Thomas Kistemann, Jürgen Schweikart et al.: Medizinische Geographie
Rezensiert von Dr. Antje Flade, 29.07.2020

Thomas Kistemann, Jürgen Schweikart, Carsten Butsch: Medizinische Geographie. Westermann Schulbuchverlag (Braunschweig) 2019. 320 Seiten. ISBN 978-3-14-160357-6. 31,95 EUR.
Thema
Untersucht wird das Auftreten von Krankheiten in unterschiedlichen räumlichen Kontexten. Themenbereiche sind Krankheitsökologie, räumliche Strukturen des Gesundheitssystems, die Evaluation medizinischer Maßnahmen und raumbezogene Analysen. Abschließend wird der Zusammenhang zwischen Kultur und Gesundheit sowie die Bedeutung von Orten für die Gesundheit und das Wohlbefinden analysiert.
Autoren
Thomas Kistenmann ist Professor an der Universität und Vorsitzender des Vereins zur Förderung der geographischen Gesundheitsforschung. Jürgen Schweikart ist lehrend und forschend im Studiengang Geoinformationen als Professor an der Beuth Hochschule für Technik in Berlin tätig. Carsten Butsch ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Köln, er hat sich mit einer Arbeit über geographische Migrationsforschung habilitiert.
Aufbau
Das Buch besteht aus einem Vorwort, neun Kapiteln und einem Sachwörter-, Literatur-, Abbildungen- und Tabellenverzeichnis. Jedes Kapitel beginnt mit einer kurzen Einleitung und einem Überblick über die darin abgehandelten Punkte. Zu den Unterkapiteln gibt es jeweils eine kurze Zusammenfassung. Die Kapitel enthalten außer Abbildungen und Tabellen auch vertiefende Exkurse.
Inhalt
Kapitel 1
Gesundheit und Krankheit sind ungleichmäßig im Raum verteilt, was sie zu einem Thema der Geographie macht. Die Autoren unterteilen das Thema in vier Bereiche: die Krankheitsökologie, die Gesundheitssystemforschung, die post-medizinische Geographie und die raumbezogene Analyse. Als Meilenstein der Krankheitsökologie wird die Forschung über die Verbreitung der Cholera in London im 19. Jahrhundert von John Snow bezeichnet. Der Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen wird durch vielerlei Barrieren, wie weiten Entfernungen und mangelnder Informiertheit erschwert. Die sich in den 1990erJahren etablierende post-medizinische Geographie geht über die Medizin hinaus, indem sie die psychischen, sozialen und kulturellen Dimensionen von Gesundheit einbezieht. Hierunter fallen auch präventive Maßnahmen und Aufklärungskampagnen. Das Verfahren der räumlichen Analyse wird am Beispiel der Verteilung ambulant tätiger Ärzte in der Region Berlin-Brandenburg vorgeführt.
Kapitel 2
Berichtet wird über die historischen Wurzeln und Entwicklungen der Medizinischen Geographie. Im 19. Jahrhundert entwickelte sich die Kartierung von Krankheiten zur führenden Methode. Während die Medizinische Geographie eher krankheitsökologisch ausgerichtet ist, liegt der Schwerpunkt der Gesundheitsgeographie auf der Verortung gesundheitswirksamer Strukturen und Verhaltensweisen. Auf das Modell der Salutogenese von Aaron Antonovsky wird ausführlich eingegangen, dessen Annahme ist, dass sich zwischen Gesundheit und Krankheit ein Kontinuum erstreckt und es von den Interaktionen mit der sozialen, kulturellen und physischen Umwelt und von persönlichen Eigenschaften und Fähigkeiten, mit Stressoren fertig zu werden und gesundheitsfördernde Ressourcen aufzubauen, abhängt, an welcher Stelle sich ein Mensch befindet.
Kapitel 3
Im dritten Kapitel geht es um die Verteilung von Krankheit in Raum und Zeit. Der ungleich verteilte Zuwachs der Lebenserwartung wird thematisiert. Bei steigender Lebenserwartung verlieren Infektionskrankheiten an Bedeutung, die nichtübertragbaren Erkrankungen werden häufiger. Die Determinanten von Gesundheit und Krankheit, beginnend bei den individuellen Lebensstilfaktoren bis hin zu den sozioökonomischen, kulturellen und naturräumlichen Gegebenheiten, führen zu gesundheitlichen Disparitäten. In einem Exkurs werden gängige Maßzahlen von Gesundheit und Krankheit, wie die Verkürzung der Lebensdauer durch Erkrankungen sowie die Zahl der noch zu erwartenden Lebensjahre beschrieben. Ein weiterer Exkurs stellt unterschiedliche Perspektiven von Krankheit und Gesundheit vor. Infolge der Globalisierung kommt es zu einem starken brain drain in den Entwicklungsländern und zugleich einer rascheren Verbreitung von Infektionskrankheiten.
Kapitel 4
Im vierten Kapitel werden gesundheitliche Ungleichheiten und deren Ursachen und Folgen untersucht. Betrachtet werden der Sozioökonomische Status, das Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit und der Migrationsstatus als Einflussfaktoren. Es gibt unvermeidbare (z.B. altersbedingte) und vermeidbare Ursachen wie gesundheitsschädigendes Verhalten. Und es gibt ungünstige Umweltbedingungen, darunter auch die eingeschränkte Zugänglichkeit zu Gesundheitsdiensten. Verschiedene Modelle zur Erklärung der gesundheitlichen Ungleichheiten werden vorgestellt.
Kapitel 5
Im fünften Kapitel wird der Zusammenhang zwischen Gesundheit und physischer Lebensumwelt analysiert. Differenziert wird zwischen physikalischen, chemischen und mikrobiellen Wirkfaktoren, wobei in jeder dieser Kategorien auf spezifische Stressoren eingegangen wird. Physikalische Wirkfaktoren sind Extremwetterereignisse, Strahlenbelastung und Lärm, chemische Wirkfaktoren stammen aus dem Boden, dem Wasser und der Luft. Krankheitserreger können ebenfalls über den Boden, das Wasser und die Luft sowie auch über Tiere zum Menschen gelangen. Krankheitserreger sind Bakterien, Viren und Parasiten.
Kapitel 6
Im sechsten Kapitel werden die räumlichen Perspektiven der Gesundheitsversorgung behandelt. Gesundheit ist ein bedeutender Wirtschaftssektor, die Gesundheitsversorgung umfasst alle Aktivitäten, um die Gesundheit zu fördern, wiederherzustellen oder zu erhalten. Zu klären sind dabei die Finanzierung, die vorhandene Ressourcen, die vertragsärztliche Bedarfsplanung und die Sicherung der ärztlichen Ausbildung. Sehr ausführlich wird die Frage der Erreichbarkeit medizinischer Angebote behandelt. In mehreren Exkursen wird auf methodische Fragen der Gesundheitsversorgung eingegangen. Die informelle Versorgung von Kranken ist in Ländern, deren Bevölkerung nur über ein relativ geringes Einkommen verfügt, die Normalität.
Kapitel 7
Im siebten Kapitel werden die Gesundheit der Bevölkerung und die Gesundheitsversorgung in den Entwicklungsländern betrachtet. Armut, mangelnde Bildung und Vulnerabilität führen zu Unter-, Mangel und Fehlernährung, verringerter Lebenserwartung und Erkrankungen. Zu unterscheiden ist zwischen nichtübertragbaren Krankheiten wie Herzinfarkt und Schlaganfall usw. und übertragbaren Krankheiten, die durch Krankheitserreger oder deren toxische Produkte verursacht werden. In Ländern mit geringem Einkommen sind die übertragbaren Krankheiten darunter Malaria, Tuberkulose und HIV/AIDS eine viel häufigere Todesursache. Die Etablierung der westlich geprägten Gesundheitssysteme in den Entwicklungsländern, die mit der Kolonisierung und den Missionen einsetzte, wird ausführlich geschildert.
Kapitel 8
Im achten Kapitel geht es um kulturelle Einflüsse und um die Bedeutung von Orten für die Gesundheit und das Wohlbefinden. Der Unterschied zwischen einem neutralen Space und einem persönlich bedeutsamen Place wird erläutert. Landschaften sind wahrgenommene, an kulturelle Deutungen gebundene Places. Das Konzept der Therapeutischen Landschaft wird beschrieben. Die Gestaltung von Gesundheitseinrichtungen, das gemeinsame Wandern in der Natur sowie der Gesundheitstourismus zeigen, wie weitreichend und vielfältig das Konzept ist.
Kapitel 9
Das abschließende Kapitel liefert einen Überblick über den Stand der vier Bereiche der Medizinischen Geographie. Was die Krankheitsökologie betrifft, weiß man heute mehr über Infektionskrankheiten, über Erreger und über die Wirkung von Umwelt- und Lebensbedingungen sowie die große Zahl miteinander zusammenhängender ökologischer, ökonomischer, sozialer und politischer Faktoren. Die Grundfrage der Gesundheitssystemforschung ist der gerechte Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen. Neue Themenfelder sind hier der Medizintourismus und die immer genauere Gesundheitsberichtserstattung auf der Grundlage einer wachsenden Zahl von Gesundheitsdaten mit Raumbezug. Ein relevantes Thema im Bereich der post-medizinischen Gesundheitsgeographie sind gesundheitsfördernde Orte. Raumbezogene Analysen profitieren von dem vereinfachten Zugang zu raumbezogenen Daten durch Geoinformationssysteme, durch große Datenmengen und den Einsatz komplexer Statistik-Software.
Diskussion
Das informative Buch vermittelt einen Überblick über einen Themenbereich, der derzeit angesichts der Covid-19 Pandemie noch aktueller geworden ist, als er es ohnehin schon ist. Die ganze Welt und nicht nur die Länder mit einem geringen Einkommen sind von der Pandemie betroffen. Der globale Wandel hat nicht nur eine weltweite Verflechtung des Gesundheitssektors mit sich gebracht, sondern auch eine weltweite und rasche Verbreitung von Infektionskrankheiten. Es wird ein breites Spektrum an Fragestellungen behandelt, es werden Modelle und Methoden vorgestellt, und es werden Perspektiven aufgezeigt. Durch die Verfügbarkeit großer Datenmengen und neuer statistischer Programme werden die Analysen immer genauer, was zweifellos ein Gewinn für die Gesundheitsberichterstattung ist. Die Medizinische Geographie entwickelt sich zu einer Geographie der Gesundheit, die durch Einbeziehung gesundheitswirksamer Strukturen und persönlicher sozialer und kultureller Einflussfaktoren der Komplexität der Wirkungszusammenhänge immer besser gerecht werden kann.
Dennoch hätte ein nicht nur sporadischer Blick auf die Umweltpsychologie die Perspektive erweitern können. Zum Beispiel wäre im fünften Kapitel, in dem es um die Effekte der physischen Lebensumwelt auf die Gesundheit geht, ein Abschnitt über „räumlich physische Wirkfaktoren“ sinnvoll gewesen, denn bauliche und soziale Dichte sind, wie die empirische Forschung dazu belegt, zweifellos gesundheitsrelevant. Auch zur Lärmforschung liegen neuere umweltpsychologische Ergebnisse vor. Über Therapeutische Umwelten (restorative environments) und zum Place-Konzept wurde in der Umweltpsychologie viel geforscht. Vermehrtes interdisziplinäres Zusammenarbeiten in diesem gesellschaftlich besonders relevanten Bereich wäre sicherlich lohnend.
Die Aussage, dass es ein zufriedenstellendes Modell zu den Therapeutischen Umwelten noch nicht gibt (S. 274), ist etwas überzogen. Das im zweiten Kapitel geschilderte Modell der Salutogenese von Aaron Antonovsky ist durchaus ein brauchbarer, der Komplexität der Wirkungszusammenhänge annähernd gerecht werdender Ansatz.
Fazit
Die Medizinische Geographie und deren Ausweitung zu einer Gesundheitsgeographie werden systematisch, übersichtlich gegliedert, detailliert und verständlich dargestellt.
Gesundheit ist zu allen Zeiten ein aktuelles Thema. In Zeiten einer Pandemie nimmt die Aktualität noch zu. Das Buch ist nicht nur Fachleuten in den Bereichen Medizin, Geographie, Ökologie, Umweltsoziologie und Umweltpsychologie, sondern auch in der Politik und Wirtschaft tätigen sowie allen Menschen zu empfehlen, denen klar ist, dass Gesundheit zwar nicht alles ist, aber dass ohne Gesundheit alles nichts ist.
Rezension von
Dr. Antje Flade
Psychologin, Sachbuchautorin
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