Esther Duflo, Abhijit V. Banerjee: Gute Ökonomie für harte Zeiten
Rezensiert von Prof. Dr. Ruth Simsa, 03.09.2020
Esther Duflo, Abhijit V. Banerjee: Gute Ökonomie für harte Zeiten. Sechs Überlebensfragen und wie wir sie besser lösen können. Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH (München) 2020. 560 Seiten. ISBN 978-3-328-60114-2. D: 26,00 EUR, A: 26,80 EUR, CH: 36,50 sFr.
Thema
In dem Buch geht es um die Rehabilitierung der Wirtschaftswissenschaften. Die AutorInnen zeigen, was gute Ökonomie zur Lösung der dringenden Weltprobleme beitragen kann.
AutorInnen
Esther Duflo zählt zu den einflussreichsten ÖkonomInnen der Welt. Sie ist Professorin für Armutsbekämpfung und Entwicklungsökonomie am Massachusetts Institute of Technology (MIT), wo sie zusammen mit Abhijit V. Banerjee das „Poverty Action Lab“ gründete, das ein weltweites Netz von SoziologInnen und ÖkonomInnen koordiniert. Duflo erhielt 2011 die John Bates Clark Medal, die nach dem Nobelpreis als wichtigste Ehrung für Wirtschaftswissenschaftler gilt und 2015 den angesehenen Prinzessin-von-Asturien-Preis. 2019 wurde sie gemeinsam mit Abhijit V. Banerjee mit dem Wirtschaftsnobelpreis ausgezeichnet.
Aufbau und Inhalt
Banerjee und Duflo adressieren die zentralen gegenwärtigen Probleme der Gesellschaft, Ungleichheit, Armut, Migration, Wirtschaftswachstum, freier Handel und Umwelt. Sie bieten dafür Lösungsvorschläge an, die auf randomisierten, kontrollierten Experimenten und Studien beruhen. Das heißt, sie untersuchen Beispiele von ansonsten ähnlichen Gruppen, die sich einem Aspekt unterscheiden, z.b. in ihrer Betroffenheit von politischen Entscheidungen oder anderen Ereignissen. Die AutorInnen gehören damit einer Richtung der Wirtschaftswissenschaften an, die aufwendige Tests über die Wirksamkeit von wirtschafts- und sozialpolitischen Maßnahmen anstellt. Sie zeigen, wie rigoroses wirtschaftliches Denken und sorgfältige empirische Arbeit, zur Lösung einer Vielzahl politischer Probleme beitragen kann. Die empirischen Daten werden in den Kontext unterschiedlicher, jeweils passender Theorien gestellt. Mit dieser Herangehensweise orientieren sich die AutorInnen an der medizinischen Forschung, in der neue Medikamente auf Basis von umfangreichen empirischen Tests entwickelt werden.
Der Aufbau orientiert sich an den einzelnen oben angeführten Herausforderungen, denen jeweils einzelne Kapitel gewidmet sind, ein Kapitel beschäftigt sich zudem mit Vorlieben, Wünschen und Bedürfnissen, d.h. den menschlichen Entscheidungen zugrundeliegenden Mustern.
Viele Daten widersprechen oftmals gängigen Annahmen, die immer wieder in Diskussionen genannt werden, z.B. sind die Auswirkungen der Immigration auf die Löhne von Einheimischen, über einen Zeitraum von über 10 Jahren gemessen, insgesamt sehr gering (S. 42). Das Beispiel der Visa-Lotterien in Neuseeland, deren Antragsteller von derselben Pazifikinsel Tonga stammten, zeigt dass die Gewinner ihr Einkommen innerhalb eines Jahres nach Erhalt eines Visums verdreifacht haben, was die Schlussfolgerung stützt, dass die Lohnunterschiede durch Unterschiede des Wohnorts und durch nichts anderes verursacht werden (S. 31). Im Kapitel über Präferenzen argumentieren die AutorInnen auf Basis vieler Beispiele, dass Vorurteile gegenüber anderen ethischen Gruppen das Symptom eines anderen Problems, nämlich wirtschaftlicher oder sozialer Schwierigkeiten, sind (S. 220). Auch die häufige Annahme, dass bedingungslose Transferleistungen zum Nichtstun verleiten, wird widerlegt (S. 440).
Das Kapitel über das Klima ist nicht ganz so fundiert, wie andere. So wird argumentiert, dass die Erwärmung für Länder um den Äquator enorme Kosten verursachen wird, aber davon ausgegangen, dass eine geringe Erderwärmung z.B. die BewohnerInnen von North Dakota als Vorteil sehen würden. Andere Auswirkungen des Klimawandels, wie extreme Wetterereignisse, werden außer Acht gelassen. Auch die Vorschläge sind hier etwas allgemeiner als z.B. im Kapitel über Migration oder das Grundeinkommen. In Bezug auf das Wachstum kommen die AutorInnen zu dem Schluss, dass trotz der Bemühungen von Generationen von ÖkonomInnen der tiefgreifende Mechanismus eines anhaltenden Wirtschaftswachstums schwer fassbar ist. Sie empfehlen eine Konzentration auf die Armutsbekämpfung unter Nutzung der Erkenntnisse aus randomisierten kontrollierten Studien.
Diskussion
Die AutorInnen schreiben, dass sie die Rolle der distanzierten Beobachterinnen leid waren und wissenschaftliche Grundlagen zu zentralen wirtschaftlichen Fragen in den öffentlichen Diskurs bringen wollen. Tatsächlich war ein solches Buch schon lange notwendig. Wirtschaft berührt die zentralen Lebensfragen, allerdings beruhen Lösungen für wirtschaftliche Fragen oft mehr auf Ideologie als auf wissenschaftlichen Erkenntnissen. Das Buch ist trotz eindeutiger Bekenntnisse zu Demokratie und gerechter Verteilung daher im positiven Sinn unideologisch, da die AutorInnen auf Basis eines hohen Fachwissens und einer enormen Vielzahl an Studien argumentieren. Damit fördert das Buch auch das Verständnis von Wirtschaft im Allgemeinen. Dem Motto bzw. Titel des ersten Kapitels „Make Economics Great Again“ wird das Buch gerecht. Wichtig, und für ÖkonomInnen untypisch, ist, dass der Begriff des guten Lebens weit gefasst wird und damit über reine materielle Größen wie Einkommen oder materieller Konsum hinausgeht.
Bisweilen kann die Anzahl der Fakten und Studien das Lesen (bzw. das Merken) erschweren, aber LeserInnen können sich natürlich auf einzelne Themenbereiche konzentrieren und das Buch ist gut und unterhaltsam geschrieben, sodass man sich gerne in den Fakten und deren Erklärungen verliert. Dennoch bleibt als einziger Kritikpunkt, dass das Buch zu lang ist, man hätte den Text ohne Inhaltsverlust straffen können.
Fazit
Das Buch kann sowohl interessierten Laien, als auch ÖkonomInnen und Studierenden der Wirtschaftswissenschaften empfohlen werden. Es ist lehrreich, unterhaltsam und wird hoffentlich den einen oder anderen Diskurs über das gute Leben und seine Voraussetzungen bereichern.
Rezension von
Prof. Dr. Ruth Simsa
Wirtschaftsuniversität Wien
Institut für Soziologie, NOP Institut
Website
Mailformular
Es gibt 76 Rezensionen von Ruth Simsa.
Zitiervorschlag
Ruth Simsa. Rezension vom 03.09.2020 zu:
Esther Duflo, Abhijit V. Banerjee: Gute Ökonomie für harte Zeiten. Sechs Überlebensfragen und wie wir sie besser lösen können. Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH
(München) 2020.
ISBN 978-3-328-60114-2.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/26651.php, Datum des Zugriffs 23.01.2025.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.