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Elizabeth Anderson: Private Regierung

Rezensiert von Peter Flick, 28.02.2020

Cover Elizabeth Anderson: Private Regierung ISBN 978-3-518-58727-0

Elizabeth Anderson: Private Regierung. Wie Arbeitgeber über unser Leben herrschen (und warum wir nicht darüber reden). Suhrkamp Verlag (Berlin) 2019. 258 Seiten. ISBN 978-3-518-58727-0. D: 28,00 EUR, A: 28,80 EUR, CH: 38,50 sFr.

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Thema

Dass der Staat durch seine Eingriffe „unsere“ Freiheit bedroht, während der Markt „unsere“ Freiheit schützt, gehört für die US-amerikanische Sozialphilosophin Elizabeth Anderson zu den großen Märchenerzählungen der Mainstream-Ökonomie. Was bedeutet Freiheit, fragt Anderson, wenn rund ein Viertel aller US-Amerikaner für weniger als zehn Dollar Stundenlohn arbeiten muss und fast vier von zehn US-Bürgern aus eigener Kraft keine unerwartete Rechnung in Höhe von 400 Dollar zahlen können? Was bedeutet Freiheit, wenn Unternehmen in weit höherem Maße als der Staat eine Überwachung unseres Arbeitslebens und darüber hinaus auch unseres Privatlebens durchsetzen können?

Anderson plädiert in ihrem Buch für eine Umkehr der Denkrichtung: in den westlichen Gesellschaften sei nicht der Überwachungsstaat das Problem, sondern die ungehemmte Macht von Unternehmen, denen die Demokratie keine wirksamen rechtlichen Grenzen setzt.

Autorin

Die 1959 geborene Elizabeth Anderson studierte an der Harvard University, wo sie 1984 mit dem Master abschloss. 1987 promovierte sie bei John Rawls mit dem Doktortitel in Philosophie. Sie lehrt und forscht heute als Professorin für Philosophie und Ethik an der Universität Michigan in Ann Arbor. Ihre bisherigen Publikationen beziehen sich auf Gerechtigkeitsaspekte in der politischen Philosophie bzw. auf Probleme der Demokratietheorie und der feministischen Theorie.

Entstehungshintergrund und Aufbau

Ihre sozialphilosophischen Arbeiten folgen der von John Rawls gelegten Spur eines egalitären liberalen Denkens. Auch Anderson sieht in der Gerechtigkeit den entscheidenden Maßstab für die Beurteilung sozialer Institutionen, die allerdings die Freiheit des Einzelnen nicht verletzen dürfen. Die Forderung nach soziale Gleichheit ist der Garant der Freiheit eines jeden bzw. einer jeden. Die Achtung vor der Würde und Autonomie der Person bleibt für Anderson an institutionelle Voraussetzungen gebunden, die eine faire Zuweisung von Rechten und Pflichten und damit einer solidarische Verteilung von sozialen Lasten garantiert.

Im Folgenden ein kurzer Überblick über den Aufbau ihres Buchs:

In einer Einleitung (S. 7 ff.) fasst Stephan Macedo (Princeton) die Kernpunkte der beiden Vorlesungstexte von Anderson, die kritischen Anmerkungen von Kolleginnen und Kollegen sowie die Repliken der Autorin zusammen.

Dann werden unter der Überschrift „Private Regierung“ die zwei Vorlesungstexte vorgestellt.

Ihnen ist ein Vorwort (S. 25 ff.) der Autorin vorangestellt, in dem sie über die Motive und Absichten ihres Textes Auskunft gibt. Zwei Fragen hätten sie bewegt, erstens, wie kommt es, dass im Diskurs über die Gestaltung des freien Marktes immer so geredet wird, „als ob die einzigen Gefahren für die individuelle Freiheit vom Staat ausgehen?“ (S. 27). Zweitens, wie könnte die Verteilung der Lasten in Unternehmen aussehen, um Niedriglöhne und unzureichende soziale Sicherheit (Gesundheitsversorgung, eine auskömmliche Rente) zu vermeiden? Sie wolle keine „Blaupause für eine bessere Verfassung der Regierung am Arbeitsplatz“ (S. 30) vorlegen, aber Anregungen für die Diskussion über eine „gerechte Arbeitsverfassung“ (Anderson) geben, in der Arbeitnehmer ihre Interessen artikulieren können.

In Kapitel 1„Als der Markt noch >links< war“ (S. 32 ff.) greift Anderson weit in die Ideengeschichte der Ökonomie zurück, um zu zeigen dass die Idee eines freien Arbeitsmarkt (salopp formuliert) ursprünglich ein „linkes“ Projekt war. Egalitäre soziale Bewegungen, wie die sog, Levellers, die im englischen Bürgerkrieg des 17. Jahrhundert Cromwell unterstützen, seien schon „Verteidiger des Rechts auf Privateigentum und des Freihandels“ (S. 40) gewesen, weil sie glaubten, dass ein „Wachstum der Marktgesellschaft dabei helfen würde, die sozialen Hierarchien (..) abzubauen.“ (S. 53). Anderson erinnert weiterhin an den schottische Moralphilosophen und Begründer der modernen Nationalökonomie Adam Smith und seine „ökonomischen Vision einer freien Marktgesellschaft“ (S. 59) in „The Wealth of Nations“ (1776), die sich nach ihrer Meinung mit der „früher entstandenen Vision der Levellers in Übereinstimmung bringen lässt“ (S. 59), weil auch er den Markt in einer staatlichen Ordnung eingebettet sehen wollte. Schließlich habe ein radikaldemokratischer Intellektueller wie Thomas Paine, der mit seinen Ideen die Amerikanische und Französische Revolution beeinflusst hat, sein Plädoyer für den Markt schon früh mit der bahnbrechenden Vorstellung einer sozialen Grundsicherung für alle verbunden. In seiner Analyse der industrielle Revolution und des im 19. Jahrhundert entstandenen kapitalistische Arbeitsmarktes habe dann Marx gezeigt, dass der freie Markt den Arbeitern mitnichten helfen würde, wirtschaftlich selbstständig zu werden, wie sich dass die Vordenker des freien Marktes im 17. und 18. Jahrhundert erhofft hatten.

Dennoch (so Anderson) müsse eine politische Theorie heute am Leitbild egalitärer Freiheit festhalten. In Kapitel 2 mit dem Titel „Private Regierung“ setzt sich Anderson mit dem neuen betrieblicher Autoritarismus eines Ronald Coase auseinander. In seiner berühmten „Theorie der Firma“ beschreibt er Unternehmen offenherzig als „Inseln vorsätzlicher Macht“ (S. 100), in die keine gewerkschaftliche oder staatliche Macht hineinregieren dürfe. Wenn Coase reguläre Arbeitsverträge als „Kontrakte“ bezeichnet, dann in dem Sinne, dass der Arbeitnehmer darin „zustimmt, den Anweisungen des Unternehmers zu gehorchen“. Damit gesteht er Coase (so Anderson) immerhin zu, dass der Arbeitsvertrag auch „Grenzen der Befugnisse“ des Unternehmers beinhalten sollte. Dies Machtbegrenzung müssten dann allerdings Gegenstand von Verhandlungen sein, und genau hier liegt für Anderson der Hase im Pfeffer. In den USA sei dieses System von Verhandlungen faktisch für große Teile der Arbeitnehmerschaft außer Kraft gesetzt. Nur eine Minderheit von Arbeitnehmern profitiere von kollektiven Tarifabschlüssen und nur bei gesuchten Arbeitskräften fänden individuelle Verhandlungen über die Ausgestaltung des Arbeitsvertrags statt. Für die übrigen gelte ein Standard-Arbeitsvertrag über eine „Beschäftigung – auf – Widerruf“ (S. 101), die den Arbeitgeber berechtigte „aus jedem Grund oder grundlos zu kündigen“ (S. 101), was in ihren Augen einem Unterwerfungsakt unter die Kommandogewalt des Unternehmers gleichkomme. So treten Arbeitnehmer immer mehr auf die Dauer ihrer Beschäftigung „unterm Strich alle ihre Rechte an den Arbeitgeber ab“ (S. 101). Welche Auswirkungen das hat, schildert Anderson anhand besonders drastischer Fälle, wenn Fließbandarbeiterinnen der Toilettengang verboten wird (als Alternative empfiehlt man ihnen in die Kleidung zu urinieren) und in Beispielen von nicht ausbezahlten Löhnen und sexuellen und rassischen Diskriminierungen, denen besonders Frauen in den unteren Rängen der Dienstleistungsökonomie ausgesetzt seien. Insgesamt habe sich die Verhandlungsposition der Arbeitnehmer gegenüber den Arbeitgebern in den USA so sehr geschwächt, dass Vertragsschlüsse in der Regel kaum noch frei genannt werden könnten.

In Kapitel 3 „Von den Levellers lernen?“ (S. 129 ff.) formuliert zunächst Ann Hughes, eine Historikerin für das frühneuzeitliche England, einige Kritikpunkte an Andersons historischer Darstellung. Ihre These, dass soziale Bewegungen, wie die Levellers, für die Idee eines freien Marktes und den Abbau von Hierarchien zwischen Männern und Frauen eingetreten seien, möchte sie in dieser Form nicht stehen lassen. Sie korrigiert das in ihren Augen einseitiges Bild der „Levellers“ als Vertreter radikal egalitärer Freiheitsideen, indem sie auf die Dominanz sozialkonservativer Vorstellungen hinweist und darstellt, wie sehr der soziale Protest vom kollektiven Sinn für Gemeinschaft getragen war, den die Levellers durch die neuen Freiheiten des Marktes bedroht sahen.

In Kapitel 4 „Marktrationalisierung“ (S. 147 ff.) äußert auch der Literaturwissenschaftler David Bromwich Bedenken, wie weit die von Adam Smith entwickelte Idee der Marktfreiheit im Sinne einer egalitären Freiheit interpretiert werden kann und ob nicht ein politischer Theoretiker wie Thomas Paine als „radikaler Demokrat“ nicht in eine ganz andere Tradition eingeordnet werden müsste als der „sozialliberale“ Ökonom Adam Smith. Für Paine ging es nicht nur wie bei Smith um rechtliche Rahmenbedingungen des freien Marktes.

Der dritte Kommentator, der Philosoph Niko Kolodny, befasst sich in Kapitel 5 unter der Überschrift „Untergebene gesucht“ (S. 159 ff.) mit der Frage, ob Anderson mit ihren Thesen zur Diktatur der Arbeitgeber nicht die damit notwendig verbundene betrieblichen Hierarchie der Weisungsbefugnisse auf übertriebene Weise „skandalisiert“.

Eine umfassende Kritik an der These der willkürlichen Herrschaft über Arbeitnehmer formuliert der Ökonom und Publizist Tyler Cowen in Kapitel 6 „Arbeit ist eigentlich gar nicht so schlecht“ (S. 171 ff.). Als Ökonom kritisiert er Andersons Ansatz als höchst einseitige „Kosten – Nutzen – Analyse“, die eine faire Einschätzung der Vorteile des bestehenden Marktsystems nicht in Betracht ziehe. Man müsse hingegen die bestehenden Vorteile der unternehmerischen Dominanz richtig gewichten und den möglichen Kosten der von ihr vorgeschlagenen Demokratisierung unternehmerischer Entscheidungsabläufe gegenüberstellen.

In ihrer Replik in Kapitel 7 „Erwiderung auf meine Kommentatoren“ (S. 183 ff.) setzt sich Anderson mit der Kritik von Hughes und Bromwich auseinander. Sie wollte in ihrer historischen Darstellung keinesfalls ein Kontrastbild entwerfen, das einer idealisierte Vergangenheit des freie Marktes, der ursprünglich eine emanzipatorische Bedeutung hatte, die schlechte Realität der Gegenwart gegenüberstellt. Schon im 18. Jahrhundert sei die Idee des freien Marktes mit Illusionen verbunden gewesen. Anschließend verteidigt sie energisch ihre vernichtende Diagnose über die Zustände des US-amerikanischen Arbeitsmarktes gegen die theoretischen und empirischen Argumente Kolodny und Cowens, auf die ich im Folgenden ausführlicher eingehen werde.

Inhalt

Eine ausführlichere Zusammenfassung der Vorlesungstexte von Anderson finden sich in der socialnet – Rezension von Thomas Elkeles. Was die Korrekturen von Hughes und Bromwich an Andersons historischem Bild der freien Marktgesellschaft angeht, so berühren sie nicht das Kernanliegen ihres Buchs und ihre Vorschläge zu einer „gerechten Arbeitsverfassung“(Anderson). Das ist bei den folgenden kritischen Beiträgen Nico Kolodnys und Tylen Covens anders, die Gerechtigkeitsforderungen am Maßstab der bestehenden Marktrationalität messsen.

„Untergebene gesucht“ oder: Was ist eigentlich falsch an der Unterwerfung unter betriebliche Hierarchien? Entlang dieser Frage entwickelt Nico Kolodny in seinem Beitrag eine mehr oder minder verklausulierte Kritik an Andersons Darstellung der Machtasymmetrien in US-amerikanischen Unternehmen. Warum, fragt er, sollte uns das Kontrollrecht und die damit möglicherweise verbundene ungleiche Behandlung von Mitarbeitern derart „beunruhigen“, wie Anderson uns das nahelegt? In seiner Sicht bezieht das Management eines jeden Wirtschaftsunternehmens die Legitimation seiner Entscheidungsbefugnisse aus ökonomisch begründeten Zwecken. Kolodny beruft sich dabei auf einen „Vordenker“ des Rational Choice Ansatzes Ronald Coase. Die Macht des Managements ergebt sich diesem Ansatz zufolge schlicht aus der Natur der Unternehmensorganisation. Aus einem richtigen Organisationsverständnis folgt für Kolodny eine „solide ökonomische Rechtfertigung“, die Ronald Coase als Erster in seinem epochalen Werk „The Nature of Firm“ beschrieben habe (vgl. S. 163). Die Notwendigkeit Arbeitnehmer zu kontrollieren und zu maßregeln, hat so gesehen ihre sachliche Begründung allein in den funktionalen Bedingungen des Produktionsprozess und dem Zwang, die Position des Unternehmens am Markt zu behaupten. So funktionierten die Institutionen des Marktes „zu jedermanns Vorteil“ (S. 163). Märkte verlangen von allen Flexibilität und die Unterordnung am Arbeitsplatz. Solange Gesetze von Menschen gemacht und angewendet würden, gebe es auch den Missbrauch von Gesetzen. Aber letztendlich würden auch Unternehmen „selbst von einer Rechtsordnung reglementiert“ (S. 169), die, „von einem Standpunkt der Gleichheit“ (S. 170) aus indirekt auf die Gestaltung von Arbeitsplätzen Einfluss nehme.

In ihrer Replik hält Anderson fest, dass sich aus funktionalen Bedingungen der Produktion zwar unterschiedliche Machtbefugnisse und Verantwortlichkeiten ergeben, aber daraus ließe sich keineswegs ableiten, dass ein „Produktionsprozesses von sich aus so eingeschränkt“ sei, dass er jede Mitsprache von Arbeitnehmern und „jegliche Ausübung von Autonomie unterbindet“ (S. 194). Gerade die effiziente Arbeitsorganisation sei niemals nur das Ergebnis technologischer Sachzwänge, sondern immer auch „das Ergebnis sozialer Planung“ (S. 194), an der man Arbeitnehmer beteiligen könne oder auch nicht. „Flexibilitätsvorgaben“ gegenüber Arbeitnehmern müssten dort ihre Grenzen haben, wo Arbeitnehmer willkürlich herumkommandiert werden, der Kontrollwahn von Unternehmensleitungen auf die Privatsphäre von Arbeitnehmern übergreift oder wenn in Teilen der Belegschaft ein System der Lohnarbeit entstehen lässt, dass Menschen „strukturell herabsetzt und erniedrigt“ (S. 197). Zudem übersehe Kolodny die vornehmste Aufgabe des demokratischen Rechts, die darin bestehe, einem „unverzichtbaren Schutz vor dem Missbrauch“ (S. 198) des Rechts durch die „Mächtigen“ Geltung zu verschaffen.

„Arbeit ist eigentlich gar nicht so schlecht.“ Unter dieser Überschrift formuliert der Ökonom Tylor Cowen eine pointierte Grundsatzkritik an Andersons Grundanliegen. Auch wenn er sich zu Beginn seines Kommentars als „Fan“ von Elizabeth Anderson und ihrer „Versuche“ outet, „Philosophie und Ökonomie in eine Synthese zu bringen“ (S. 171), wirft er ihr vor, dass sie damit insgesamt ein zu schwarzes Bild der Normalarbeitsverhältnisse in den USA male. Die Arbeit sei für die Mehrzahl der Arbeitnehmer in den USA auch heute immer noch eine der „wichtigsten Quellen der menschlichen Würde und Erfüllung“ (S. 179). Als Ökonomieprofessor und freier Publizist, der seinen Beruf bewusst gewählt habe, „um einige Dimensionen der persönlichen Freiheit maximieren zu können“ (S. 171), findet er Teile von Andersons Anklagen der undemokratischen Praktiken „kapitalistischer Unternehmen“ zwar „durchaus sympathisch“ (S. 171), aber insgesamt plädiert er für eine nüchterne Kosten-Nutzen-Bilanz, die auch die positiven „Tatsachen und Grundzüge“ (S. 171) der bestehenden Beschäftigungsverhältnisse ins rechte Licht rückt. Cowen findet, dass sich die latente Unzufriedenheit von Arbeitnehmern eher an der Lohnhöhe und weniger an den Arbeitsbedingungen festmachen lässt. Man müsse sich dabei aber die Frage stellen, ob nicht insbesondere bei großen Firmen, die als „Monopson“ eine marktbeherrschende Stellung haben, die Arbeitnehmer „nicht >zu viel < Toleranz und Freiheit am Arbeitsplatz genießen“ (S. 175). Da Lohnerhöhungen in den USA zu hoch versteuert würden, müssten Unternehmende den Beschäftigten als Ersatz dafür „selektive Freiheiten am Arbeitsplatz“ (S. 174) anbieten. Für die Stagnation der Löhne seien in erster Linie also falsche Steueranreize durch den Staat verantwortlich. Solange die „Kosten für die Abwanderung“, sprich den Wechsel des Arbeitgebers (S. 174, S. 181), aus Sicht des Arbeitnehmers zu hoch seien, weil er damit die beim alten Arbeitgeber erworbene soziale Vorteile aufs Spiel setzen würde, wird er sich gezwungenermaßen mit seinem bisherigen Lohn zufrieden geben. Mit anderen Worten: Nicht der Markt, und nicht die Unternehmen, sondern der Staat sei mit falschen Steueranreizen dafür verantwortlich, dass fehlende Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt zu einem stagnierenden Lohnniveau führe. Cowens Vorschlag ist eine Verbesserung der „Abwanderungsmöglichkeiten“ für Arbeitnehmer, die das Marktsystem optimiert. Das sei auch zum Vorteil der Arbeitnehmer, weil „die Märkte (..) die Präferenzen der Arbeitnehmer als Gesamtheit“ (S. 176) besser berücksichtigen würden als es Staat, Gewerkschaften oder sonstige Gruppen von Arbeitnehmern dies je tun könnten, die in die Freiheit des Arbeitsmarkts eingreifen wollen. Ein genauer Blick auf Erfahrungen mit Unternehmen, in denen „Gewerkschaften“ eine stärkere Stellung einnehmen oder auf „Genossenschaftsbetriebe“ und „Firmen mit Arbeitnehmervertretern im Management“ zeige nämlich, dass „diese Strukturen keine wesentlich größere Freiheit für die Arbeitnehmer (…)“ (S. 180) brächten. Insgesamt stellten sie keine „(..) Antwort auf die Probleme der Freiheit am Arbeitsplatz“ (S. 181) dar. Ebenso sei das „deutsche Mitbestimmungsmodell“ (abgesehen von seiner Übertragbarkeit) um den Preis „niedrigerer Produktivität“ (S. 181) und größerer „Belastung der Konsumenten“ (S. 182) erkauft.

In ihrer Replik macht Anderson zunächst klar, dass sich ihre Kritik nicht gegen eine „rechtlich begrenzte Autorität“ (S. 201) der Unternehmensleitung, sondern gegen institutionelle Strukturen richtet, in der eine Betriebsleitung gegenüber der Belegschaft keinerlei Rechenschaftspflicht unterliegt. Cowens Verständnis der ökonomische Effizienz, der dem Rational Choice Ansatz verpflichtet sei, nehme „eine krasse Unterbewertung jener Kosten“ (S. 209) vor, die mit der Ungleichbehandlung von Arbeitnehmern verbunden sei. Die Kosten wachsender sozialer Ungleichheit, für die der freie Markt kein Sensorium hat, würden so vom Markt auf auf den Staat und auf die Arbeitnehmer im unteren Sockel der Arbeitsplatzhierarchie verschoben. Niemand bezweifele, so Anderson, dass Arbeitgeber dort, wo sie um „Talente“ und „qualifizierte Arbeitnehmer“ konkurrieren müssten, ihnen bei der Ausgestaltung ihrer Arbeitsverträge entgegenkämen. Sie bezweifele nur, ob das „für das gesamte Spektrum der Lohnarbeit zutreffend ist“ (S. 211), etwa auch für die unteren Rängen der Dienstleistungsökonomie, wo der der Niedriglohn mit einer ungenügenden sozialen Absicherung und dem Problem sexueller Belästigung verbunden sei. Der Hinweis auf eine„Entschädigung durch höhere Löhne“ (vgl. S. 212), die Cowen in Aussicht stellt, klinge hier wie ein Hohn und mache ebenso wenig Sinn wie für den Niedriglohnsektor insgesamt, in dem eine Bewegung wie „Fight for $ 15“ für eine Anhebung des föderalen Mindestlohns auf 15 US-Dollar pro Stunde kämpft.

Das gelte auch für den einzigen Lösungsvorschlag, den Cowen hat, nämlich „das Abwanderungsvermögen der Arbeitnehmer zu verbessern.“ (S. 213). Nimmt man die Probleme von Städten und Regionen hinzu, die besonders vom Strukturwandel betroffen sind, hinzu, dann erscheint es ihr „wenig hilfreich“ unzufriedenen Arbeitern „den Rat zu geben: >Geh doch einfach!<.“(S. 214). Cowens Einwand, dass ihr Vorschlag für erweiterte Formen der betrieblichen Mitsprache von Arbeitnehmern eher zu Nachteilen bei der Produktivität führen würden, entgegnet sie damit, dass „die Beweislage“ vielmehr „gemischt“ sei. Es gebe auch empirische Studien, die belegen, dass sich Mitbestimmung „positiv oder neutral auf die Produktivität auswirkt.“ (S. 215). Der Grundfehler seines Ansatzes bestehe darin, dass für ihn „die Effizienz“ ausschließlich an „Ergebnissen des Marktes gemessen wird“ (S. 216) und so die „trivialsten Interessen der Reichen die essentiellen und fundamentalsten Interessen der Armen“ (S. 216) übertrumpfen würden. Es gehe, so Anderson, bei ihrem Vorschlag erweiterter Mitspracherechte für die Belegschaften nicht darum, das „deutsche Modell der Mitbestimmung anzupreisen.“ (S. 216). Sie plädiere für einen rechtlichen „Raum (..), um mit mit alternativen Verfassungen zu experimentieren (…)“ (S. 216), die Beschäftigten „irgendeine Art der institutionalisierten Mitsprache bei der Arbeit“ einräumt, um „sicherzustellen, dass ihre Interessen gehört werden (…)“ (S. 217).

Diskussion

Ohne Zweifel hat historische Teil in Andersons Buch seine Schwächen. Darauf verweisen die kritischen Kommentare von Ann Hughes und David Bromrich. Die Anfänge frühdemokratischer sozialer Bewegungen, die die Durchsetzung eines freien Marktes begleiten, sind die Ambivalenzen zwischen egalitären Freiheitsvorstellungen und sozialkonservativen Haltungen größer, als es die Autorin vielleicht wahrhaben will. Und ob das von Anderson kritisierte Festhalten an der Ideologie des freien Marktes, die andauernde „Hegemonie des neoliberalen Denkens“ (Nancy Frazer) mit dem neurowissenschaftlichen Begriff einer „institutionellen Hemiagnosie“ (S. 117), einem Wahrnehmungsverlust, zutreffend beschrieben ist, darf man bezweifeln. Wie die Ausführungen ihrer Professorenkollegen Kolodny und Cowen belegen, handelt es sich weniger um „Wahrnehmungsausfälle“, als um eine bewusste Wahl ökonomisch geprägter Denkansätze, die vom freien Marktsystem die bestmögliche Lösung soziale Probleme der Ungleichheit erwarten. Es kann Elizabeth Anderson nicht ernstlich überraschen, dass gerade in Kreisen akademisch gebildeter Liberaler nicht unbedingt eine hohe politische Sensibilität für Probleme der sozialen Ungleichheit vorausgesetzt werden kann (der egalitäre Liberalismus war unter Liberalen eher eine Minderheitenposition, siehe dazu auch das Buch von Jan-Werner Müller: Furcht und Freiheit. Für einen anderen Liberalismus, Berlin 2019).

Andersons Buch hat die aktuelle Arbeitsmarktentwicklung der USA im Blick. Auch wenn sich Kritiker ihres Buches damit beruhigen, dass wir in Europa und Deutschland weit von US-amerikanischen Verhältnissen auf dem Arbeitsmarkt entfernt seien, so zeigen jüngste soziologische Studien, dass sich die Ausweitung der Erwerbsarmut und die Verwahrlosung ländlicher und städtischer Räume in Deutschland ungebremst fortsetzt. Der Aufstieg der Gig – Economy, der Uber – Fahrer, die als „Selbstständige“ ihre Dienste anbieten, die fortgesetzte Lohndrückerei in Bereichen der Dienstleistungsökonomie (im Onlinehandel, bei den Kurieren, Reinigungskräften, aber auch in Pflege- und Erziehungsberufen etc.) zeigen, dass das Marktsystems aus sich heraus nicht in der Lage ist, unwürdigen Arbeitsverhältnissen und dem damit verbundenen „Lohndiebstahl“ (Anderson) Grenzen zu setzten.

Fazit

Das Buch von Elizabeth Andersons befasst sich mit den beklagenswerten Zuständen des US-amerikanischen Arbeitsmarkts, ihren beschönigenden Ideologien, die Arbeitnehmern gerne einreden würden, dass eine entwürdigende Arbeit immer noch besser sei als Arbeitslosigkeit. Die Autorin schärft so unseren Blick für die Veränderungen der Arbeitsverhältnisse in Deutschland und Europa. Wenn es stimmt, was die Autorin vermutet, dass uns mit dem Niedergang der Arbeiterbewegung zunehmend die moralische Sprache verloren ging, um über Bedingungen einer „gerechten Arbeit“ zu reden, dann ist Andersons Buch ein erster Schritt zur Überwindung dieses Zusatnds.

Rezension von
Peter Flick
Lehrer, unterrichtet die Fächer Sozialwissenschaften, Praktische Philosophie und Deutsch
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Es gibt 31 Rezensionen von Peter Flick.

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Zitiervorschlag
Peter Flick. Rezension vom 28.02.2020 zu: Elizabeth Anderson: Private Regierung. Wie Arbeitgeber über unser Leben herrschen (und warum wir nicht darüber reden). Suhrkamp Verlag (Berlin) 2019. ISBN 978-3-518-58727-0. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/26611.php, Datum des Zugriffs 16.09.2024.


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