Thorsten Faas, Oscar W. Gabriel et al. (Hrsg.): Einstellungs- und Verhaltensforschung
Rezensiert von Prof. Dr. Frank Überall, 09.06.2020
Thorsten Faas, Oscar W. Gabriel, Jürgen Maier (Hrsg.): Politikwissenschaftliche Einstellungs- und Verhaltensforschung. Handbuch für Wissenschaft und Studium. Nomos Verlagsgesellschaft (Baden-Baden) 2020. 718 Seiten. ISBN 978-3-8487-2175-7. D: 98,00 EUR, A: 100,80 EUR, CH: 139,00 sFr.
Thema
In dem Buch geht es um die zentrale Frage, wie sich „Menschen mental oder in ihrem Verhalten mit Politik auseinandersetzen“. Dazu präsentieren verschiedene Autorinnen und Autoren den Stand der aktuellen Forschung, machen auf Probleme bei Datenerhebung und Interpretation aufmerksam und beschreiben den weitergehenden Forschungsbedarf.
Herausgeber
Prof. Dr. Thorsten Faas leitet die Arbeitsstelle „Politische Soziologie der Bundesrepublik Deutschland“ am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin.
Prof. Dr. Oscar W. Gabriel ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft an der Universität Stuttgart.
Prof. Dr. Jürgen Maier ist Professor für Politische Kommunikation an der Universität Koblenz-Landau.
Aufbau
Das Buch ist in fünf Hauptbereiche aufgeteilt:
- Politische Kommunikation,
- Politische Einstellungen,
- Politische Partizipation,
- Wählerverhalten und
- Methoden.
Insgesamt gibt es folgende 30 Kapitel-Beiträge zu Einzelthemen:
- Kapitel 1 – Politikwissenschaftliche Einstellungs- und Verhaltensforschung (Oscar W. Gabriel, Jürgen Maier, Thorsten Faas)
- Kapitel 2 – Prozesse der Beschaffung und Verarbeitung politischer Informationen (Constanze Beierlein, Axel Burger)
- Kapitel 3 – Interpersonale Kommunikation (Rüdiger Schmitt-Beck, Anne Schäfer)
- Kapitel 4 – Massenkommunikation (Christian Schemer, Stefan Geiß)
- Kapitel 5 – Wahlkampfkommunikation (Jakob-Moritz Eberl, Hajo G. Boomgaarden)
- Kapitel 6 – Kommunikation auf sozialen Netzwerkplattformen (Andreas Jungherr)
- Kapitel 7 – Wertorientierungen und Wertewandel (Philipp Scherer, Sigrid Roßteutscher)
- Kapitel 8 – Einstellungen zur Demokratie (Oscar W. Gabriel)
- Kapitel 9 – Politisches Vertrauen (Sonja Zmerli)
- Kapitel 10 – Kognitives politisches Engagement (Bettina Westle)
- Kapitel 11 – Extremismus (Kai Arzheimer)
- Kapitel 12 – Policy-Orientierungen (Eva-Maria Trüdinger)
- Kapitel 13 – Wahlbeteiligung (Markus Steinbrecher)
- Kapitel 14 – Beteiligung an direktdemokratischen Verfahren (Adrian Vatter, Thomas Milic, Bianca Rousselot)
- Kapitel 15 - Partizipation im Rahmen der parteistaatlichen Demokratie (Markus Klein)
- Kapitel 16 – Politischer Protest und Konsum (Jan W. van Deth, Carolin Zorell)
- Kapitel 17 – Deliberative Beteiligungsformen (Claudia Landwehr)
- Kapitel 18 – Soziale Konflikte, sozialer Wandel, sozialer Kontext und Wählerverhalten (Marc Debus, Jochen Müller)
- Kapitel 19 – Parteiidentifikation: Konzeptionelle Debatten und empirische Befunde (Martin Kroh)
- Kapitel 20 – Kandidatenorientierungen und Wahlentscheidung (Dieter Ohr)
- Kapitel 21 – Issue Voting und Economic Voting (Thorsten Faas, Arndt Leininger)
- Kapitel 22 – Kognitive Prozesse und Wählerverhalten (Alexander Jedinger)
- Kapitel 23 – Strategisches Wählen (Evelyn Bytzek)
- Kapitel 24 – Nebenwahlen (Kerstin Völkl, Rebekka Heyme)
- Kapitel 25 – Experimente (Sascha Huber)
- Kapitel 26 – Implizite politische Einstellungsmessung (Isabella Bablok, Anna Baumert, Michaela Maier)
- Kapitel 27 – Methoden zur Messung von Informationsverarbeitung: Reaktionszeitmessung, real-time response-Messung, information boards (Thorsten Faas, Jürgen Maier, Jochen Mayerl)
- Kapitel 28 – Skalenbasierte Messung von Informationsverarbeitung (Alice Binder, Christian von Sikorski, Jörg Matthes)
- Kapitel 29 – Innovative Methoden der Inhaltsanalyse – automatisierte Verfahren im Fokus (Hannah Schmid-Petri, Silke Adam)
- Kapitel 30 – Psychophysiologische Messungen (Christian Schemer, Svenja Schäfer)
Ein Verzeichnis der Autorinnen und Autoren sowie ein Sachregister runden das Werk ab.
Inhalt
Oscar W. Gabriel, Jürgen Maier und Thorsten Faas beschreiben in ihrem Einleitungskapitel die Bedingungen, unter denen Politik von der Bevölkerung zur Kenntnis genommen wird. Sie unterstreichen dabei die besondere Rolle des Fernsehens und thematisieren die „Bereitschaft der Politik, sich der Logik dieses Mediums zu unterwerfen.“ Sie diskutieren die Theorie der „kognitiven Dissonanz“, nach der Rezipienten Informationen vermeiden, „die die eigene Sicht auf die Welt in Frage stellen“. Dass Kommunikation und ihre Wirkungen in der Politikwissenschaft erst spät als Forschungsfeld etabliert wurden, bezeichnen die Autoren als „bemerkenswert“. Auch heute existiere noch keine übergreifende Theorie für diesen Bereich. Außerhalb von Krisenzeiten steige empirischen Beobachtungen zufolge die „Wahrscheinlichkeit einer routinehaften, auf Heuristiken gestützten Urteilsbildung“ in der Bevölkerung.
Mit dem Hinweis, dass die kognitive Kapazität des Menschen begrenze, leiten Constanze Beierlein und Axel Burger ihr Kapitel ein, in dem sie sich mit der Verarbeitung von Informationen beschäftigen. Als „kognitive Geizhälse“ würden Bürger bei politischen Entscheidungen meist bestrebt sein, die „Komplexität der Realität zu reduzieren“.
Rüdiger Schmitt-Beck und Anne Schäfer beschreiben die Ansätze liberaler und deliberativer Demokratie bzw. deren Kommunikations-Strategien und widmen sich in besonderer Weise der zwischenmenschlichen Kommunikation. Daran anknüpfend entwerfen Christian Schemer und Stefan Geiß ein Bild der Massenmedien in politische Debatten. Sie besprechen die Tendenzen zur Boulevardisierung und zur Negativität medialer Berichterstattung über Politik und analysieren die Rollen von Medienmachern und -nutzern. Für die Kommunikation in Wahlkämpfen weisen Jakob-Moritz Eberl und Hajo G. Boomgaarden auf bestehende Forschungslücken hin. Andreas Jungherr widmet sich sodann der Rolle politischer Kommunikation auf sozialen Netzwerkplattformen.
Mit den vorherrschenden Werten in der Bevölkerung befassen sich Philipp Scherer und Sigrid Roßteutscher, wobei sie feststellen, dass diese nur vergleichsweise wenig die Entscheidung bei Wahlen erklären. Oscar W. Gabriel stellt in einem Kapitel zu Einstellungen gegenüber der Demokratie fest, dass eine Bestandaufnahme der Forschung schon wegen der Heterogenität der Konzepte zu dieser Form der Staatsorganisation schwierig ist. Zur Frage des politischen Vertrauens führt Sonja Zmerli unter anderem aus, dass „skeptische, kritische und aufmerksame Bürger“ das demokratische System stärken. Zum Grundkonsens des politischen Vertrauens gehöre auch das soziale Vertrauen. Zudem stellt sie einen positiven Zusammenhang zwischen politischem Vertrauen und „höherem Fernsehkonsum“ und der „Anzahl der sich im Umlauf befindlichen Tageszeitungen“ fest.
In einem Beitrag zum kognitiven politischen Engagement beschreibt Bettina Westle dessen Notwendigkeit für das Funktionieren einer Demokratie. Zu „Fake News“ berichtet sie, dass diese nur schwierig im Internet richtiggestellt werden könnten, was „erhebliche negative“ Folgen für Demokratie und Gesellschaft haben könne. Für die Betrachtung von (extremistischem) Populismus stellt Kai Arzheimer fest, dass dabei der Aspekt der „Herrschaft des (vermeintlichen) Volkswillens über alle anderen Aspekte, insbesondere über die Grundrechte von Minderheiten und politischen Gegnern sowie über prozedurale Regeln“ gestellt werde. Über die Schwierigkeiten, die Einstellung von Bürgern gegenüber der Tätigkeit des Staates zu messen, berichtet Eva-Marie Trüdinger. Ebenso verweist Markus Steinbrecher darauf, dass die Motivationen zur Beteiligung an Wahlen bisher wenig erforscht seien. In einem Exkurs widmen sich Adrian Vatter, Thomas Milic und Bianca Rousselot den Faktoren, die eine Beteiligung an direktdemokratischen Verfahren begünstigen.
Markus Klein erläutert, dass abnehmende Mitgliederzahlen von Parteien keine Krise des politischen Systems bedeuteten. Die Zunahme der Beteiligungsformen des Protests und des bewusst politisch motivierten Konsums beleuchten Jan W. van Deth und Carolin Zorell. Die Rolle von Argumenten und Strategien in deliberativen Beteiligungsformen erklärt Claudia Landwehr, wobei sie einräumt, dass es über die Mechanismen bisher wenige grundlegende Studien gebe. Wie sich traditionelle gesellschaftliche Konfliktlinien entwickelt haben, illustrieren Marc Debus und Jochen Müller. Martin Kroh gibt unterdessen einen Überblick darüber, inwiefern die Identifikation mit Parteien (noch) eine Rolle für Wahlentscheidungen spielt. Die Personalisierung von Politik ist für Dieter Ohr Grundlage für den entsprechenden Einfluss von (Spitzen-)Kandidaten.
Inwiefern Wähler Themen und die wirtschaftliche Situation bei ihrer Stimmabgabe berücksichtigen, ist das Thema von Thorsten Faas und Arndt Leininger. Alexander Jedinger beschreibt den Forschungsstand zur Strategien der subjektiven Wahlentscheidung. Welche Auswirkungen die strategische Wahl eigentlich nicht bevorzugter Parteien haben kann, behandelt Evelyn Bytzek. Die Bedeutung von Nebenwahlen, etwa für Landtage oder EU, illustrieren Kerstin Völkl und Rebekka Heyme mit dem Hinweis auf Einflüsse der Bundespolitik bei der Stimmabgabe.
Zum Schluss des Bandes werden unterschiedliche, praktische Forschungsmöglichkeiten dargestellt. So wirbt Sascha Hubert dafür, in den Sozialwissenschaften mehr Experimente zu wagen, zeigt gleichzeitig aber auch deren potenzielle Schwächen auf. Isabella Bablok, Anna Baumert und Michaela Maier beschreiben Möglichkeiten, implizite politische Einstellungen zu messen. Dabei diskutieren sie unter anderem Reaktionszeiten bei (computergestützten) Befragungen, was von Thorsten Faas, Jürgen Maier und Jochen Mayerl vertieft wird. Die Messung der Motivationen und „Routen“ bei der Verarbeitung von Informationen durch Rezipienten beleuchten Alice Binder, Christian von Sikorski und Jörg Matthes, während sich Hannah Schmid-Petri und Silke Adam mit automatischen Verfahren der Inhaltsanalyse beschäftigen und deren klare Grenzen aufzeigen. Inwieweit die Messung von Herz-, Gesichtsmuskel- oder Gehirnaktivität sowie Haut-Leitfähigkeit bei Wahrnehmungs- und Informationsprozessen sinnvoll ist, erklären Christian Schemer und Svenja Schäfer.
Diskussion
Das Werk gibt einen guten Überblick über den aktuellen Forschungsstand zu den verschiedenen Teilgebieten der politikwissenschaftlichen Einstellungs- und Verhaltensforschung. In vorbildlicher Weise werden Desiderate der Forschung und Probleme bei der empirischen Vorgehensweise oder der Theoriebildung diskutiert. Darüber hinaus werden Ansätze für künftige Forschungen beschrieben, was den Sammelband ebenfalls spannend macht. Die einzelnen Kapitel sind mit ausführlichen Literaturhinweisen versehen.
Fazit
Sowohl zum „schnellen Einlesen“ in ein Teilgebiet der Politikwissenschaften und ihrer benachbarten Disziplinen (Soziologie, Psychologie, Ökonomie, Kommunikation, Medienwissenschaft) ist das Buch empfehlenswert als auch zur systematischen Erfassung des Interessengebietes.
Rezension von
Prof. Dr. Frank Überall
Medien- und Politikwissenschaftler an der HMKW Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft; www.politikinstitut.de
Website
Mailformular
Es gibt 24 Rezensionen von Frank Überall.
Zitiervorschlag
Frank Überall. Rezension vom 09.06.2020 zu:
Thorsten Faas, Oscar W. Gabriel, Jürgen Maier (Hrsg.): Politikwissenschaftliche Einstellungs- und Verhaltensforschung. Handbuch für Wissenschaft und Studium. Nomos Verlagsgesellschaft
(Baden-Baden) 2020.
ISBN 978-3-8487-2175-7.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/26657.php, Datum des Zugriffs 14.09.2024.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.