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Frank Sowa (Hrsg.): Figurationen der Wohnungsnot

Rezensiert von Dipl. Soz.-Arb. Monica Wunsch, 23.08.2022

Cover Frank Sowa (Hrsg.): Figurationen der Wohnungsnot ISBN 978-3-7799-3919-1

Frank Sowa (Hrsg.): Figurationen der Wohnungsnot. Kontinuität und Wandel sozialer Praktiken, Sinnzusammenhänge und Strukturen. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2020. 250 Seiten. ISBN 978-3-7799-3919-1. D: 29,95 EUR, A: 30,80 EUR, CH: 33,75 sFr.

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Thema

Wohnen ist eins der wichtigsten Themen, nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Die Wohnsituation der Menschen betrifft ihre Lebensqualität, Gesundheit und soziale Integration unmittelbar. Das menschliche Grundbedürfnis Wohnen hat sich in den letzten Jahrzehnten zunehmend zu einer Ware entwickelt. In der gesellschaftlichen Diskussion geht es dabei oft um mangelnden Wohnraum, hohe Mieten, die Mietpreisbremse sowie steigende Immobilienpreise. Recht auf Wohnen, geschweige denn Recht auf bezahlbaren Wohnraum, kennt das deutsche Grundgesetz nicht.

Die Grundrechte aus Art. 13 GG zur Unverletzlichkeit der Wohnung und aus Art. 14 Abs. 1 GG zum Schutz des Eigentums und des Erbrechts knüpfen an den Besitz oder das Eigentum einer Wohnung an, enthalten aber kein Recht auf Wohnraum. Aus dem in Art. 20 Abs. 1 GG verankerten Sozialstaatsprinzips lässt sich ebenfalls kein Recht auf Wohnraum ableiten.

Ein Anspruch auf Unterkunft besteht in Bezug auf die Sicherung des menschenwürdigen Existenzminimums bei Hilfsbedürftigkeit. Dieses Grundrecht besteht in Folge des Sozialstaatsprinzips i.V.m. der Menschenwürde aus Art. 1 Abs. 1 GG. Hier eröffnet sich dem Gesetzgeber ein großer Gestaltungsspielraum bei der Konkretisierung. Einige Landesverfassungen sehen ein explizites Recht auf eine angemessene Wohnung oder Wohnraum vor, ein subjektives Recht (auf staatliche Bereitstellung einer Wohnung) besteht allerdings nicht. Hier ist der Staat verpflichtet, in einer Gesamtstrategie durch gesetzliche und politische Maßnahmen darauf hinzuwirken, dass alle Menschen ihr Recht auf angemessenen Wohnraum wahrnehmen können. Die Angemessenheit einer Unterkunft bemisst sich an sieben Kriterien: der gesetzliche Schutz der Unterkunft, die Verfügbarkeit von Diensten, die Bezahlbarkeit des Wohnraums, seine Bewohnbarkeit, der diskriminierungsfreie Zugang, ein geeigneter Standort und die kulturelle Angemessenheit.

Wenn Menschen keine Möglichkeit haben, irgendwo unterzukommen und nicht auf der Straße leben wollen, besteht eine ordnungsrechtliche Unterbringungsverpflichtung der Kommunen. Die Kriterien der Angemessenheit können dabei oftmals nicht eingehalten werden.

Forderungen einzelner Bundestagsfraktionen zur Aufnahme sozialer Grundrechte wie dem Recht auf eine menschenwürdige und diskriminierungsfrei zugängliche Wohnung und auf Versorgung mit Wasser und Energie, sowie einkommensgerechter Miete bleiben bisher unbeachtet.

Auch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (EUGRCh) hat ein Recht auf Wohnung bewusst nicht mit aufgenommen. Lediglich die finanzielle Unterstützung für eine Wohnung ist nach Art. 34 Abs. 3 EUGRCh garantiert.

Umso wichtiger ist es den aktuellen Diskurs zum Thema Wohnen wissenschaftlich umfassend zu beleuchten, sozioökonomische Auswirkungen des prekären Wohnens und mangelnden Wohnraums als Ursache sozialer Ungleichheit im gesamtpolitischen Kontext zu analysieren und Gegenmaßnahmen, auch gegen das unersättliche Steigen der Immobilien- und Mietpreise zu ergreifen.

Nicht-Wohnen und Noch-Wohnen gehen mit Armut Hand in Hand. Menschen, die ihre Wohnung verloren haben oder nie eigenen Wohnraum hatten, sind teilweise in öffentlichen Straßenszenen sichtbar. Integrierter und teilhabender Bestandteil der Gesellschaft sind sie nicht. Menschen, die sich zwar noch in einer Wohnung aufhalten, aber nicht wissen, ob sie das auch in Zukunft noch können, haben Angst, fühlen sich unsicher, fühlen und erleben hohen Druck, kämpfen um den Erhalt der Arbeitsstelle unabhängig der Rahmenbedingungen um ihren Wohnraum halten zu können. Hierdurch werden die Betroffenen oftmals psychisch und/oder physisch krank. Sie können sich aufgrund des komplexen unsicheren Gefüges nicht mehr aktiv in die Gesellschaft einbringen und entwickeln sich sukzessive zu Nicht-Mehr-Teilhabenden, zu Ausgegrenzten.

Der hier vorliegende Sammelband „Figurationen der Wohnungsnot Kontinuität und Wandel sozialer Praktiken, Sinnzusammenhänge und Strukturen“ ist Teil des Auseinandersetzungsprozesses, eröffnet umfangreiche fundierte wissenschaftliche Analysen

zum Thema Wohnungsnot, zeigt die reziproken Zusammenhänge von ökonomischen, politischen und individuellen Interessen im sozialpolitischen und gesellschaftlichen Kontext auf und eröffnet konstruktive Lösungsansätze. Hierbei bezieht er internationale und vergleichende Forschungen mit ein.

Herausgeber

Frank Sowa, Professor Dr. phil., Lehrgebiet der Soziologie an der Fakultät Sozialwissenschaften der Technischen Hochschule Nürnberg, Georg Simon Ohm.

Seine Arbeitsschwerpunkte umfassen arbeitsmarktsoziologische Studien und kultursoziologische Analysen mit qualitativem und ethnographischen Methodenschwerpunkt. Darüber hinaus liegen seine wissenschaftlichen Tätigkeiten im Kontext der Kultur-, Umwelt-, Globalisierungs-, Identitäts- und Sozialpolitik. 

In den letzten Jahren liegen die Forschungsschwerpunkte im Bereich Wohnen, Obdach- und Wohnungslosigkeit. Dazu gehören u.a. das Projekt Lebenskunst, Schaffung integrativer kreativer Begegnungsorte für junge Wohnungslose und Student*innen; das Forschungsprojekt „Zielgruppenanalyse: Nicht erreichte Jugendliche“; sowie ein Forschungsprojekt zur Obdach- und Wohnungslosigkeit im Zeitraum der Corona Pandemie 2020-2021.

Aktuell führt Frank Sowa u.a. das Forschungsprojekt „Smarte Inklusion für Wohnungslose“ (SIWo) mit dem Ziel der Entwicklung innovativer Lösungen zur Prävention und Intervention von Wohnungslosen in Nürnberg unter besonderer Berücksichtigung der digitalen Inklusion der Zielgruppen, sowie eine Langzeitstudie mit dem Titel: „Securing Housing. Wohnen, Wohnraumverluste und Wohnungslosigkeit in Nürnberg und Wien“ durch und untersucht dabei die Wirkungsweise wohnraumsichernder Instrumente im Städtevergleich mit dem Ziel weitergehende Erkenntnisse zur Verhinderung von Wohnraumverlust und Wohnungslosigkeit zu generieren.

Entstehungshintergrund

Der vorliegende Sammelband geht, laut Angaben des Herausgebers, in der Einleitung auf die Konferenz: Figurationen der Wohnungsnot – Kontinuität und Wandel sozialer Praktiken, Sinnzusammenhänge und Strukturen, vom 29./30.09.2018 an der Technischen Hochschule Nürnberg, Georg Simon Ohm, zurück.

Die Konferenz hat mit dem Fokus auf Figurationen der Wohnungsnot dazu eingeladen, die komplexen wechselseitigen Abhängigkeitsgeflechte, in denen sich Menschen ohne eigene Wohnung befinden, zu analysieren. Diese Figurationen eröffnen und begrenzen Handlungsspielräume zugleich, sind von Beständigkeit und Wandel sowie von ungleichen Machtverhältnissen gekennzeichnet und führen zur Herausbildung von spezifischen sozialen Praktiken, Sinnzusammenhängen und Strukturen.

Student*innen der Sozialen Arbeit, die an dem Lehrforschungsprojekt „Wohnungslosigkeit in der Metropolregion Nürnberg“ teilgenommen haben, präsentierten auf der Konferenz ihre Ergebnisse und stellten sie zur Diskussion. Am Forschungsprojekt Beteiligte sowie weitere Autor*innen stellen im vorliegenden Band ihre Expertise zur Verfügung. 

Aufbau und Inhalt

In seiner Einführung geht Prof.Dr. Frank Sowa in seinem Beitrag Wohnungsnot als Figuration – Figurationen der Wohnungsnot, auf die Bevölkerungsgruppen der von Wohnungsnot Betroffenen ein: der Nicht-Wohnenden, ohne Zugang zu einer eigenen Wohnung und der Noch-Wohnenden, die unter widrigen und prekären Bedingungen wohnen und aufgrund ihres sozioökonomischen Status bzw. „ökonomischen, kulturellen und sozialen Kapitals“ keine Möglichkeit haben ihren Wohnort als Schutz- und Rückzugsort, Ort der Selbstvergewisserung und eines sicheren Zuhause zu nutzen. Benachteiligung und Armut, verursacht durch ökonomische und armutsproduzierende Prozesse und Politiken, wird gesellschaftlich konstruiert und konstituiert: Betroffenen werden als Mitglieder einer randständigen Gruppe abweichendes Verhalten zugeschrieben, Armut als individuelle Schuld interpretiert. Selbstentwertung, Scham und Hoffnungslosigkeit sind die Resultate die zu weiterer Ausgrenzung aus der Gesellschaft führen.

Bei der Betrachtung von Wohnungsnot als relationales und gesellschaftlich produziertes Phänomen, wird es erforderlich subjektive Sichtweisen und gesellschaftliche Verhältnisse in Wechselwirkung zu analysieren und unterschiedliche Interessen und ungleiche Machtverhältnisse in ihren komplexen Interdependenzgeflechten aufzudecken. So wird die Existenz unterschiedlicher und vielfältiger Figurationen von Wohnungsnot, in ihrer Kontinuität und ihrem Wandel, offensichtlich.

Frank Sowa beschreibt den Bezug der verschiedenen Felder der Wohnungsnot, wie dem berufsfeldbezogenen Praxisfeld:

den Mitarbeitenden aus Sozialer Arbeit und Verwaltung in staatlich organisierten Hilfesystemen, den Fachkräften aus ordnungsrechtlichen und sicherheitspolitischen Organisationen sowie den politischen Schwerpunktsetzungen.

Darüber hinaus ist Wohnungsnot ein interdisziplinäres Forschungsfeld unterschiedlichster Forschungsdisziplinen, wie: der Architektur, der Ethnologie, der Politologie, der Sozialen Arbeit, der Soziologie und der Stadtplanung sowie weiteren Disziplinen.

Der Sammelband ist in vier Themenfelder und insgesamt 40 Beiträge unterteilt.

  • Im ersten Teil (Prekäres) Wohnen wird in 11 Beiträgen die Gruppe der Noch-Wohnenden aus unterschiedlichster Perspektive bearbeitet, derjenigen Menschen, die keine Sicherheit über und in ihren Wohnraum haben und teilweise akut von Wohnungslosigkeit bedroht sind.
  • Der zweite Teil Lebenswelten und relationale Beziehungsgeflechte beschäftigt sich in 14 Beiträgen mit den Nicht-Wohnenden, die über keinen eigenen Wohnraum verfügen. Sie halten sich in offenen Straßenszenen auf oder versuchen durch Kontakte zu Noch-Wohnenden Zeit zu überbrücken, oftmals ohne geeignete Anschlussperspektive. Einige von ihnen suchen Hilfsangebote der Kommune und/oder sozialarbeiterische Unterstützungsangebote auf.
  • Im dritten Teil Bearbeitung von Wohnungslosigkeit wird in 11 Beiträgen die gesellschaftliche Bearbeitung des sozialen Problems der Wohnungslosigkeit und seiner unterschiedlichen Akteure fokussiert. Hierbei sind zwei vorrangige Prinzipien maßgeblich: das fürsorgliche und pädagogisch fundierte Vorgehen und das pragmatische, eher sozialpolitisch forcierte Vorgehen im Sinne einer strukturellen Veränderung durch Wohnangebote wie z.B. durch Housing First Projekte.
  • Der vierte Teil beschäftigt sich in 4 Beiträgen mit der Zukunft des Wohnens. Hier geht es um ganzheitliche Konzepte im Sinne von gemeinschaftlichem Leben, Wohnen und Arbeiten sowie um gesellschaftskonforme und zeitangemessene, innovative und nachhaltige Wohnformen.

Im Folgenden wird eine Auswahl der Beiträge exemplarisch vorgestellt. 

Ina Schildbach, Prof. Dr. für Politikwissenschaft, argumentiert in ihrem Beitrag Wohnungsnot als „notwendige Institution“ – Politökonomische und sozialpolitische Perspektiven auf die „Wohnungsfrage“, dass die Wohnung aufgrund ihres Warencharakters, einhergehend mit „einer seit Jahrzehnten verfehlten Wohnungspolitik in Deutschland, in Verbindung mit der unzureichenden Armutsbekämpfung (BAG W 2017)“ (S. 37) die Ursachen von Wohnungsnot und Wohnungslosigkeit darstellen.

Saskia Gränitz, M.A., wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin, analysiert auf Basis qualitativer Interviewdaten von 14 Personen aus München und Leipzig das subjektive Erleben von Wohnungsnot und entwickelt in Grauzonen der Wohnungsnot, Empirische Impulse zur Typologisierung entsicherter Wohnverhältnisse fünf Dimensionen der Wohnungsnot die helfen sollen, die aktuelle Wohnungskrise auch in vermeintlich „starken“ Sozialräumen und sozialen Milieus zu erfassen.

Kathrin Schöber, M.A. Soziologie, widmet sich in ihrem Beitrag Wohnungsnot in Wien im Rahmen einer quantitativen Studie der Analyse der Wohnsituation anhand zweier Fragen: Inwieweit hängen soziale Exklusion und Wohnungsnot zusammen? Sowie: Wer ist in Wien der Wohnungsnot ausgesetzt? Sie beschreibt in welcher Form soziale Ausgrenzung von Personen auch zur Ausgrenzung im Kontext Wohnen führt.

Anne Kruse, M. Sc., lenkt den Blick in Wohnbewachen in Thamesmead. Wie Property Guardians zu Werkzeugen der Aufwertung werden auf London, wo vorwiegend Künstler*innen temporär Wohnraum eröffnet wird, der zeitnah umgebaut oder abgerissen werden soll, um Vandalismus und Hausbesetzungen vorzubeugen. Ihr Status unklar, ihre Wohnsituation prekär und individualisiert.

Hannah Wolf, M.A., wissenschaftliche Mitarbeiterin, analysiert in ihrem Beitrag „Es ist, als ob der Stuhl wackelt“ – Entsichertes Wohnen und Zuhause die politisch-ökonomischen Entscheidungen und Restrukturierungen des urbanen Neoliberalismus die in London und Berlin zu einer Veränderung der Figurationen des Wohnens geführt haben und sukzessive weiter voranschreiten.

Heidi Furrer, M. Sc. Soziale Arbeit; Nicola Hilti, Prof. Dr. Soziologie; Eva Lingg, Prof. Dr. Architektur; Patricia Roth, M. Sc., Stadtplanerin und wissenschaftl. Mitarbeiterin, fokussieren in Soziale Beziehungen im Kontext bedrohter Wohnformen die Ursachen und den Umgang von bevorstehendem Wohnungsverlust und dessen Auswirkungen auf soziale nachbarschaftliche Beziehungen in der Schweiz. Die qualitativen Fallstudien werden in drei schweizer Städten in denen gebietsbezogene baulich-planerische Strategien umgesetzt werden sollen durchgeführt. Die Wohnfrage stellt sich hier als strukturelles Gesellschaftsproblem, das eine aktive Bearbeitung wohn- und sozialpolitischer Strukturen einfordert.

Judith Knabe, Dipl.-Soz. Arb., M.A., Hochschullehrkraft; Christoph Gille, Dr., Dipl.-Soz. Arb., Vertretungsprofessor, fragen in ihrer Studie „Hochwohnen“ und „Straße-Machen“: Bewältigungsweisen des Wohnens im transformierten Wohlfahrtskapitalismus anhand narrativer Interviews „Alltagsakteur*innen“ nach ihren Denkweisen und Praktiken und hinterfragen, inwiefern diese Logiken die Wohnfrage konstituieren. Hieraus entwickeln sich weitere Fragen zur Umverteilung und zur Eröffnung alternativer Entwürfe zur Gestaltung von Wohnen außerhalb des Wettbewerbs.

Maren Hartmann, Prof. Dr. für Kommunikations- und Mediensoziologie, beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit dem Thema Obdachlosigkeit und ontologische Sicherheit und hinterfragt in: Zuhause ist…? Ontologische Sicherheit und Mediennutzung obdachloser Menschen inwiefern soziale Medien und Onlinekommunikation zur Schaffung eines sicheren Umfeldes und als Voraussetzung für Veränderung wesentlich sein können.

Basierend auf Interviews mit Jugendlichen in problematischen Lebenssituationen analysiert Wolfgang Wahl, Prof. Dr. für Theorien und Handlungslehre der Sozialen Arbeit, in seinem Beitrag Sich selbst spüren. Strategien der Identitätsarbeit bei jungen Erwachsenen in schwierigen Lebenslagen die Möglichkeiten von Identitätskonstruktionen und der Realisierung eigener selbstbestimmter Lebensentwürfe. Er geht der Frage nach welche Optionen entkoppelten Jugendlichen als Rückzugsort und Quelle von Identität verbleibt.

Hannah Obert, M.A., wissenschaftliche Mitarbeiterin,hinterfragt aufgrundlage durchgeführter Interviews mit wohnungslosen Frauen wie obdachlose Frauen sexualisierte Gewalt erfahren und mit welchen Copingstrategien sie versuchen ihre Erfahrungen zu verarbeiten. Ihr Beitrag Leben in Abhängigkeiten. Wohnungslose Frauen als Betroffene sexualisierter Gewalt und Adressatinnen Sozialer Arbeit belegt die Notwendigkeit strukturelle Maßnahmen zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und gegen Wohnungslosigkeit zu ergreifen, bestehende Angebote auszubauen, ausreichend bezahlbaren Wohnraum zur Verfügung zu stellen und Mieterinnenrechte zu erweitern.

Frank Sowa, Prof. Dr. phil. Soziologie; Frank Wießner, Prof. Dr. rer. pol., Wohnungslos in der Metropolenregion Nürnberg. Ergebnisse einer quantitativen Befragung bezieht sich auf die Auswertung einer schriftlichen persönlichen Befragung im Rahmen der „aufsuchenden Sozialforschung“ durch 31 Studierende mit 156 auswertbaren Fällen. Untersucht wurden u.a. sozialdemografische Merkmale, Gründe der Wohnungslosigkeit, die Situation, die Bedarfe und die Zukunftsaussichten von Menschen ohne Wohnung. Wohnungslose Menschen sind Teil der Gesellschaft, betreffen unterschiedlichste Personengruppen, die oftmals aufgrund besonders belastender Lebenserfahrungen den Halt verloren haben. Die Umsetzung integrativer Konzepte als gesamtgesellschaftliche Aufgabe, bezieht innovative Maßnahmen hinsichtlich der Teilhabe an der digitalisierten Lebenswelt als auch strukturelle Maßnahmen wie die bedingungslose Umsetzung von Housing First-Konzepten, die nicht zuletzt zu einer Entstigmatisierung und zu einer sukzessiven Wiedererlangung der Marktfähigkeit wohnungsloser Menschen beitragen, mit ein.

Philipp Piechura, M.A. Soziologie, Doktorand Bereich Stadtplanung, analysiert in seinem Beitrag Housing Matters: Die Wohnsituation Geflüchteter als Frage lokaler (Staats-)bürgerschaft die Beziehung von (Staats-) bürgerschaft, Wohnen und Migration. Die Ausdifferenzierungen der abgestuften Formen von (Staats-)bürgerschaft – zentral reguliert über den Aufenthaltsstatus – bestimmen den Zugang von Menschen mit Fluchthintergrund zu eigenem Wohnraum und stellen somit einen Baustein der inneren Kontrolle von Migration dar. 

Susanne Gerull, Prof. Dr. für Theorie und Praxis der sozialen Arbeit, stellt in ihrem Beitrag Partizipation ist ein Recht und keine Pflicht! Zur Entscheidungsteilhabe von Nutzer_innen der Wohnungslosenhilfe die Grundlagen und Ergebnisse des Feldforschungsprojektes „Partizipationsstudie“ dar und fordert die Akteure der Wohnungslosenhilfe auf im Dialog mit den von Wohnungslosigkeit betroffenen Nutzer*innen ein Partizipationskonzept auszuhandeln, dass alle Ebenen der Partizipation miteinbezieht, von der individuellen Fallgestaltung, der Leistungserbringung über die Kommunale Sozialplanung bis hin zur Gesetzgebung. Partizipation bedeutet das Recht auf Mitbestimmung, Anerkennung der Wohnungslosen Menschen als handelnde Subjekte und Expert*innen ihrer Lebenswelt.

Regina Heibrock, M.A. Soziologie u.a., Sozialplanerin; Martin Lenz, Dipl. Erziehungswissenschaftler, Bürgermeister in Karlsruhe, betrachten in ihrem Beitrag Die Karlsruher Wohnraumakquise als De-Labeling-Strategie Wohnungslosigkeit nicht als ein individuelles, sondern als ein strukturelles Problem der ungleichen Verteilung. Die sozialintegrative Wohnraumversorgung muss die Makro-, Meso- und Mikroebene kontextual einbeziehen, um Segregation nicht zu produzieren, sondern ihr vorzubeugen und in bestehenden Anteilen sukzessive abzubauen. Das bedeutet eine enge Kooperation von Sozialpolitik, Sozialplanung und Sozialer Arbeit effektiv zu gestalten.

Verena Caroline Strebinger, M.A. Kulturwissenschaft und Transkulturelle Studien, untersucht in ihrem Beitrag Besitzreduktion und geschenkter Wohnraum. Zum Zusammenhang von flexiblen Wohnraumkonzepten und Minimalismus aus einer kulturwissenschaftlichen Perspektive freiwillige Wohnraumflexibilität, die auf der selbstbestimmten Entscheidung basiert auf angemieteten Wohnraum zu verzichten, ohne von unfreiwilliger Wohnungslosigkeit betroffen zu sein. Statt materieller Abhängigkeit von Wohnraum und Wohninventar wird hier auf Netzwerke und zur Verfügung stehender Wohnraum der Netzwerkpartner*innen gesetzt.

Benedikt Hartl, Architekt, Spezialist für experimentelle Architektur, hinterfragt in Anders leben! Theoretische Überlegungen und ein Beispiel aus der Praxis welche Wohnformen aus baulicher und gesellschaftlicher Sicht zukunftsfähig sein können. Er eröffnet in seinem Beitrag Vorschläge wie sich Wohnraum an die Lebensumstände anpassen kann und fordert: „Unsere Häuser müssen flexibel, transformierbar, mobiler, multifunktionaler, ökologischer, nachhaltiger, gemeinschaftlicher und öffentlicher werden.“ (S. 841)

Diskussion

Der Sammelband legt einen umfassenden wissenschaftlichen Überblick über aktuelle Forschungen zum Thema Wohnen/​Wohnungsnot dar. Die Beiträge und die vorausgehende Konferenz sind von erfahrenen Professor*innen und studentischem Forschungsengagement geprägt, weisen fundiertes Fachwissen sowie vielseitige Methodenkompetenz auf. Alle Beiträge implizieren ein hohes sprachliches und wissenschaftliches Niveau. Sie dienen nicht nur der Bestandsaufnahme, sondern auch der Weiterentwicklung und Erneuerung von Figurationen der Wohnungsnot. 

Der letzte Teil beschäftigt sich mit der Zukunft des Wohnens. Innovative Wohnformen sowie die Gestaltung partizipativer Prozesse werden beschrieben und zur Diskussion gestellt. Das Erfolgsmodell Housing First wird als ein wesentlicher Baustein zukunftsorientierter Wohnungspolitik erläutert, wobei die Möglichkeit zu Wohnen nicht mit der Verpflichtung gekoppelt sein darf unterstützende Angebote der Sozialen Arbeit annehmen zu müssen. Sicher ist, dass nicht ein Modell allein den Bedarf deckt, geschweige denn Strukturen und Haltungen verändert. Ein Paradigmenwechsel wird eingefordert der temporäre Hilfs- und Unterstützungsmaßnahmen subjektorientiert anbietet und zur nachhaltigen Entwicklung dauerhaft angelegten Wohnraum und langfristige Unterstützung zur (Re-)Integration in ein selbstbestimmtes Leben ermöglicht. Vorgestellt wird hier u.a. die Initiative Bauen Wohnen Arbeiten in Köln. Das Karlsruher Programm „Wohnraumakquise durch Kooperation“ wirkt als De-Labeling Strategie, da es durch dezentrale Wohnraumversorgung der Stigmatisierung von Menschen sowie von Stadtteilen entgegenwirkt. Durch die programmatische Anbindung Sozialer Arbeit eröffnet es von Wohnungslosigkeit betroffenen Menschen Wege in die Selbstbestimmung und Unabhängigkeit von institutionellen Hilfen. In diesem Kontext werden zukunftsweisende sozialpolitische, organisationale sowie konzeptionelle Handlungsstrategien eröffnet. Interessant ist auch die Untersuchung zur freiwilligen Wohnraumflexibilität als alternatives Wohnkonzept. Es regt auf jeden Fall dazu an über die Möglichkeiten flexibler Zwischennutzungen und das Eröffnen institutionalisierter Netzwerke Zurverfügungstellung nicht genutzten Wohnraums nachzudenken.

Der kontinuierliche Wandel der Gesellschaft und die damit einhergehende veränderte Nutzung des urbanen Raumes, impliziert ein notwendiges Umdenken auch in der architektonischen Beschaffenheit von (Wohn-)Raum. Die Flexibilisierung und Digitalisierung der Gesellschaft und Arbeitswelt, die Pluralisierung von Lebensstilen und Haushaltsformen, soziale Dynamik der Globalisierung und der demographische Wandel verändert Lebensentwürfe und Bedürfnisse. Die Verfügbarkeit und der Zugang zu unterschiedlichen Ressourcen werden zunehmend wichtiger als der materielle Besitz. Die Zukunft des Wohnens liegt also im gemeinschaftlichen Wohnen und folgt dem Prinzip der Sharing Economy.

Fazit

Der Sammelband vermittelt auf beeindruckende Weise differenziertes Kontextwissen, spiegelt fundiertes Wissen zu unterschiedlichsten Teilbereichen der Wohnungsnot und fordert insbesondere sozialpolitische Akteure zum kontextbasierten Handeln auf.

Das vorliegende Buch sollte ein großes Interesse in den Bereichen Wissenschaft, Politik, Verwaltung, Sozialwirtschaft, Zivilgesellschaft und Öffentlichkeit finden, um aufgrundlage der Anerkennung von Wohnungsnot als gesamtgesellschaftliches Phänomen neuartige Figurationen zu konstatieren und neue Wohnraum(begrenzende) Konzepte zu finden und umzusetzen.

Politik und Verwaltung ist gefordert sich interdisziplinär mit der wissenschaftliche Forschung zu vernetzen und ihre strategische als auch operative Umsetzung demokratisch und sozialgesellschaftlich nachhaltig auszurichten.

Hier ist es nicht getan, ein paar Housing-First Projekte umzusetzen und sich hinter vermeintlichen, temporären und wenig nachhaltigen wirtschaftlichen Interessen der Kommune oder der Region zu verstecken. Fundiertes Kontextwissen und der Wille Politik im Sinne der Förderung einer integrativen und inklusiven Sozialgesellschaft anzustreben, können helfen das Thema Wohnen als figuratives Strukturelement positiv erlebbar zu gestalten und Wohnungsnot maßgeblich zu reduzieren und prospektiv zu vermeiden.

Für Fachkräfte, die in ihrer Arbeit mit Noch-Wohnenden oder Nicht-Wohnenden Menschen zu tun haben, ist dieser Sammelband ausgesprochen empfehlenswert, ebenso für alle diejenigen die aus persönlichem oder gesellschaftlichem Interesse mit dem Thema befasst sind. Allerdings ist auch dieser Sammelband in seinem sprachlichen Ausdruck von universitärem wissenschaftlichem Vokabular geprägt. Dies eröffnet einige Hürden an die Leserschaft. Das Veröffentlichen hochwertiger wissenschaftlicher Erkenntnisse sollte so gestaltet sein, dass auch Menschen, die ihren Lebensalltag nicht im universitären Kontext bestreiten teilhaben können. Nur durch eine möglichst intensive, breit gefächerte Auseinandersetzung mit dem Thema Figurationen von Wohnungsnot kann eine positive Veränderung auch gesellschaftlich vollzogen werden.

Rezension von
Dipl. Soz.-Arb. Monica Wunsch
Mercedes Monica Wunsch Dipl.-Soz.Arb. (FH) Geschäftsführender Vorstand Zug um Zug e.V. und Tochtergesellschaften (Köln)
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Es gibt 11 Rezensionen von Monica Wunsch.

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ISSN 2190-9245