Ḥaim Omer, Regina Haller: Raus aus der Ohnmacht
Rezensiert von Prof. Dr. Raika Lätzer, 06.04.2020

Ḥaim Omer, Regina Haller: Raus aus der Ohnmacht. Das Konzept Neue Autorität für die schulische Praxis. Vandenhoeck & Ruprecht (Göttingen) 2019. 240 Seiten. ISBN 978-3-525-45913-3. D: 15,00 EUR, A: 16,00 EUR.
Thema
Haim Omer und Regina Haller erläutern das Prinzip der sogenannten Neuen Autorität im schulischen Kontext. Die Neue Autorität ist eine Alternative zur herkömmlichen, stark hierarchisch konzipierten Autorität. Das Ziel der Beeinflussung unerwünchten Verhaltens bleibt bestehen, aber es werden veränderte Prinzipien und Methoden angewendet, um dieses Ziel zu erreichen. „Raus aus der Ohnmacht“ stellt die Neue Autorität nun spezifisch für den schulischen Alltag vor.
Autorin und Autor
Haim Omer ist Psychologieprofessor an der Universität in Tel Aviv. Er hat bereits vielfach zu dem von ihm eingeführten Konzept der Neuen Autorität veröffentlicht.
Regina Haller ist Sekundarlehrerin, Schulleiterin, Supervisorin, Teamentwicklerin und Coach. Sie leitet derzeit eine Schule in Zürich und ist Präsidentin des Konvents der Schulleitungen in Zürich.
Entstehungshintergrund
Viele Schulen befinden sich in der heutigen Zeit im Spannungsfeld: Einerseits wird eine veränderte schulische Ausrichtung angestrebt mit Möglichkeiten zur Partizipation, mit einer Atmosphäre der Wertschätzung und mit klaren Wertvorstellungen, die sich von den Wertvorstellungen früherer Generationen unterscheiden. Andererseits aber entstehen immer wieder Missachtungen der schulischen Ausrichtung seitens der Schüler*innen, die von der Schule nicht geduldet werden können. „Raus aus der Ohnmacht“ zeigt nun Wege auf, wie sich die Lehrkräfte im schulischen Kontext durch den Rückgriff auf die Neue Autorität helfen können.
Aufbau
Nach dem Vorwort und der Einleitung gliedert sich das Buch in 7 Großkapitel mit mehreren Unterkapiteln:
- Kapitel 1: Ein neues Autoritätsverständnis
- Kapitel 2: Präsenz
- Kapitel 3: Lehrkräfte und Eltern: das unerlässliche Bündnis
- Kapitel 4: Kooperation unter Lehrkräften
- Kapitel 5: Gemeinsam für eine sichere Schule und ein lernförderliches Schulklima
- Kapitel 6: Die Schulleitung
- Kapitel 7: Mehr als nur Sanktionen
Es folgen ein Schlusswort, eine Danksagung und ein Literaturverzeichnis.
Inhalt
„Traditionelles Autoritätsverständnis baut auf Verbote und Sanktionen und verfolgt das Ziel des blinden Gehorsams. Im Gegensatz dazu fördert die Neue Autorität Eigenverantwortung, Empathie, Urteils- und Kritikfähigkeit der Kinder und Jugendlichen. Sie unterstützt ihren Entwicklungsprozess hin zu mündigen Menschen. Dieser lernfördernde Ansatz entspricht dem Verständnis einer modernen Pädagogik (Hervorhebungen im Originaltext“ (S. 9). Mit diesen Worten umreißt Regina Haller in ihrem Vorwort die sogenannte Neue Autorität. Regina Haller bemerkt außerdem: „Das Konzept stärkt die Autorität der Erziehungspersonen, ist kompatibel mit der Reformpädagogik und kombinierbar mit aktuellen Trends der heutigen Schul- und Organisationsentwicklung“ (S. 9).
Im weiteren Verlauf des Buches führen Haim Omer und Regina Haller aus,dass die Neue Autorität sich auf Kinder und Jugendliche positiv auswirke. Die Neue Autorität biete Orientierung, Begleitung und Schutz. Um Jugendlichen diese Optionen bieten zu können, bedürfe es erwachsener Führungspersonen, die Verantwortung übernehmen können und wollen (S. 11).
Als Prinzipien der Neuen Autorität geben Haim Omer und Regina Haller mehreres an: Präsenz, Selbstkontrolle, Widerstand, Vernetzung und Öffentlichkeit, Aufschub und Deeskalation, Beharrlichkeit sowie Wiedergutmachung (S. 13).
Bei der Vernetzung geht es beispielsweise darum, dass sich Lehrkräfte mit anderen Lehrkräften, der Schulleitung, den Eltern und weiteren Vertrauenspersonen des Kindes austauschen und gegenseitig stärken können. Auf diese Weise werde die Position der Lehrkraft und die Position der anderen Erwachsenen gestärkt, das unerwünschte Verhalten finde ein Ende und die Kinder könnten erleben, dass sie trotz ihres unerwünschten Verhaltens innerhalb der Schulgemeinschaft nicht aufgegeben werden. Letzten Endes werde so auch das Kind gestärkt.
Die Wiedergutmachung ist wörtlich zu verstehen. Kinder können sich für ihr Verhalten auf unterschiedliche Weise entschuldigen, Briefe schreiben oder andere Wege finden, das unerwünschte Verhalten „wieder gut zu machen“.
Diskussion
Zweifelsohne entspricht die Neue Autorität einer aktuellen pädagogischen Strömung. An mehreren Stellen erfolgen Verweise auf Pädagogen wie Jesper Juul oder Marshall B. Rosenberg, deren Ansätze der Neuen Autorität ähnlich sind. Zweifelsohne handelt es sich bei der Neuen Autorität außerdem um ein begrüßenswertes Konzept: Traditionelle autoritäre Werte loszulassen und andere pädagogische Wege einzuschlagen ist grundsätzlich ausgesprochen bedeutsam für eine moderne, solidarische Gesellschaft.
„Raus aus der Ohnmacht“ thematisiert allerdings auch den enormen Aufwand, den die Prinzipien der Neuen Autorität teilweise mit sich bringen. Haim Omer und Regina Haller verweisen darauf, dass auch die Vorgehensweisen der traditionellen Autorität viel Energie verbrauche und in vielen Fällen weniger oder keine Erfolge mit sich bringe.
Auch wenn es sich um eine „Neue“ Autorität handelt, handelt es sich allerdings um eine Autorität. „Raus aus der Ohnmacht“ behandelt in weiten Teilen die Möglichkeiten, unerwünschtes Verhalten seitens der Schüler*innen zu unterbinden. Sicherlich ist die Abwesenheit von unerwünschtem Verhalten im schulischen Kontext von zentraler Bedeutung für das Gemeinschaftsleben; insbesondere selbstgefährdendes oder fremdgefährdendes Verhalten braucht zweifelsfrei das Eingreifen von Personen mit Verantwortung. Gleichwohl ist in der Regel nicht nur die Bekämpfung von Symptomen, sondern auch eine Ursachenforschung eine Möglichkeit zur Verhaltensänderung. Bei vielen Kindern und Jugendlichen kann eine Ursachenforschung von immenser Bedeutung sein, da unerwünschtes Verhalten häufig von einer tiefer liegenden Ursache hervorgerufen wird. Darüber hinaus kann eine Verstärkung und Belohnung erwünschten Verhaltens ebenfalls zum Erfolg führen.
Ausgesprochen erfreulich ist die konsequente und selbstverständliche gendergerechte Schreibweise; es werden entweder neutrale Begriffe wie „Lehrkraft“ verwendet oder aber es wird konsequent und überzeugend zwischen der weiblichen und der männlichen Form abgewechselt.
Fazit
Die Neue Autorität stellt einen interessanten pädagogischen Ansatz vor. All jene werden das Buch hilfreich finden, die im schulischen Kontext mit Kindern und Jugendlichen arbeiten und eine Möglichkeit suchen, mit ihnen in einen Dialog zu treten und die eigene Führungsrolle dabei zu bewahren und zu festigen.
Rezension von
Prof. Dr. Raika Lätzer
Professorin für Musikpädagogik in der Sozialen Arbeit, Katholische Stiftungshochschule München
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Zitiervorschlag
Raika Lätzer. Rezension vom 06.04.2020 zu:
Ḥaim Omer, Regina Haller: Raus aus der Ohnmacht. Das Konzept Neue Autorität für die schulische Praxis. Vandenhoeck & Ruprecht
(Göttingen) 2019.
ISBN 978-3-525-45913-3.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/26631.php, Datum des Zugriffs 01.04.2023.
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