Jan Volker Wirth, Heiko Kleve: Von der gespaltenen zur verbundenen Lebensführung
Rezensiert von Prof. Dr. Irmgard Schroll-Decker, 25.06.2020
Jan Volker Wirth, Heiko Kleve: Von der gespaltenen zur verbundenen Lebensführung. Systemische Wege für das alltägliche Leben.
Vandenhoeck & Ruprecht
(Göttingen) 2020.
134 Seiten.
ISBN 978-3-525-40681-6.
D: 12,00 EUR,
A: 13,00 EUR.
Reihe: Leben. Lieben. Arbeiten: systemisch beraten.
Entstehungshintergrund und Thema
Der Band erscheint in der Reihe „Leben.Lieben.Arbeiten: systemisch beraten“, die von Jochen Schweitzer und Arist von Schlippe bei Vandenhoeck & Rupprecht herausgegeben wird. Das Credo der Reihe lautet „kurz, kompakt und anschaulich“ darzustellen, wie „systemische Beratung zur Lösung alltäglicher schwieriger Lebenslagen in existentiellen Grenzsituationen hilfreich sein kann“. Die Bände sind an Personen mit Beratungstätigkeit adressiert, können aber laut Reihenherausgeber auch „für Betroffene hilfreich sein“ (S. 7), weil sie – demonstriert an Fallbeispielen – Mittel für das Verstehen und Werkzeuge für die Bearbeitung anbieten. Die Buchreihe versteht sich als „Erfahrungswissen zur systemischen Beratung in verschiedensten Lebens-, Liebes- und Arbeitskontexten“, aufbauend auf den Lehrbüchern der Reihenherausgeber, jedoch nicht auf klinisch relevante Störungen fokussiert.
Autoren
Prof. Dr. Jan V. Wirth und Prof. Dr. Heiko Kleve sind Sozialpädagogen und systemische Supervisoren. Beide sind als Team-, Praxis- und Fachberater, Coaches und in anderen Funktionen tätig.
Jan V. Wirth hat über 50 Lehraufträge an Hochschulen und Universitäten wahrgenommen, hatte drei Gast- bzw. Vertretungsprofessuren, ist Professor an der DIPLOMA Hochschule und Studiendekan des Masterstudiengangs „Psychosoziale Beratung in Sozialer Arbeit“.
Heiko Kleve hatte seit 2002 Professuren an der Alice-Salomon-Hochschule und ab 2005 an der Fachhochschule Potsdam inne und leitet seit 2017 den Stiftungslehrstuhl für Organisation und Entwicklung von Unternehmerfamilien am Wittener Institut für Familienunternehmen (WIFU) an der Universität Witten/​Herdecke.
Beide Autoren publizieren zu Wissenschaft und Theorien Sozialer Arbeit auf systemtheoretisch-konstruktivistischer Basis. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen u.a. auf Beratungsprozessen in Einzel-, Gruppen- und Institutionensettings.
Aufbau und Inhalt
Nach den Anmerkungen zur Buchreihe (S. 7–8) und einem Vorwort von Prof. Dr. Arist von Schlippe (S. 9–11) wird in Abschnitt I „Der Kontext“ (S. 14–59) in vier Kapiteln aufgezeigt.
Kapitel 1 „Einleitung“ (S. 14–17) nimmt Bezug auf die von den Autoren identifizierte „Konjunktur“ von „Unterscheidungen, die im Verfestigen begriffen sind“ (S. 14) und erläutert die Absicht, diese zu „verflüssigen“. Außerdem wird die Zielgruppe des Buches benannt: Fachkräfte der Beratung, die mehr suchen als „Lebenskunst-Ratgeber“ (S. 16). Die Autoren stellen sich mit ihren Grundüberlegungen vor.
In Kapitel 2 „Leben führen – eine widersprüchliche Angelegenheit“ (S. 18–31) definieren Wirth und Kleve den Menschen als biopsychosoziales Lebewesen, das mit Lebensführung „sein Leben sinnhaft“ (S. 18) bestimmen möchte, wozu Wissen und Information, körperliche Energie und seelische Kraft, gedankliche Orientierung, gefühlsmäßige Identität und sprachliche Mitteilungen gehören. Als solche Wesen sind Menschen – in der Sprache der Autoren – „mit einem Fuß in der Wirklichkeit und mit dem anderen Fuß in der Möglichkeit“ (S. 19). Sich dieser Ambivalenz kommunikativ zu stellen, ist individuelle Lebensführung und Aufgabe von Beratung. Anhand mehrerer Beispiele erklären die Autoren das Verflüssigen solcher Ambivalenzen zwischen Teilnahme und Nicht-Teilnahme an Gesellschaft und lenken die Aufmerksamkeit auch auf die Implikationen einer „digitaler werdenden Lebensführung“ (S. 27). Als zentrale Aufgaben von Lebensführung lassen sich zusammenfassen: Widersprüche, Spaltungen und Unterschiede zu arrangieren, mit ihnen konstruktiv umgehen und etwas zu erreichen, „was ohne andere und Dritte nicht erreicht werden kann“ (S. 31).
Kapitel 3 „Menschenbilder, die Sinn machen“ (S. 32–43) präsentiert den „Homo Systemicus“ (S. 32) und das für ihn zutreffende Menschenbild, das mit dem Akronym „SEEKER“ beschrieben wird. Untermalt mit Beispielen werden die Abkürzungen und ihre Bedeutung erläutert. So steht „S“ für die selektive Verwendung von Sinn, der sich im Kontext für die Erlebnisverarbeitung ergibt, aber auch Alternativen zulässt. Das erste „E“ beinhaltet das emotionale Erleben der Wirklichkeit und das zweite „E“ die Erwartung von Menschen, das Erlebte zu bewerten und einzuordnen, damit es sinnig wird. „K“ steht für die Aushandlungsprozesse in der Kommunikation, wieso wer wie gehandelt hat. Hinter dem dritten „E“ verbergen sich die Erwartungserwartungen der Gesprächspartner/​innen im Kommunikationsverlauf. Das „R“ verdeutlicht die Ressourcen der Menschen und wie sie diese einsetzen. Das Abklopfen der jeweiligen Positionen steht unter der Maßgabe, Ambivalenzen sichtbar zu machen, die jeweilige Wahrnehmung wertschätzend zu akzeptieren, auftauchende Mehrdeutigkeiten zu thematisieren und die Beteiligten zu motivieren, dadurch ein breiteres Sinnreservoir zu erhalten. Das Kapitel enthält hilfreiche Interventionsfragebeispiele für jede Position.
In Kapitel 4 „Im Ermöglichen navigieren“ (S. 44–59) wird der „systemische Wertkompass WERA“ (S. 44) eingeführt, der vor allem die Beratenden darin bestärkt, nicht in die Zielvorgabefalle für die Klient/​innen zu treten, sondern mit ihnen Wege und Perspektiven zu eröffnen. Ausgehend von Beispielen werden die einzelnen Tätigkeitsformen, die sich hinter dem Akronym verbergen, abgearbeitet. Das Wissen kann sich z.B. auf die berufsethischen Prinzipien der Internationalen Föderation der Sozialarbeiter beziehen und der Herstellung sozialer Gerechtigkeit dienen. Beim Erkennen von ermöglichender Beratung greifen die Autoren auf die drei ethischen Maximen von Heinz von Foerster zurück: Dies sind
- die Verantwortungsübernahme,
- das Steigern der konstruktiven Möglichkeiten und
- das Dekonstruieren.
Zum Reflektieren hilft die „Systemische Charta der Menschenrechte“, die den Menschen als „ganzheitliches, sozial verbundenes und sinnanwendendes Wesen“ (S. 51) erachtet und über die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 hinausgeht. Agieren umschließt die vier Arten, Anliegen zu bearbeiten, nämlich: Hilf uns, unsere Möglichkeiten a) zu erweitern und b) zu nutzen sowie hilf uns, unsere Wirklichkeit c) zu ertragen und d) rasch zu ändern.
Abschnitt II „Die systemische Beratung“ (S. 62–126) umfasst sechs Kapitel.
Kapitel 5 „Lebensführung aneignen: Die Familie als (zu viel) schützendes System“ (S. 62–70) greift anhand mehrerer Beispiele auf, was es bedeutet, die Familie als sozialen Zugehörigkeitsraum abzuschotten und damit Übergänge zu erschweren und wie es gelingen kann, anhand der Unterscheidung von wahrgenommener Wirklichkeit und Möglichkeit neue Verbindungen zu schaffen. Dabei führen die Autoren vor, wie ein Rückgriff der Beratung auf Metaerzählungen und narrative Ansätze sowohl für das Erkennen als auch das Empfinden der zu Beratenden beim „Anschluss finden und Unterstützung bieten“ (S. 66) hilfreich sein können.
Kapitel 6 „Lebensführung erweitern: Das Erziehungssystem als förderndes bzw. überforderndes System“ (S. 71–81) verdeutlicht an Beispielen unterschiedlicher Interpunktion in der Bewertung von Schüler/innenverhalten den „Teufelskreis wechselseitiger Entwertungen“ (S. 73) zwischen Lehrenden, Lernenden und Erziehungsberechtigten und eruiert u.a. Zeitknappheit, Macht, Mangel an Zuversicht und Selbstwirksamkeit als Ursachen für die kommunikative Schieflage. Soziale Arbeit in Form von psychosozialem Stützen und Beteiligen kann der Artikulation der trennenden Elemente in den Systemen dienen. An die Seite der Sach- und der Bildungsorientierung muss nach Ansicht der Autoren die Beziehungsorientierung auf persönlicher und organisationaler Ebene gestellt werden.
Kapitel 7 „Lebensführung relativieren: Die Kultur der Lebensführung am Beispiel der Migration“ (S. 82–100) nimmt aufgrund von kulturellen Differenzen entstandene gespaltene Lebensführung als Ausgangspunkt einer beraterischen Intervention. Wirth und Kleve berufen sich bei der Vorgehensweise auf das von ihnen bearbeitete Culturagramm, nach dem im ersten Schritt des beraterischen Vorgehens die kulturellen Ambivalenzen wahrgenommen und im zweiten Schritt erkundet und reflektiert werden, bevor sie im dritten Schritt entwicklungsorientiert bearbeitet werden. Das Culturagramm beinhaltet für das sozialarbeiterische Handeln 10 Themenfelder, die zusammen mit den Migrant/​innen flexibel bearbeitet werden können: 1) Gründe für die Zuwanderung, 2) rechtlicher Status, 3) Aufenthaltsdauer in der Zuwanderungsgesellschaft, 4) Gesprochene Sprache zu Hause und in der Zuwanderungsgesellschaft, 5) Vorstellungen von Gesundheit, 6) Einfluss von Traumata und Krisenereignissen, 7) Kontakt mit kulturellen und religiösen Einrichtungen, Feiertage, Essen und Kleidung, 8) Unterdrückung, Diskriminierung, Vorurteile, Rassismus, 9) Bildung und Arbeit als Werte und 10) Werte der Familie – Struktur – Macht, Mythen und Regeln.
Kapitel 8 „Lebensführung verändern: Sinn vermehren durch Aufstellungsarbeit“ (S. 101–117) erläutert zunächst den „Gesamtrahmen des systemischen Arbeitens“ (S. 102), in den Aufstellungen eingeordnet sind. Das sog. „Sechs-Schritte-Ablaufschema“ (S. 102) wird beschrieben und der Prozess des Aufstellens dargelegt. Danach werden die Bodenanker Wirklichkeit, Möglichkeit, Fähigkeit, Hindernis, Aufgabe, Befähigung, Situation, Ressource und nächster Schritt anhand einer Sinnaufstellung am Beispiel einer Klientin vorgestellt und systematisch erläutert, bevor abschließend für die jeweiligen Bodenanker Leitfragen und Gesprächsimpulse angeführt werden.
Kapitel 9 „Lebensführung selbst entscheiden: Möglichkeiten auswählen und entscheiden“ (S. 118–125) gibt ein Prozessschema an die Hand, das helfen kann, die „Unvereinbarkeiten und Einseitigkeiten“ (S. 118) des Lebens zu analysieren und durch das Aufzeigen von anderen Möglichkeiten zu überwinden. Unter Zuhilfenahme des auf fünf Positionen erweiterten Tetralemmas werden die Ratsuchenden sprichwörtlich an die Hand genommen, mit Hilfe von Bodenankern die Positionen zu durchlaufen. Die Positionen „die eine Seite der Entscheidungsalternative“ und „die andere Seite der Entscheidungsalternative“ sind gegenüberliegend angeordnet. Die Position „beides“ sucht bisher nicht gesehene Vereinbarkeiten und Verbindungen „des einen“ und „des anderen“. „Keines von beiden“ lenkt die Aufmerksamkeit auf den Kontext dessen, was übersehen wurde und bei entsprechender Klärung lösungsrelevant sein kann. „All dies nicht und selbst das nicht“ als fünfte Position öffnet den Blick auf Überraschungen, die vom Ratsuchenden unbeeinflusst passieren und eine weitere Wendung herbeiführen könnten. Die Autoren listen Impulse auf, um die jeweiligen Positionen zu thematisieren. Dabei geht es immer auch darum, welche Empfindungen die Ratsuchenden verspüren. Mit dem „Durchwandern“ der Tetralemma-Positionen könne – so die Autoren – der Entscheidungsdruck gemindert und eine Offenheit erreicht werden, damit sei aber noch keine Entscheidung gefallen.
In Kapitel 10 „Fazit“ (S. 126) drücken die Verfasser ihre Hoffnung aus, dass es ihnen gelungen sein möge, mit ihren Ausführungen zu helfen eine „verbundene und verbindende Lebensführung“ (S. 126) zu finden und Menschen zu begleiten, ihr Sinnmaterial selbstbestimmt zu ordnen.
„Am Ende“ (Abschnitt III) bleiben nur das Literaturverzeichnis (S. 130–132) sowie Angaben zu den Autoren (S. 133–134).
Diskussion
Erst der Untertitel des Buches mit dem Hinweis auf „systemische Wege“ schließt die Tür zum Inhalt auf. Auf den ersten Blick lenkt der bedeutungsschwere Titel nämlich die Fantasie eher in Richtung eines klinischen oder eines „Wie-richtiges-Leben-geht-“Kontextes. Dem Verfasser des Vorwortes ist zuzustimmen, dass der Leser/die Leserin nach der Lektüre „anders auf das eigene Leben schauen“ (S. 10) wird als vorher. Abgesehen davon, dass diese Absicht viele Autor/​innen bewegt – insbesondere in einer Reihe, die für Beratende geschrieben ist –, die mit ihrer Tätigkeit stets auch im Kontakt zu sich selbst stehen, gelingt es den Verfassern tatsächlich zu motivieren, das beraterische Handeln mit neuen Perspektiven anzureichern:
Konkret sind das WERA-Konzept, die Systemische Charta der Menschenrechte, die „Sinn-Aufstellung“ und das Culturagramm zu nennen – Elemente, die bisher noch nicht publiziert wurden. Damit ergänzen die Verfasser die systemischen Handlungsmaximen und das bekannte systemische Inventar und schaffen Optionen, mit den Klient/innen noch stärker auf das Verbindende statt das Spaltende zu blicken.
Was den Leser/die Leserin lockt, ist die Schreibweise: Es gelingt den Verfassern unter Rückgriff auf erklärende theoretische Zusammenhänge anhand von Beispielen auf die praktische Anwendung zu zielen und dies nicht vereinfachend, aber so einfach wie möglich zu präsentieren. Genau an den Stellen kommen die Aha-Effekte eigener Gesprächs- oder Fallkonstellationen, beim nächsten Mal noch eine andere Herangehensweise zu generieren statt sich „am Ende des Lateins“ zu sehen. Diese Zielklarheit des Bandes, ausgehend vom Kontext der Lebensführung in den Bereichen Leben, Lieben, Arbeiten, Facetten systemischer Beratung aufzuzeigen, motiviert zur Nachahmung. Fast in jedem Kapitel weisen Wirth und Kleve auf die Ergebnisoffenheit ihrer Gespräche hin, sie reichern die Ratsuchenden mit Betrachtungs- oder Handlungsvarianten an, belassen die Entscheidung aber bei diesen. Wie bei anderen Vorgehensweisen auch, wäre die Frage zu stellen, ob die Klient/​innen befähigt sind, die Komplexität zu bewältigen. Wenigstens ein Hinweis auf Grenzen des Inventars systemischer Beratung hätte nicht geschadet, das „Ende“ aufgewertet und die in der Bandreihe vorgegebene Seitenzahl von um die 100 Seiten nicht wesentlich gesprengt.
Fazit
Das handliche Buch ist sprachlich und im Layout sehr leser-/​innenfreundlich gestaltet und entwickelt tatsächlich die von den Autoren eingangs erwähnte Sogwirkung, es an einem Stück durch zu lesen. Für Lernende und Fachkräfte in der Beratung hält es eine gut verständliche Kost parat und hilft im Beratungsalltag weiter. Voraussetzung ist jedoch, sich mit dem Gesamtrahmen des systemischen Arbeitens bereits vertraut gemacht und arrangiert zu haben.
Rezension von
Prof. Dr. Irmgard Schroll-Decker
Lehrgebiete Sozialmanagement und Bildungsarbeit an der Fakultät Angewandte Sozial- und Gesundheitswissenschaften der Ostbayerischen Technischen Hochschule Regensburg
Website
Mailformular
Es gibt 74 Rezensionen von Irmgard Schroll-Decker.
Zitiervorschlag
Irmgard Schroll-Decker. Rezension vom 25.06.2020 zu:
Jan Volker Wirth, Heiko Kleve: Von der gespaltenen zur verbundenen Lebensführung. Systemische Wege für das alltägliche Leben. Vandenhoeck & Ruprecht
(Göttingen) 2020.
ISBN 978-3-525-40681-6.
Reihe: Leben. Lieben. Arbeiten: systemisch beraten.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/26621.php, Datum des Zugriffs 03.10.2024.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.