Werner Nickolai: Versöhnen statt strafen - integrieren statt ausgrenzen
Rezensiert von Prof. Dr. Helmut Kury, 08.06.2020
Werner Nickolai: Versöhnen statt strafen - integrieren statt ausgrenzen. Zum Selbstverständnis der Sozialen Arbeit in der Straffälligenhilfe.
Lambertus Verlag GmbH Marketing und Vertrieb
(Freiburg) 2020.
148 Seiten.
ISBN 978-3-7841-3237-2.
D: 18,00 EUR,
A: 18,50 EUR.
Reihe: Basics für Sozialprofis - 10.
Thema
Kriminalität ist ein Thema, das in der breiten Öffentlichkeit weitgehend auf der Ebene von ausgesprochen selektiven Medienberichten über meist schwere, spektakuläre Einzelfälle oder in Zusammenhang mit Kriminalfilmen diskutiert wird. Letztere sind offensichtlich sehr beliebt, was auch in deren weiten Verbreitung zu Hauptsendezeiten im Fernsehen abzulesen ist. Das Bild, das in der breiten Bevölkerung über Straftaten in einer Gesellschaft entsteht, ist vor diesem Hintergrund ausgesprochen verzerrt und hat wenig mit der Kriminalitätswirklichkeit zu tun. Printmedien wollen gekauft werden, sie werden deshalb vor allem das drucken, was „ankommt“. Auch hinsichtlich des Umgangs mit Straffälligkeit, was getan werden sollte, um die Zahl der Straftaten und den dadurch entstandenen Schaden möglichst zu reduzieren, herrschen vor allem einfache Reaktionsmuster vor, die in aller Regel auf eine Verschärfung des Strafrechts, härtere Strafen, hinauslaufen. In diesem Kontext verwundert es nicht, dass auch von politischer Seite meist mit schärferen gesetzlichen Regelungen bzw. entsprechenden Versprechungen auf Kriminalität reagiert wird. Politiker sind vielfach selbst nur wenig differenziert über die Hintergründe von Kriminalität und der Wirksamkeit einzelner präventiver Maßnahmen informiert, wollen vor allem (wieder-)gewählt werden, richten sich deshalb vorwiegend nach dem Wunsch der Mehrheit.
Dabei liegen von kriminologischer Seite inzwischen differenzierte Berichte und Analysen über die Ursachen von straffälligem Verhalten und vor allem auch über wirksame Präventionsmaßnahmen vor, die in der Regel letztendlich auch weniger kostenintensiv sind als ein traditionelles punitives Vorgehen. Wer Straftaten und deren Begehung verhindern will, muss vor allem die Dynamik, wie es zu solchem Verhalten kommt, warum etwa meist jugendliche männliche Täter auf die „schiefe Bahn“ geraten, verstehen lernen. Kriminelles Verhalten entsteht in der Regel im Rahmen der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen, in einem meist erheblich gestörten sozialen Umfeld. Damit wird ein erheblicher Teil der Verantwortung auf die gesellschaftlichen Lebensbedingungen in einem Land bzw. einer Region gelenkt.
Bei sich hier ergebenden weiterführenden Fragen setzt der Sammelband des Autors, der unter dem vielversprechenden Motto steht „Versöhnen statt strafen – integrieren statt ausgrenzen“ an und der von einer sozialarbeiterischen Perspektive ausgeht. Die Einleitung (S. 7–11) macht deutlich, wie sehr der Autor nach 45 Jahren sozialer Arbeit in dieser Thematik erfahren ist. So hat er allein 15 Jahre als Sozialarbeiter in der zentralen Jugendvollzugsanstalt Adelsheim in Baden-Württemberg gearbeitet, war danach bis zu seiner Pensionierung 30 Jahre an der Katholischen Hochschule in Freiburg als ausgesprochen innovativer Lehrender tätig, wofür die vielen von ihm angeregten internationalen Projekte zu den Themen Strafvollzug, Sport- und Erlebnispädagogik, Sozialarbeit im Nationalsozialismus oder Gedenkstättenpädagogik sprechen. Die Glaubwürdigkeit seiner Ausführungen wird auch dadurch gesteigert, dass Nickolai selbst, wie er in der Einleitung ausführt (S. 8) aus belasteten sozialen Verhältnissen kommt. Er hatte das Glück, gefördert zu werden. „Pädagogik verwirklicht sich in der personalen Begegnung zwischen ErzieherIn und zu Erziehenden“ (S. 8). Zielstrebig hat er sich über mehrere Stufen bis zum Professor an der Fachschule in Freiburg hochgearbeitet, gilt als kritischer Experte zu Fragen der Kriminalprävention und Freiheitsstrafe bei jungen Menschen.
Die Tätigkeit als Sozialarbeiter im Jugendstrafvollzug nährte bei ihm die Zweifel an dessen Sinnhaftigkeit, seither plädiert er gut begründet für dessen Abschaffung. So setzte er sich, entgegen teilweise gegenläufiger Bestrebungen, etwa auch als Vorsitzender der Katholischen Bundesarbeitsgemeinschaft Straffälligenhilfe im Deutschen Caritasverband für eine Heraufsetzung des Strafmündigkeitsalters auf 16 Jahre ein, das Verbleiben von Heranwachsenden im Jugendgerichtsgesetz, die Streichung des Jugendarrests, eine Beschränkung der Jugendstrafe auf fünf Jahre, deren Vollstreckung in einer Jugendhilfeeinrichtung, eine Ablehnung der (nachträglichen) Sicherungsverwahrung für Heranwachsende und einen Ausbau der Vermeidung von Untersuchungshaft bei jungen Menschen. „Sozialarbeit ist ein helfender Beruf. Ihre Aufgabe ist es, zu verstehen, warum jemand straffällig geworden ist. Nur vor dem Hintergrund des Verstehens ist eine adäquate Hilfe überhaupt erst möglich … Sozialarbeit als helfender Beruf gelingt nur in einer guten Beziehung – Sozialarbeit ist Beziehungsarbeit“ (S. 10).
Aufbau und Überblick – Inhalt
Der Band enthält in vier Abschnitten früher veröffentlichte Aufsätze des Autors zu den Themen „Straffälligenhilfe“ (S. 13–50), „Strafvollzug“ (S. 51–86), „Sozialarbeit und Nationalsozialismus“ (S. 87–94) und „Gedenkstättenpädagogik“ (S. 95–143).
Bereits im ersten Kapitel plädiert der Autor für „Integration statt Repression“ (S. 13–23). Vor dem Hintergrund des Bundestagswahlkampfes 1998 macht Nickolai deutlich, wie das Thema Kriminalitätsfurcht im Kontext einseitiger Medienberichterstattung für politische Zwecke eingesetzt wird. Probleme der Registrierung von Kriminalität in Zusammenhang mit dem Anzeigeverhalten der Bevölkerung werden kritisch diskutiert. Nickolai stellt die kritische Frage, ob nicht auch die Art und Weise der Diskussion von Jugendkriminalität in der Öffentlichkeit bereits eine Gefährdung von Kindern und Jugendlichen darstelle. Das Hineinwachsen in die Erwachsenenwelt sei heute schwieriger geworden. Traditionelle Lebensentwürfe und damit auch die Familie würden an Einfluss verlieren. Es werde nicht auf die „Probleme, die Jugendliche haben, sondern auf die Probleme, die sie machen“ reagiert (S. 17). An Einzelbeispielen wird gezeigt, wie „der sozialpolitische Wille, den stattfindenden Desintegrationsprozessen entgegenzuwirken, kaum mehr vorhanden“ ist, vor allem auch vor dem Hintergrund einer punitiven Einstellung in der Öffentlichkeit (S. 18). Nicht die Straftat, sondern die Problematik des Jugendlichen sollte im Zentrum der Aufmerksamkeit für Hilfsmaßnahmen stehen (S. 19). Nickolai belegt anhand wissenschaftlich veröffentlichter Forschungsergebnisse, dass der „Glaube, dass mit härteren Strafen Kriminalität effektiv zurückgedrängt werden kann … auch wenn er in der Bevölkerung und Politik weit verbreitet ist, ein Irrglaube“ sei. Frühzeitige Intervention und mehr Prävention bei jungen auffälligen Menschen benötigen im Kontext von vielfacher zeitlicher Überlastung vor allem mehr Unterstützung von Familien, Schulen und Jugendarbeit durch Fachleute.
Das zweite Kapitel widmet sich dem Thema „Die Täter verstehen“ (S. 25–31). Der Autor geht kritisch auf immer wieder aufkommende Tendenzen ein, die Jugendstrafe zu erhöhen bzw. das Strafmündigkeitsalter abzusenken. Es gehe darum, Verständnis für jugendliche Gewalttäter zu gewinnen, denn nur dann sei ein Zugang und in der Folge eine Änderung bei diesen möglich. Der Autor diskutiert zunächst unterschiedliche Aspekte von Gewalt. Die Einstellung zu Gewalt habe sich in den Jahrzehnten „dramatisch geändert“, Schulkonflikte unter Schülern würden heute etwa vermehrt angezeigt (S. 27). Eine Erziehung ohne Gewalt sei Mitte des letzten Jahrhunderts „nicht vorstellbar“ gewesen. Der typische Gewalttäter sei „männlich und jung, wohnt in der Großstadt, verübt seine Gewalttat meist aus der Gruppe heraus und steht dabei häufig unter Alkoholeinfluss“ (S. 27). Bei inhaftierten Tätern zeige sich ein „Syndrom der sozialen Beziehungslosigkeit“, etwa mit erlebtem inkonsistentem Erziehungsstil und häufigem Wechsel der Erziehungspersonen (S. 28) [1]. Wesentliche Ergebnisse aus vorhandenen Untersuchungen werden dargestellt und diskutiert.
In Kapitel drei geht der Autor auf Aspekte von Sozialarbeit in Zusammenhang mit der Gruppe rechtsextremistischer Jugendlicher ein, ein bis heute ausgesprochen aktuelles Thema (S. 33–40). Gerade bei dieser Gruppe werde versucht, parteiübergreifend eine harte Sanktionspolitik umzusetzen, obwohl der Strafvollzug das „untauglichste Mittel (sei), rechtsextremistische Jugendliche und Heranwachsende zur Umkehr zu bewegen“ (S. 33). Gerade bei jungen Inhaftierten werde, auch aus der Fachwissenschaft, mehr offener Vollzug gefordert. Strafvollzug sei vor allem mit erneuter Ausgrenzung, Gewalt und Diskriminierung verbunden. Rechtsextremistische Jugendliche im Strafvollzug könnten auch von der Sozialarbeit nur schwer erreicht werden. Klare, allgemein anerkannte Konzepte eines Umgangs mit dieser Gruppe würden nicht vorliegen. Den anderen zu verstehen, was Aufgabe der Sozialarbeit sei, bedeute nicht, seine Einstellung zu unterstützen. Wichtig sei es auch, die eigene gesellschaftliche Beteiligung an dem „Symptom“ des Rechtsextremismus zu verstehen. „Wir leben in einer Welt, die voll von Gewalt ist“ (S. 38).
Kapitel vier wendet sich einem Thema zu, in dem der Autor immer wieder aktiv wurde, der „Erlebnispädagogik in der Straffälligenhilfe“ (S. 41–50). Es wird zunächst ein kurzer Überblick über die Entwicklung des Ansatzes gegeben. Bereits in den 1920er Jahren sei versucht worden, reformpädagogische Grundsätze im Jugendgefängnis in Hamburg umzusetzen, die bis heute nachwirken würden. Heute sei die Erlebnispädagogik wieder populär, vor allem in der Sozialen Arbeit, habe auch mehr und mehr in den Jugendstrafvollzug Eingang gefunden. Gerade Jugendkriminalität habe vielfach mit mangelnder Action, Spannung und Anregung zu tun, einem Bedürfnis Jugendlicher, dem Erlebnispädagogik entgegenkommen könne. Jugendliche aus unteren sozialen Schichten könnten sich keine „Abenteuerreise“ leisten. „Erlebnispädagogik soll und will Jugendlichen Abenteuer und Erfahrungen ermöglichen, die nicht vor den Richter führen“ (S. 44). Für den Jugendstrafvollzug seien „erlebnispädagogische Unternehmungen unverzichtbar“ (S. 44). Die totale Versorgung im Strafvollzug erziehe eher zu Unselbstständigkeit, den Inhaftierten werde vor dem Hintergrund der Prinzipien Sicherheit und Ordnung grundsätzlich misstrauisch begegnet, auf Seite der Insassen als auch des Personals würden sich so Feindbilder etablieren. Nach wenigen Tagen erlebnispädagogischer Erfahrung könnten sich die Beziehungen zwischen Inhaftierten und Personal erheblich verändern. Die Rückkehr nach einem Erlebniskurs in die „Häftlingsidentität“ könne allerdings schwierig werden. Vielfach fehle es noch an einem validen wissenschaftlichen Nachweis der langfristigen Wirkung einzelner Maßnahmen.
Im zweiten Abschnitt, Strafvollzug, begründet der Autor im ersten Kapitel seine Sichtweise zur Abschaffung des Jugendstrafvollzugs (S. 51–62). Erziehung habe im Jugendstrafvollzug kaum Raum. Die größte Berufsgruppe, der allgemeine Vollzugsdienst, habe sich um die Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung zu kümmern. Unter Fachleuten bestehe weitgehend Einigkeit darüber, dass die Inhaftierung Jugendlicher eher nachteilige Folgen hinsichtlich einer Resozialisierung habe, je länger sie dauert, umso gravierendere. Verantwortungsübernahme etwa könne in der totalen Institution Strafvollzug nicht gelernt werden. Nur wo Beziehung hergestellt werden könne, was im Strafvollzug kaum möglich sei, könne jedoch Erziehung erfolgen. Trotz klarer Erkenntnisse folge die Kriminalpolitik nach wie vor dem Konzept der Bestrafung, obwohl Alternativen deutlich günstigere Ergebnisse hinsichtlich eines Rückfalls zeigen. „Der Jugendstrafvollzug ist eine Institution, die physisch wie psychisch Gewalt ausübt, die, hierarchisch gegliedert, den Jugendlichen an den untersten Platz verweist“ (S. 55). Diese ihm bekannte gesellschaftliche Position habe mit dazu beigetragen, dass er zum Straftäter geworden ist. Abweichendes Verhalten, Gewalt würden im Vollzug eher verfestigt [2], lägen im Jugend- höher als im Erwachsenenvollzug. Der Jugendstrafvollzug sei strukturell nicht reformierbar. „Es bleibt mir nur, für seine Abschaffung zu plädieren … Ich bin fest davon überzeugt, dass sich der Erziehungsgedanke mit dem staatlichen Anspruch auf Strafe nicht vereinbaren lässt“ (S. 56). Bereits seit über 10 Jahren bestünde in Baden-Württemberg für jugendliche und heranwachsende Täter die Möglichkeit, ihre Strafe in einer Jugendhilfeeinrichtung zu verbüßen, mit großem Erfolg, was zu einer Ausweitung des Ansatzes auf andere Bundesländer geführt habe. Ausländische Erfahrungen aus Dänemark, Norwegen oder Schweden würden zeigen, dass auf den Jugendstrafvollzug verzichtet werden könne, auch die Schweiz sei in ihrer Entwicklung hinsichtlich eines konstruktiveren Umgangs mit jugendlicher Straffälligkeit weiter.
In einem weiteren Kapitel geht der Autor auf die Bedeutung von Sport im Jugendstrafvollzug ein, berichtet aus seiner eigenen Erfahrung als Sozialarbeiter im Jugendstrafvollzug (S. 63–74). In der 1974 eröffneten „Musteranstalt“ in Adelsheim habe er die Möglichkeit geboten bekommen, den Sport und vor allem Erlebnispädagogik aufzubauen. Mehr als 70 % der Inhaftierten hätten regelmäßig am Sport teilgenommen, was dessen Bedeutung im Jugendstrafvollzug deutlich mache. Durch Sport könnten vor allem auch soziale Regeln und soziales Verhalten vermittelt werden. Soziales Lernen sei im Gemeinschaftssport wie Fußball vor allem dann möglich, wenn die Regeln gemeinsam besprochen werden und wenn dies in einer durch Empathie getragenen Atmosphäre geschieht. „Der Sport ermöglicht, wie kaum ein anderes Medium, einen Zugang zu den Gefangenen, den es zu nutzen gilt“ (S. 65). Wichtig sei auch die Einbindung in einen Sportverein außerhalb der Anstalt. Seit 1977 bietet die Adelsheimer Jugendvollzugsanstalt erlebnispädagogische Projekte an. Schwierigkeiten der Integration in die Gesellschaft werden deutlich, wenn der Autor darauf eingeht, dass nur wenige Haftentlassene außerhalb des Vollzugs Zugang zu Sportvereinen finden.
Den Umgang mit rechtsextremen Jugendlichen im Zusammenhang mit Freiheitsentzug diskutiert Nickolai im folgenden Kapitel (S. 75–78). Vor allem nach der Wiedervereinigung sei es zu einem Anstieg rechtsextremistischer und ausländerfeindlicher Straftaten gekommen. Der Autor betont auch hier, der Strafvollzug sei wenig tauglich, rechtsextremistische Jugendliche zu einer Änderung zu bewegen. „Einsperrung heißt immer auch Aussperrung vom normalen sozialen Leben…“ (S. 76). Der Strafvollzug benachteilige Nichtdeutsche in erheblichem Maße, sie würden deutlich mehr diskriminiert als Deutsche. Im Jugendstrafvollzug würden vorhandene Vorurteile eher verstärkt als gemildert. Eine teilweise vorhandene latente Fremdenfeindlichkeit unter Vollzugsbeamten würde entsprechende Einstellungen bei den Inhaftierten vor dem Hintergrund des hohen Anteils von Ausländern verstärken.
Das folgende Kapitel ist vom Autor zusammen mit J.E. Schwab verfasst, beschäftigt sich mit dem „professionellen Selbstverständnis von Sozialarbeitern im Strafvollzug“ (S. 79–86). Sozialarbeit habe vielfach ein doppeltes oder mehrfaches Mandat zu erfüllen mit unterschiedlichen Erwartungen, es gehe „um das individuelle Wohl des Klienten, aber es geht auch um das Gemeinwohl“ (S. 79). Sozialarbeiter helfen etwa bei der Integration von Individuen, üben aber gleichzeitig soziale Kontrolle aus, was das Vertrauensverhältnis zum Klienten belasten kann. Die Autoren diskutieren vor allem die Problematik des vermehrten Mandats im Strafjustizsystem, wo sie besonders offenkundig wird. Sozialarbeiter helfen in diesem Bereich, tragen aber gleichzeitig auch zu Sanktionen bei. In Wirklichkeit käme noch ein drittes Mandat hinzu, die Forderung nach wissenschaftsbegründeter Arbeitsweise, nach Ausrichtung am Berufskodex und Gesichtspunkten der Menschenrechte. Weiterhin seien auch berufsethische Prinzipien zu beachten. Bei Berücksichtigung der Mandate ergebe sich die Frage, ob Sozialarbeit im Strafvollzug überhaupt noch möglich sei. Es stelle sich die grundsätzliche Frage, „ob Sozialarbeiter im Strafvollzug arbeiten sollen“, denn diese Institution ziele darauf ab, „die Identität des Menschen zu beschädigen. Sozialarbeiter kommen in dieser Institution in nicht unerhebliche Rollenkonflikte“ (S. 83). Besonders problematisch werde es, wenn Sozialarbeiter in leitende Funktionen im Strafvollzug aufsteigen und Disziplinarbefugnisse erhalten. Sozialarbeiter, die nicht im Strafvollzug beschäftigt seien, externe, hätten mehr Chancen auf Vertrauen seitens der Inhaftierten als Angestellte der Anstalt.
Abschnitt drei beschäftigt sich in einem Kapitel mit einer weiteren Thematik, mit der sich der Autor über Jahrzehnte beschäftigt hat, „Sozialarbeit und Nationalsozialismus“ (S. 87–94). Der Nationalsozialismus habe bis in die 1980er Jahre in der Sozialarbeit so gut wie keine Rolle gespielt. Viele Pioniere der Sozialarbeit seien während des Nationalsozialismus in die USA emigriert. In der Nachkriegszeit sei von sozialarbeiterischer Seite vielfach völlig unkritisch mit dem Nazi-Regime umgegangen worden bzw. die Zeit sei in Darstellungen ausgespart worden. Nazigrößen seien später teilweise wieder in Amt und Würden gekommen. Die Sozialarbeit habe sich, wie an vorliegenden Untersuchungen belegt wird, im Dritten Reich an „sozialrassistischen und menschenverachtenden Verbrechen“ beteiligt, habe „zur Stabilisierung des NS-Staates und zur Umsetzung nationalsozialistischer Gesellschaftspolitik einen wichtigen Beitrag geleistet“, habe in der „Gesundheitsfürsorge (einen) wesentlichen Anteil an der Tötungsmaschinerie für das sogenannte ‚unwerte Leben‘“ gehabt (S. 88 f.). Nickolai betont, dieser Teil der Berufsgeschichte müsse auch heute noch, etwa in der Lehre, zur Sprache kommen. Teilweise hätten einzelne ehemalige NS-Heime ihre Geschichte inzwischen zumindest ansatzweise aufgearbeitet. Der Autor schildert in Stichworten eigene Aktivitäten in dem Bereich, leitet zum letzten Abschnitt des Bandes, der „Gedenkstättenpädagogik“ über.
Zunächst beschäftigt sich Nickolai in diesem Tätigkeitsbereich mit dem Thema „Gedenkstättenarbeit und Sozialpädagogik“ (S. 95–112). Der Autor geht zunächst auf seinen eigenen Zugang zu der Thematik ein und beschreibt dann ein Projekt, das er zusammen mit einer Jugendeinrichtung und der Katholischen Fachhochschule in Freiburg entwickelt hat. 1986 sei ihm ein Projekt zusammen mit Jugendstrafgefangenen und Studierenden in Auschwitz angeboten worden, vor dem Hintergrund seiner noch geringen Kenntnisse über den Nationalsozialismus. Die Sozialarbeit habe im Kontext des Auftretens rechtsorientierter gewaltbereiter Jugendlicher begonnen, sich mit der Aufarbeitung der Geschichte des Nationalsozialismus zu beschäftigen. 1986 und im folgenden Jahr ist der Autor dann erstmals u.a. auch mit straffälligen Jugendlichen nach Auschwitz gefahren, Unternehmen, die teilweise auch auf Widerstand gestoßen sind. Der Besuch in Auschwitz habe ihn bestärkt in seinem Kampf gegen Ausgrenzung von Einzelnen oder Gruppen, in seinem Bemühen um Integration. Der Einsatz wird vom Autor überzeugend in Verbindung mit eigenen Erfahrungen in einem Kinderheim gebracht, einer „über zwei Jahrzehnte in unterschiedlichsten Formen erlebte Ausgrenzung“ (S. 100). In den 19 Jahren in verschiedenen Heimen habe er selbst nie geschlagen, „was nicht heißen soll, dass ich nicht geschlagen worden wäre. Dies blieb insbesondere den Ordensschwestern vorbehalten“ (S. 100). Im weiteren Teil beschreibt der Autor das Projekt „Für die Zukunft lernen“, in welchem es um einen umfangreich vorbereiteten Besuch mit Jugendlichen in Auschwitz ging. Das Besuchsprogramm wird vorgestellt und diskutiert, enthält auch ein Treffen mit einem Zeitzeugen. Der Umgang der vielfach rechts eingestellten Jugendlichen mit der Situation vor Ort wird kritisch erörtert, die Frage nach dem langfristigen Erfolg solcher Projekte diskutiert.
In einem weiteren Kapitel schildert Nickolai die Erfahrungen mit Marco, einem „Skinhead in Auschwitz“, der sich auch an rechtsextremen Ausschreitungen gegen Flüchtlinge in Rostock-Lichtenhagen beteiligt hat (S. 113–130). Die Hintergründe abweichender Einstellungen und Verhaltensweisen der ostdeutschen Jugendlichen, vor allem deren erlebte Perspektivlosigkeit, das Gefühl, alleingelassen worden zu sein, wurden in Gruppen mit westdeutschen Jugendlichen erörtert. Die Fahrt mit der Jugendgruppe nach Auschwitz unter Teilnahme eines Skinheads bedurfte einer umfangreichen Vorbereitung und Klärung von Erwartungen. Erfahrungen im Rahmen eines Besuches in Auschwitz dürften nicht überbewertet werden, sie könnten nur ein „langsames Herausschleichen“ aus rechtsextremen Einstellungen einleiten (S. 121). Die Erfahrungen mit dem Skinhead zeigten auch Möglichkeiten für einen Einstellungswandel auf, dieser habe sich mehr auf das Projekt eingelassen, als er anfangs wollte. 19 Jahre nach dem Auschwitz-Besuch fand ein Interview mit Marco statt, Nickolai berichtet wesentliche Inhalte daraus. Hierbei zeigt sich, dass der Besuch in Auschwitz deutliche positive Nachwirkungen bis heute auf die Einstellungen von Marco, etwa zu Immigranten, hat.
Im folgenden Beitrag schildert der Autor die Erfahrungen mit Jugendlichen, unter anderem Insassen der Jugendanstalt Adelsheim, in Auschwitz, wobei es vor allem um eine Begegnung im Rahmen eines Fußballspiels zwischen polnischen und deutschen Jugendlichen geht („Fußballspielen in Auschwitz“, S. 131–137). Deutlich wird die politische Sensibilität bei solchen Unternehmungen. Gleichzeitig zeigt sich hier aber auch deutlich die Bedeutung solcher sportlichen Aktivitäten für die Verständigung, die etwa gemeinsame andauernde Partnerschaften fördern kann. Ein Grußwort von Jürgen Klinsmann, in welchem er vor allem auch auf die völkerverständigende Bedeutung solcher sportlichen Aktivitäten eingeht, schließt den Beitrag ab.
Ein Interview des Autors und Thomas Köck als Vorstandsmitglieder des Vereins „Für die Zukunft lernen – Verein zur Erhaltung der Kinderbaracke Auschwitz-Birkenau“ mit der Badischen Zeitung aus dem Jahr 2018 schließt den Band ab. Angesprochen werden vor allem neuere Angriffe im Zusammenhang mit fremdenfeindlichen Motiven und die heutige Bedeutung von Besuchen in Konzentrationslagern wie Auschwitz. Welche Rolle spielen rechtsextreme Parteien? Erinnerungsarbeit dürfe nicht nachlassen, habe auch zu fruchtbaren Städtepartnerschaften geführt.
Der Band beschäftigt sich in 13 einzelnen, im Zeitraum von 1993 bis 2018 von Nickolai veröffentlichten kritischen Texten vor allem mit den Themen Jugendkriminalität, Strafvollzug und Umgang mit rechtsextremen Einstellungen bei Jugendlichen. Die einzelnen Kapitel zeigen die breite Palette der von Nickolai in seinem Berufsleben bearbeiteten Themen. Vor dem Hintergrund seiner eigenen Lebensgeschichte und seiner langjährigen beruflichen Erfahrung mit Jugendlichen Straftätern zeigt der Autor ein tiefes, von emotionalem Einfühlungsvermögen getragenes Verständnis für die Probleme dieser Gruppe, für deren Eingliederung in die Gesellschaft er mutig eintritt, auch gegen Widerstände „von oben“. Seine durchgehende Botschaft ist in Übereinstimmung mit einem Großteil der empirisch-kriminologischen Forschung: Strafvollzug bei Jugendlichen schadet mehr als er nützt.
Diskussion
Nickolai spricht deutlich die komplexen Hintergründe von Jugendkriminalität an und zeigt in diesem Kontext Wege auf, wie man Jugendlichen aus der schwierigen Lebensphase mit deutlich abweichendem Verhalten heraushelfen kann. Zurecht betont er die Bedeutung von Verständnis, Zuwendung oder Unterstützung. Er belegt deutlich den Erfolg eines Zugangs etwa über den Sport bzw. gemeinsame Aktivitäten im Rahmen einer Erlebnispädagogik. Auch seine Forderung nach einer Abschaffung des Jugendstrafvollzugs kann er gut und weitgehend überzeugend begründen, allerdings dürfte der Weg dahin lang sein. Kriminalpolitik richtet sich vor allem nach dem mehrheitlichen Wunsch einer wenig und einseitig über Kriminalität informierten Öffentlichkeit, wie der Autor selbst betont. Vielfach sind Kriminalpolitiker selbst wenig über Jugendkriminalität und wie man möglichst konstruktiv hinsichtlich einer Prävention damit umgeht, informiert, oder stellen Bedenken vor dem Wunsch einer (Wieder-)Wahl zurück. Wie wäre sonst erklärbar, dass die CSU-Landesgruppe im Deutschen Bundestag [3] auf ihrer Klausurtagung Anfang Januar 2020 eine Herabsetzung des Strafmündigkeitsalters unter 14 Jahre in Fällen, in denen ein Kind eine schwere Straftat begeht, forderte [4]. Offensichtlich muss hinsichtlich Veränderungen in der Kriminalpolitik vor allem bei der Öffentlichkeit angesetzt werden. Wenn diese ihre Einstellung vor dem Hintergrund von mehr Information ändert und mehr Verständnis für die Problematik hat, kann eine populistische Politik auch nicht mehr auf Erfolg hoffen – wie ja Beispiele aus der Vergangenheit bereits gezeigt haben. Hier kann der verständlich geschriebene Band von Nickolai deutlich weiterhelfen. Veränderungen sind bei straffälligen Jugendlichen vor allem dann zu erreichen, wenn Vertrauen und Verständnis aufgebaut werden kann, wie der Autor zurecht betont.
Fazit
Der Band von Nickolai spricht kritisch aber überzeugend die eingeschränkten Möglichkeiten einer Kriminalprävention durch den Jugendstrafvollzug und „mehr Strafe“ an. Alternativen, auf die er hinweist, zeigen deutlich bessere Ergebnisse. Da stimmen seine Analyseergebnisse weitgehend mit dem Großteil wissenschaftlicher kriminologischer Untersuchungen überein. Eine Inhaftierung kann vor allem auch negative Auswirkungen auf die Familie des Inhaftierten haben, etwa auf Geschwister [5], ein Aspekt, der von Nickolai weniger angesprochen wird. Obwohl einige der in dem Band veröffentlichten Texte bereits vor etwa über zwei Jahrzehnten geschrieben wurden, haben sie nichts an Aktualität verloren, was auch auf die Notwendigkeit von konstruktiven Reformen hinweist. Hier gibt der Band zahlreiche Anregungen.
Der Band ist allen zu empfehlen, die an einer kritischen Diskussion hinsichtlich des Umgangs mit Jugendkriminalität interessiert sind, nicht nur Fachleuten der Kriminologie. Der Autor begründet allgemein verständlich und überzeugend die mangelnde Wirksamkeit des gegenwärtigen Sanktionssystems in Bezug auf jugendliche Straffällige. Gleichzeitig weist er an verschiedenen Beispielen überzeugend auf konstruktivere Möglichkeiten der Kriminalprävention in dem Bereich hin.
Das Gesamturteil ist vor diesem Hintergrund: Sehr empfehlenswert.
[1] Vgl. hierzu zu Befragungsergebnisse in der Jugendanstalt Adelsheim, in welcher Nikolai gearbeitet hat und die seine Ausführungen bestätigen: Kury, H. (1979). Sozialstatistik der Zugänge im Jugendvollzug Baden-Württemberg. Berichte aus dem Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht, Freiburg, Nr. 8.
[2] Vgl. Kury, H. (2020). Umgang mit psychischen Erkrankungen im (Jugend-)Strafvollzug. Zeitschrift für Jugendkriminalrecht und Jugendhilfe – ZJJ 31, 36–43.
[3] CSU-Landesgruppe im Deutschen Bundestag (2020). Unsere Politik für einen starken Staat und eine wehrhafte Demokratie – für ein neues Jahrzehnt der Souveränität.
[4] Kury, H. (2020). Zu den Folgeschäden von Freiheitsstrafen. Auswirkungen einer Inhaftierung auf die eigene Familie. Zur Veröffentlichung eingereicht.
[5] Vgl. Kury, H. (2020). Frauen und Kinder von Inhaftierten. Eine internationale Perspektive. Forum Strafvollzug. Zeitschrift für Strafvollzug und Straffälligenhilfe 69, 31–35.
Rezension von
Prof. Dr. Helmut Kury
Universität Freiburg, Max Planck-Institut für ausländisches
und internationales Strafrecht (pens.)
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Zitiervorschlag
Helmut Kury. Rezension vom 08.06.2020 zu:
Werner Nickolai: Versöhnen statt strafen - integrieren statt ausgrenzen. Zum Selbstverständnis der Sozialen Arbeit in der Straffälligenhilfe. Lambertus Verlag GmbH Marketing und Vertrieb
(Freiburg) 2020.
ISBN 978-3-7841-3237-2.
Reihe: Basics für Sozialprofis - 10.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/26592.php, Datum des Zugriffs 25.01.2025.
Urheberrecht
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