaftliches Handeln nicht mehr als „business as usual“ fortgesetzt werden könne, sondern eine globale tragfähige Entwicklung eingeleitet werden müsse (Brundtland-Bericht der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung, 1987), wie auch die Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ darauf aufmerksam macht, dass die Menschheit vor der Herausforderung stehe, „umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren, kurz: neue Lebensformen zu finden“ (Deutsche UNESCO-Kommission, Unsere kreative Vielfalt, 2., erweit. Ausgabe, Bonn 1997, S. 18).
Der Autor
Der US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger (2001) Joseph Stiglitz ist ein Warner der lokalen und globalen neoliberalen Entwicklung. Der Rezensent Friedhelm Vahsen fasst die Besprechung des 2012 erschienen Stiglitz-Buches „Der Preis des Fortschritts“ zusammen, indem er feststellt: „Insgesamt ein engagiertes, gut zu lesendes Buch, das den Finger in die Wunde der ausufernden, als postindustrielle apostrophierten Industriegesellschaft legt, die aber, wenn auch in veränderter Gestalt, durchaus existent ist“ (www.socialnet.de/rezensionen/14033.php). Diese Einschätzung gilt auch – und heute in deutlicherer Sprache und Notwendigkeit – dem Warnruf über den unangemessenen, menschenunwürdigen Preis des Fortschritts, den Stiglitz 2019 mit dem Originaltitel „Power, People and Profits“ vorgelegt hat und vom Siedler-Verlag 2020 in deutscher Sprache als „Der Preis des Fortschritts“ erschien.
Entstehungshintergrund
Die so genannten „goldenen Zeiten des Kapitalismus“ sind vorbei? Oder feiern sie weiter und in intensiveren Weise als jemals zuvor fröhliche Urständ‘? Die skandalöse, menschenunwürdige Entwicklung, dass die bereits Wohlhabenden immer reicher und die Habenichtse immer ärmer werden, schreitet voran. Alternativen zum Neoliberalismus werden eher zaghaft und im Innerzirkel der Kritiker thematisiert (vgl. z.B. dazu: Klaus Dörre/Christine Schickert, Hrsg., Neosozialismus. Solidarität, Demokratie und Ökologie vs. Kapitalismus, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/26358.php). Stiglitz schaut mit seinen gesellschaftskritischen Arbeiten zuvorderst auf die fortschreitende kapitalistische Situation in den USA, erinnert aber mit seiner Diagnose daran, dass diese ethnozentrierte Entwicklung lokale und globale Auswirkungen hat, „etwa (durch) die massive Expansion des Finanzsektors, die fehlgesteuerte Globalisierung und die immer größere Macht der Märkte“. Er weist darauf hin, dass es zwischen dem Schaffen und Entstehen von Wohlstand und dem Abschöpfen von Wohlstandsgewinnen lokal und global erhebliche Unterschiede gibt, die auf der einen Seite zu unangemessenem Reichtum und Macht und andererseits zu Armut und Ohnmacht führen. Die Konsequenzen daraus sieht Stiglitz nicht in der Abschaffung von ökonomischem Mehrwert-Denken und Handeln, sondern in einer gesellschaftlich, demokratisch und ethisch legitimierten Kontrolle der Wirtschaft durch nationale und internationale staatliche Eingriffe.
Interessant (und als Einschub des Rezensenten verstanden), dass im US-amerikanischen Diskurs zur angebotsorientierten Wirtschaftspolitik der Begriff „Voodoo Economics“ verwendet und mit „fauler Zauber“ übersetzt wird. Es ist ein Beispiel dafür, wie Sprache Meinung und Macht manipuliert. Im Hildesheimer Roemer- und Pelizaeus-Museum (RPM) wird bis zum 17. Mai 2020 die bisher weltweit größte und umfassendste Ausstellung „Voodoo“ gezeigt. Die Ausstellungsmacher wollen damit die falschen Vorstellungen vom Voodoo-Glauben zurechtrücken.
Stiglitz rechnet mit seiner Analyse mit der verqueren, machtpolitischen und kapitalismusaffinen US-amerikanische Wirtschaftspolitik seit Reagan und dezidiert seit Trump ab: „Diese Geringschätzung von Wahrheit, Wissenschaft, Erkenntnis und Demokratie unterscheidet die Regierung Trump und ähnlicher Staats- und Regierungschefs anderswo von Reagan und anderen konservativen Bewegungen der Vergangenheit“. Bei der Suche nach den Ursachen dieser (spezifisch amerikanischen?) Entwicklung wird deutlich: „Ungleichheit ist gewollt. Sie ist nicht unvermeidlich“. Die Herausgabe des Buches in andere Sprachen, eben auch in die deutsche Sprache, verdeutlicht, dass die möglicherweise Vorreiterrolle, die die US-amerikanische neoliberale Wirtschaftspolitik spielte, längst von anderen Regierungen in der Welt übernommen wurde. Der Auffassung, dass es zum kapitalistischen, neoliberalen System keine Alternative gebe, widerspricht Stiglitz heftig: „Es gibt eine Alternative. Eine andere Gesellschaft ist möglich“.
Aufbau und Inhalt
Neben den Vorworten in der Original- und deutschen Ausgabe, gliedert Stiglitz das Buch in zwei Teile. Im ersten Teil werden mit dem Hinweis „Den Kompass verloren“ die Entwicklungen nachgezeichnet, die mit dem Clinton-Spruch „It’s the economy, stupid!“ (Allein die Wirtschaft zählt) zwar nicht am Anfang einer unheilvollen und nicht nachhaltigen Wirtschaftspolitik einzuordnen ist, jedoch den nationalen und globalen Verlauf des Markt-Kapitalismus nachzeichnet. Es ist der Ruf nach einer neuen (Welt-)Wirtschaftsordnung, die Warnungen vor staatlichen Eingriffen in die prägenden Grundlagen der demokratischen Gewaltenteilung, die populistischen Entwicklungen, und nicht zuletzt die Analysen, dass Gesellschaften zerreißen und unregierbar werden. Es sind die gravierenden Differenzen, die sich in dem Slogan „Wohlstand schaffen oder Wohlstand rauben“ artikulieren, und sich in den negativen Auswirkungen von Ungleichheit, Ausbeutung und Marktmacht darstellen. Weil nämlich die Macht des Marktes zu einem politischen Mittel wird. Einen weiteren Aspekt in der Globalisierungskritik bringt Stiglitz ein, indem er auf die ungerechten Entwicklungen beim Handel zwischen den Industrie- und Entwicklungsländern hinweist und Protektionismus, das ungerechte Finanzsystem und der Missachtung des Gemeinwohls dafür verantwortlich macht: „Das Problem liegt nicht darin, dass uns das ökonomische Wissen oder das geeignete Instrumentarium fehlte, sondern in der Politik“. Nicht unwesentlich ist dabei die Auseinandersetzung darüber, welche Vor- und Nachteile, Fortschritte und Irrwege die ständige Weiterentwicklung der neuen Technologien mit sich bringen. Big Data, KI, Datennutzung und Datenklau, Demokratieverlust und weitere sind Folgen, die Gesellschaften spalten und nicht einen; der Ruf nach staatlichen Ordnungssystemen und Regulierungen ist deshalb logisch und konsequent. Die Bemühungen darum allerdings halten sich in Grenzen, weil die wesentlichen Elemente, Grundlagen und Spielregeln nicht auf der globalen, gleichberechtigten Kooperation und Kommunikation beruhen, sondern festgelegt und diktiert werden von den Markt- und Finanzmächten. Es geht nicht um die parallele Einstellung „Der Staat wird’s schon richten!“, sondern um die Erkenntnis: „Der Staat wird immer wichtiger“, und zwar in allen Formen des ökonomischen Handelns: In der Innovations-, der urbanen-, der planetarischen-und der komplexen Ökonomie.
Im zweiten Teil fordert Stiglitz: „Die amerikanische Politik und Wirtschaft erneuern“, immer auch mit dem Blick und die Einbeziehung der Entwicklungen in anderen Ländern und Weltregionen. Überall in der Welt wird an den Fundamenten der Demokratie herummanipuliert. Fake News, Geschichtsverklitterungen, Rechtsverdrehungen, Machtmissbrauch bedrohen die bestmögliche Lebens- und Gesellschaftsform: „Die gegenwärtigen Ordnungsrahmen sind unfair, die benachteiligen einige Gruppen und lassen eine wichtige Dimension des Wohlergehens außer Acht“. Trotz der bedrohlichen, menschenverächtlichen Versuche ist es gut, es mit Stiglitz zu halten: Hoffnung, dass die Menschheit begreifen möge, dass es Besseres gibt. Beispiele für eine dynamische Wirtschaft stellt er vor. Es sind Projekte, die eine Balance von Wachstum und Wohlergehen zeigen, ein Gleichgewicht zwischen Ökonomie und Ökologie favorisieren, Sicherheit und Unabhängigkeit vorstellen, für das bedingungslose Grundeinkommen plädieren, Arbeit als Menschenrecht und -würde einfordern, Chancen- und soziale Gerechtigkeit verbinden, generationsübergreifendes Bewusstsein erzeugen, Formen von Diskriminierung, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit unmöglich machen. Das Ziel: „Ein menschenwürdiges Leben für alle“.
Wenn Stiglitz für sein Heimatland eine „Rückbesinnung auf die Werte und Ideale Amerikas“ erhofft, eine Veränderung weg von konservativistischer und populistischer Politik – „Trump greift die Eckpfeiler unserer Zivilisation an, die uns überhaupt erst groß gemacht haben und die Grundlage des bemerkenswerten Anstiegs unseres Lebensstandards bilden“ – hin zur Förderung des Gemeinwohls, hat er, um das noch einmal zu betonen, immer auch die globale, wirtschaftliche und gesellschaftspolitische Entwicklung im Blick. Trumps „America first“ ist nichts als menschenfeindliche Abgrenzung, egoistische Ausgrenzung, ego- und ethnozentrierte Überheblichkeit. Der Perspektivenwechsel hin zu einem guten Leben für alle Menschen in der Welt ist gefordert. Wir Europäer sollten diesen Aufruf annehmen, um im Vergleich der ökonomischen Entwicklung in den USA, die geschichtlichen und aktuellen Verläufe in Europa zu reflektieren, aus den Fehlern der anderen zu lernen, nicht ein „Europe first“, sondern ein „Human first“ entgegen zu setzen.
Fazit
Der Volkswirtschaftler, Regierungsberater und -mitglied, Chefvolkswirt der Weltbank, Kapitalismuskritiker und Wirtschaftswissenschaftler an der New Yorker Columbia University, Joseph Stiglitz, fasst in dem Buch „Der Preis des Profits“ zusammen, was er über Globalisierung, Wirtschaftswachstum und Ungleichheit im Laufe der Jahrzehnte publiziert, praktiziert und gelehrt hat. Es ist eher nicht vorstellbar, dass diese Veröffentlichung zu seinem 75. Geburtstag ein Vermächtnis sein wolle. Vielmehr ist zu erwarten, dass sich der Autor weiterhin aktiv einmischt in die nationalen und internationalen, lokalen und globalen ökonomischen Entwicklungen. In den auf 69 Seiten notierten Literaturhinweisen werden für den Leser wichtige Bezugspunkte ausgewiesen; das Namensregister erleichtert das Nachschlagen und Weiterarbeiten an einem der wichtigsten, existentiellen, hoffnungsvollen und herausfordernden Fragestellungen für ein menschenwürdiges Leben für alle Menschen: „Es ist noch nicht zu spät, um den Kapitalismus vor sich selbst zu retten“.
Die Wandlungs- und Widerstandsprozesse des von 1997 bis 2000 als Weltbank-Chefökonom tätigen Kritikers der Irrwege und Probleme der ökonomischen, globalen Entwicklung sind bemerkenswert. Sein Contra gegen die neoliberale, US-amerikanische Wirtschafts-, Finanz- und Machtpolitik hat ihn zu einem glaubwürdigen Vertreter des globalen New Deals werden lassen (siehe dazu auch: Jeremy Rifkin, Der globale Green New Deal. Warum die fossil befeuerte Zivilisation um 2028 kollabiert – und ein kühner ökonomischer Plan das Leben auf der Erde retten kann, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/26178.php). Das Buch kann als Lehrstück für alle diejenigen verstanden werden, die darüber nachdenken, ob der Kapitalismus evolutionär verändert oder revolutionär beseitigt werden sollte, für Studierende, Lehrende und Praktizierende. Es ist Innovation und Kompendium zugleich!
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
Mailformular
Es gibt 1693 Rezensionen von Jos Schnurer.