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Christopher D. Green: Psychology and Its Cities

Rezensiert von Prof. em. Dr. Helmut E. Lück, 06.04.2020

Cover Christopher D. Green: Psychology and Its Cities ISBN 978-1-13-805943-6

Christopher D. Green: Psychology and Its Cities. A New History of Early American Psychology. Routledge (New York) 2018. 1 Auflage. 438 Seiten. ISBN 978-1-13-805943-6.

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Thema

In der Zeit der Wende zum 20. Jahrhundert wurden in den USA erste psychologische Lehrstühle und Forschungseinrichtungen eingerichtet. Diese waren oftmals verbunden mit praktischen Interessen der jeweiligen Städte und Regionen. Ein Ziel dieses Buches ist es, die Geographie in die Entstehungsgeschichte der amerikanischen Psychologie um 1900 einzubeziehen. Wer waren die Pioniere? Was waren die neuen Zentren der Psychologie? Unterschieden sich diese? Welche sozialen Netze und Bewegungen gab es? Welche Schulen bildeten sich heraus? Wie waren die Wechselwirkungen zwischen der Psychologie und den Großstädten?

Autor

Christopher D. Green ist Professor für Psychologie an der York University, Kanada. Er hat Kunstpsychologie (M.A., Simon Fraser University, Vancouver), Kognitionswissenschaften (PhD., Psychology, University of Toronto) und Philosophie der Wissenschaften (PhD., Philosophy, University of Toronto) studiert und zu geschichtswissenschaftlichen und forschungsmethodischen Fragestellungen publiziert. Der Arbeitsschwerpunkt von Green ist seit vielen Jahren die Geschichte der Psychologie, insbesondere der Psychologie Nordamerikas. Christopher Green war Präsident der Society for the History of Psychology und Herausgeber des Journal of the History of Behavioral Sciences. Er ist international bekannt durch die Classics in the History of Psychology, die er 1997 begründet hat. Dies ist ein frei zugängliches Internetangebot mit inzwischen weit über 200 klassischen, sonst zum Teil schwer zugänglichen frühen Arbeiten der Psychologie in englischer Sprache (https://psychclassics.yorku.ca/). Hierdurch wurde der Zugang von Forschern, Lehrenden und Studierenden zu den wichtigen frühen Arbeiten der Psychologie sehr erleichtert.

Entstehungshintergrund

Es sind zwar in der Psychologie die Leistungen bedeutender amerikanischer Psychologen wie William James und G. Stanley Hall bekannt. Vielleicht kennt man ein wenig auch deren Biographien, aber es ist aus europäischer Perspektive weniger bekannt, wer von den frühen Forschern und Professoren wo studiert und gelehrt hat und in welcher Weise Forschung und Lehre mit den Interessen der Gesellschaft verflochten waren. Obwohl es in der psychologiegeschichtlichen Forschung seit fast 50 Jahren sozialgeschichtliche Ansätze gibt, sind die großen (und kleinen) (Universitäts-)Städte bislang kaum zum Gegenstand der Forschung gemacht worden. So behandelt das Buch ein reizvolles neues Thema. Dies geschieht durch den Verfasser anschaulich auf der Grundlage intensiver Recherchen.

Aufbau und Inhalt

Das Buch ist in zehn Kapitel eingeteilt, welche durch eine Einleitung und einen Epilog gerahmt werden.

  • Introduction
  • Kapitel 1. New York City, Birthplace of William James
  • Kapitel 2. Granville Stanley Hall: The Farmboy goes to Gotham
  • Kapitel 3. William James Comes to Harvard
  • Kapitel 4. James und Hall Meet
  • Kapitel 5. Baltimore and the Johns Hopkins University
  • Kapitel 6. Chicago
  • Kapitel 7. The Formation of Psychology's „Schools“
  • Kapitel 8. Psychology in New York and Boston in the 1890s
  • Kapitel 9. The Dawn of the 20th Century
  • Kapitel 10. Psychology on the Public Stage
  • Epilogue

Zu jedem Kapitel gibt es Anmerkungen; das Buch hat ein Namenverzeichnis.

Einführung

Die USA waren in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gekennzeichnet durch den Sezessionskrieg (1861-1865) mit über 600.000 Toten. Die nachfolgende Zeit der sog. Reconstruction bis 1877 war keine Wiederherstellung alter Verhältnisse, denn die Südstaaten mussten sich praktisch unterwerfen. Fast vier Millionen Sklaven waren nun frei, aber faktisch erheblich benachteiligt (S. 2). In das Land strömten zudem neue große Einwanderermassen aus West- und Osteuropa. Die großen Städte standen vor praktisch unlösbaren sozialen Aufgaben (S. 5). Es gab z.B. im Eisenbahnbau große, erfolgreiche Unternehmen, aber auch Streiks und deren gewaltsame Niederschlagung (S. 3).

Reiche Unternehmer wie Elihu Yale und John Harvard stifteten großzügig Universitäten; so wurden auch die ersten Berufungen von PsychologInnen möglich, obwohl die Meinung allgemein verbreitet war, dass die menschliche Psyche kein Gegenstand wissenschaftlicher Forschung sein könne.

Kapitel 1. New York, Geburtsort von William James

Das Leben in den USA, die Entstehung der Massenauflagen von Tageszeitungen in New York (S. 13 ff.), die Konflikte zwischen ethnischen Gruppen, die unzureichende Verwaltung und mangelhafte Ordnung durch die Polizei in der schnell wachsenden Metropole (S. 17) bilden den Hintergrund für die Darstellung der Familie James. William James wurde 1842 als ältester Sohn von Henry James Sr. geboren (S. 22 ff.). Die Familie war durch Immobiliengeschäfte wohlhabend geworden. Ihr Wohnort war New York, man zog aber mehrfach um, war auch ein Jahr in Europa. Dass William wissenschaftliche Interessen entwickelte, wurde vom Vater begrüßt.

Kapitel 2. Granville Stanley Hall, der Farmerjunge, geht nach Gotham

Einen größeren Unterschied in der Kindheit und Jugend von William James und Granville Stanley Hall kann man sich kaum denken. Hall kam aus einfachen Verhältnissen einer ländlichen Gegend im Nordosten der USA. Den ersten Vornamen hatte er von seinem Vater bekommen. Er verwendete Zeit seines Lebens nur den zweiten und schrieb sich daher G. Stanley Hall.

Hall war als junger Mann vielseitig aktiv (S. 47 ff.). Er war von Tieren fasziniert, spielte mehrere Musikinstrumente, sang in mehreren Chören. Er erarbeitete sich nach dem Studium eine Position als Dozent, unterrichtete in Religion, nahm an Diskussionskreisen teil, von denen eine später den Pragmatismus entwickelte und stürzte sich in das Leben New Yorks. (Daher in der Kapitelüberschrift der Name der fiktiven Stadt „Gotham“.) Hall erlernte Sprachen und erhielt durch einen großzügigen Sponsor die Möglichkeit eines einjährigen Aufenthaltes in Deutschland (S. 55), wo er 1870 in Bonn und Berlin Philosophie und Theologie lernen und Forschungseinrichtungen besuchen konnte. Er erlebte den Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges und danach die Vormachtstellung Preußens. Hall hatte bei Emil Du Bois-Reymond die führende physiologische Forschung in Berlin kennengelernt, aber noch nicht die experimentell begründete Psychologie. Den Entschluss wieder nach Deutschland zu reisen, um die experimentelle Psychologie kennen zu lernen, fasste er erst in den USA nach der Lektüre der Grundlagen der physiologischen Psychologie (1874) von Wilhelm Wundt.

Kapitel 3. William James kommt nach Harvard

Green stellt in diesem Kapitel die Geschichte Bostons seit dem 17. Jahrhundert dar. Dominierend ist in Boston in der Mitte des 19. Jahrhunderts eine konservative Einstellung gegenüber weiteren Immigranten und gegenüber Katholiken. William James bekommt in den USA, dann in der Schweiz, Deutschland, England und Frankreich Unterricht, will zunächst Maler werden, entwickelt naturwissenschaftliche Interessen und beschäftigt sich sein Leben lang mit Fragen des Glaubens, der Erweckung und Bekehrung. Eine klare Vorstellung von seinem Beruf hat er noch nicht. Im Herbst 1861 beginnt er das Studium an der Harvard University. Während andere Studenten die Hochschule eher aus gesellschaftlichen Gründen besuchen, hat William James bereits Latein und Griechisch gelernt, Europa bereist und eine breite Bildung erworben. Er beginnt (aus etwas unklaren Gründen) das Studium der Chemie, wechselt aber bald zur Anatomie, interessierte sich nun für die Evolutionstheorie und beginnt im Hinblick auf einen zukünftigen Broterwerb das Studium der Medizin, das damals noch nicht das Ansehen hatte wie heute. 1865 unterbricht James sein Medizinstudium für eine Amazonasexpedition, auf der er krank wird und erkennt, dass er kein Naturforscher werden will (S. 81 f.). Nach einer Phase der Unsicherheit und Niedergeschlagenheit geht er nach Europa (S. 84 ff.), macht eine Kur, lebt in Dresden, lernt in Berlin bei Emil Du Bois-Reymond neue physiologische Untersuchungsmethoden kennen, verfolgt den Plan, bei Helmholtz in Heidelberg zu forschen, verlässt aber mutlos die Stadt, ohne Wilhelm Wundt zu treffen, der dort lehrt und lange Assistent von Helmholtz war. In den USA setzt James sein Medizinstudium fort. Sein später berühmter Bruder, der Schriftsteller Henry James Jr. veröffentlicht in dieser Zeit sein erstes Buch.

William James ist inzwischen befreundet mit einer Kusine, mit der er philosophische Themen und Lebensfragen diskutiert. Er selbst ist in depressiver Stimmung. Sein Zustand verschlechtert sich weiter, als diese junge Frau im März 1870 plötzlich stirbt.

(Es ist in der Forschung zur Biographie von William James hierzu viel gesagt und vermutet worden. Archive geben jedoch wenig her. Der Autor Green beteiligt sich daher nicht an den Spekulationen.)

Kapitel 4. James und Hall treffen sich

James fängt sich emotional, indem er an der Harvard University als Mitarbeiter einer Forschungseinrichtung für Physiologie eine regelmäßige Tätigkeit findet. Er ist nun Instructor, und er kann seine Dissertation fertigstellen, die allerdings eher geisteswissenschaftlich als physiologisch ist. Forschungsarbeiten zur Philosophie und zur Verbindung von Physiologie und Psychologie verschaffen ihm Ansehen für seine Rolle als Harvard-Professor. Es ergibt sich, dass James und Hall zur gleichen Zeit in Europa sind. Sie treffen sich 1880 in Heidelberg für drei Tage.

Hall lernt in Leipzig die Psychologie Wundts genauer kennen. Er beurteilt die Methoden kritisch, wenngleich er Wundt bewundert. Halls persönliches Ziel ist nach seinem Deutschlandbesuch, die Psychologie auf Fragen der Pädagogik anzuwenden. Dies erscheint ihm als neues und lohnendes Gebiet. Er besucht deswegen Schulen in Frankreich und England.

Kapitel 5. Baltimore und die Johns Hopkins University

1634 wurde Maryland als Kolonie begründet, in der Katholiken leben und ihrem Glauben nachgehen konnten, denn andere Kolonien waren protestantisch, oft dogmatisch und gegenüber Katholiken feinselig. Maryland war aber gegenüber Andersgläubigen tolerant. Im 19. Jahrhundert wanderten auch viele tausend deutsche Katholiken aufgrund des sog. Kulturkampfs durch Bismarck ein.

Dieses 5. Kapitel behandelt vor allem die Biographien junger PsychologInnen, PhysiologInnen und PhilosophInnen vor dem Hintergrund der Entstehung neuer Hochschulen und veränderter Interessen dieser Hochschulen. Die Johns Hopkins University, benannt nach dem Stifter, der die Hochschule und mehrere andere Einrichtungen in Baltimore testamentarisch ermöglicht hat, wurde als Hochschule geschickt geführt, sodass Reformen möglich waren. 1880 hielt Hall Vorlesungen an der Harvard University, wobei seine Lehrveranstaltung zu Pedagogy ein Novum war. Schulunterricht unter Einbeziehung der Bedürfnisse der Kinder statt Drill war ein wichtiger Schritt dieser Zeit. Eine evolutionstheoretische Überzeugung von Hall war es, dass das Kind die Entwicklungsgeschichte der Menschheit wiederholt. Hall bekam 1881 eine Lecturer-Stelle an der Johns Hopkins University und gründete 1883 dort das erste Psychologische Laboratorium der USA. 1887 begründete er das American Journal of Psychology, die erste Psychologie-Zeitschrift in englischer Sprache, für die er ausdrücklich spekulative Aufsätze ablehnte (S. 153). Green beschreibt Hall als umtriebigen, auf eigenes Ansehen bedachten Taktierer (S. 155). 1888 wurde Hall Präsident der Clark University in Worcester, Massachusetts. Da war er gerade 44 Jahre alt. Doch entwickelte sich die Hochschule nicht wie erwartet: Es gab erhebliche finanzielle Schwierigkeiten, um nur das größte Problem zu nennen (S. 160).

Kapitel 6. Chicago

Bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts war die Gegend um Chicago bedeutungslos. Erst der 1825 eröffnete Erie-Kanal erschloss diese Gegend wirtschaftlich und ließ die Grundstückspreise in unvorstellbarer Weise ansteigen. Chicago wurde zur Handelsverbindung zwischen den Prärien im Westen, der Schweinezucht im Norden und den großen Städten der Ostküste. Industrie entstand, darunter als erstes Unternehmen die Maschinenfabrik McCormick, die Erntemaschinen herstellte (S. 170 f.). Diese Maschinen wurden über neu gebaute Eisenbahnlinien in den Westen transportiert. Da die Stadt bald völlig verschmutzt war – z.B. gab es keine öffentliche Müllabfuhr – brach 1849 die Cholera aus. 1871 gab es einen Großbrand, der 17.000 Häuser zerstörte und ein Drittel der Bevölkerung obdachlos machte.

John D. Rockefeller, der damals reichste Amerikaner, ermöglichte 1890 die Gründung einer Universität durch eine Stiftung von über 80 Millionen Dollar (S. 184). Der Philosoph und Pädagoge John Dewey (1859-1952) hatte an der Johns Hopkins University bei Stanley Hall promoviert und wurde 1894 Vorsitzender des Departments für Philosophie, Psychologie und Pädagogik an der University of Chicago. 1899 wurde er Präsident der American Psychological Association.

1893 plante man in Chicago die World's Columbian Exposition. Ein großes Thema der Ausstellung sollte elektrischer Strom und die Beleuchtung durch Glühlampen werden. Ausstellungen sollten den Fortschritt der Wissenschaft zeigen. In Chicago gab es aber niemanden, der die Psychologie hätte darstellen können. So gewann man noch rechtzeitig Josef Jastrow, einen Schüler von Stanley Hall (S. 198 ff.). Jastrow lehrte aber an der University of Wisconsin in Madison, wurde für den Zweck der Ausstellung in Madison nicht beurlaubt und musste daher lange Zeit wöchentlich nach Chicago reisen. Er zeigte dort Geräte und Tests aus der Psychologie in zwei Ausstellungsräumen. Besucher konnten sich mit verschiedenen Versuchsanordnungen testen lassen.

Kapitel 7. Die Entstehung der Psychologie-„Schulen“

Anfang 1887 gab es in den USA zwei psychologische Laboratorien, an der Harvard University und in der Johns Hopkins University. Nur acht Jahre später, Ende 1894, waren es 28. Das hatte damit zu tun, dass man der Psychologie mehr Bedeutung beimaß, vor allem aber mit dem Ausbau der amerikanischen Hochschulen.

Das dritte Laboratorium wurde von James McKeen Cattell 1887 an der University of Pennsylvania begründet. Cattell hat ein Jahr zuvor bei Wundt in Leipzig promoviert. Das vierte Laboratorium wurde von 1888 von William Bryan an der Indiana University eingerichtet. Bryan hatte bei Hermann Ebbinghaus in Berlin studiert, aber bei Hall promoviert. Das fünfte war Jastrows Labor der Universität von Wisconsin.

Waren die Kapitel 1–6 einzelnen Städten und einzelnen Persönlichkeiten gewidmet, enthalten die Kapitel 7–10 Informationen über eine Vielzahl von Personen, Orten und Entwicklungen. Ein Ausdruck der neuen Entwicklungen ist die Gründung der American Psychological Association (APA). Hall hatte 1892 zwei bis drei Dutzend Personen eingeladen, die vielleicht interessiert sein könnten. Noch im gleichen Jahr fand das erste Treffen in Philadelphia statt. Hall, der erste Präsident, berichtete über Geschichte und Gegenwart der experimentellen Psychologie in Amerika. Spezielle Vorträge folgten. Die APA hatte 31 Mitglieder, 22 neue Personen wurden aufgenommen. (Heute hat die APA mehr als 120.000 Mitglieder.) Hugo Münsterberg, der kurz zuvor von Freiburg an die Harvard University gekommen war, sprach über Probleme der experimentellen Psychologie und beschloss seinen Vortrag mit der Aussage, es komme nicht auf die präzisen Instrumente sondern auf die richtigen Fragen an, die man stelle.

Der Austausch in einer Fachgesellschaft wurde zunehmend wichtiger, weil nun die Forschungsinteressen und Meinungen auseinander gingen. „Psychologie“ war ja ein Thema der Philosophie, der Physiologie und auch der Psychiatrie geworden. Unter dem Einfluss der Evolutionstheorie und der Galton-Schule war auch die Erfassung der Unterschiede zwischen Personen wichtig geworden.

Kapitel 8. Psychologie in New York und Boston in den 1890er Jahren

Mit dem achten Kapitel wendet sich Autor Green wieder nach New York und Boston. Der Grund ist naheliegend: Die Städte haben sich inzwischen völlig verändert und die Psychologie durchlief weitere Entwicklungen.

Der dreißigjährige James McKeen Cattell kam 1890 nach New York. Er hatte bei Wundt 1886 promoviert, dann erkannt, wie wichtig die Ermittlung interindividueller Unterschiede war. Sein Ziel war die Entwicklung von „mental tests“. Cattells eigene Untersuchungen mit Tests in Fragebogenform erbrachten jedoch noch nicht die Ergebnisse, die man erwartet hatte. Statistische Verfahren, insbesondere Korrelationsrechnungen, wurden nun zunehmend wichtiger.

Das Verhältnis von Cattell und Stanley Hall war problematisch. Das von Hall herausgegebene American Journal of Psychology wurde von Hall als „Hauszeitschrift“ gehalten, sodass Cattell zusammen mit J. Mark Baldwin 1894 eine neue Zeitschrift herausbrachte: The Psychological Review.

Inhaltlich dehnte sich die Psychologie auch in andere Richtungen aus: Edward L. Thorndike hatte in Harvard studiert und untersuchte in seiner Doktorarbeit das Lernverhalten von Katzen und Hunden, die sich aus einer Puzzle Box befreien mussten. Sie erbrachten diese Leistung immer schneller, da sie vor der Box mit Futter belohnt wurden. Law of Effect, Effektgesetzt, nannte Thorndike sein Ergebnis, das später für den aufkommenden Behaviorismus (Watson, 1913) wichtig wurde.

Eine andere Entwicklung in der Psychologie trat durch Hugo Münsterberg ein, der aus einer wohlhabenden Familie aus Breslau kam, Wundt-Schüler war und in Freiburg ein eigenes Institut begründete, das auch von jungen amerikanischen Doktoranden aufgesucht wurde. Münsterberg wurde von James an die Harvard University geholt, wo er ein großes Laboratorium aufbaute und sich zunehmend der angewandten Psychologie widmete. Er wurde bald zu einer bekannten, gleichwohl umstrittenen Figur in Amerika, weil er mit vielen Themen (Film, Psychotherapie, Aussagenpsychologie und Rechtsprechung usw.) kreativ und selbstgewusst hervortrat (Münsterberg, 1913, 1914). Die Beziehung der Kollegen James und Münsterberg verschlechterte sich zusehends, denn Münsterberg trat auch in grundsätzlichen Fragen an die Öffentlichkeit, bei denen James eher Zurückhaltung eines Deutschen erwartete. Tatsächlich behielt Münsterberg bis zu seinem frühen Tod 1916 die deutsche Staatsangehörigkeit.

Kapitel 9. Die Morgendämmerung des 20. Jahrhunderts

Auch dieses neunte Kapitel trägt sehr verschiedenen Entwicklungen zusammen, von denen einige hier genannt werden sollen:

  • Um die Jahrhundertwende entstanden in den USA verschiedene religiöse Bewegungen, die zum Thema von Überlegungen und Untersuchungen wurden. William James befasste sich in umfangreichen Arbeiten mit religiöser Erweckung, Frömmigkeit und Mystik. Seine Auseinandersetzung mit Theologie war dabei philosophischer Art, weswegen er auch angegriffen wurde.
  • Ein anderes Thema ist die Emmanuel-Bewegung (S. 307 ff.), hervorgegangen aus katholischer Seelsorge. Dies war ein erfolgreicher Ansatz, der auch von geisteswissenschaftlich orientierten PsychologInnen unterstützt wurde. Inhalt war praktisch eine individuelle Psychotherapie. Tatsächlich wurde hier schon der Begriff Psychotherapy als Bezeichnung verwendet. Viele schlechte Imitationen der Methode durch andere führten zu einem schnellen Ende der heute kaum noch bekannten Bewegung.
  • Hall hatte zum 20jährigen Bestehen der Clark University 1909 namhafte PsychologInnen aus dem deutschen Sprachbereich zu Vorträgen eingeladen, von denen aber mehrere (u.a. Wundt und Meumann) absagten und Ebbinghaus plötzlich verstarb. Schließlich kamen Sigmund Freud, Carl Gustav Jung und William Stern (S. 311 ff.). Die Veranstaltung hatte die Wirkung, dass die Psychoanalyse in den USA Interesse und Anerkennung fand. Green zeigt, dass Details der Inhalte lange Zeit Wirkungen auf die amerikanische Psychoanalyse hatten.
  • In diesem Zusammenhang wird die Entwicklung der Klinischen Psychologie durch Lightner Witmer skizziert (S. 315 ff.). Ursprünglich hervorgegangen aus psychologisch begründeter Untersuchung und Behandlung von Schülern entstand eine eigene Richtung des Umgangs mit beratungs- bzw. behandlungsbedürftigen Personen. 1907 gründete er die Zeitschrift The Psychological Clinic, für die er den ersten Aufsatz mit dem Titel „Clinical Psychology“ beisteuerte.
  • Hall vertrat in seinen Arbeiten zur Entwicklung des Kindes in Anlehnung an Haeckel die Auffassung, dass in der Entwicklung des Einzelnen die Entwicklung der Art wiederholt wird: „Ontogeny recapitulates phylogeny“ (S. 322). Die Aufstellung dieses Phylogenetischen Grundgesetzes gab Anlass zu weiteren Untersuchungen, u.a. in der Zwillingsforschung.

Kapitel 10. Psychologie auf der öffentlichen Bühne

Dieses zehnte und letzte Kapitel vereinigt – ähnlich wie das neunte – weitere Entwicklungen der amerikanischen Psychologie, nunmehr ab etwa 1910. Mit der öffentlichen Bühne (Public Stage) ist vor allem die praktische Nutzanwendung der Psychologie gemeint, die in Amerika früh einsetzte.

  • Zunächst wird die angewandte Psychologie im Bereich der Industrie und Werbung herausgestellt. Der Taylorismus, entstanden durch den Ingenieur Frederick Winslow Taylor unter dem unzutreffenden Begriff Scientific Management hatte große, auch umstrittene Auswirkungen. Von psychologischer Seite kamen die Arbeitszeit- und Bewegungsstudien von Frank Gilbreth und dessen Frau Lilian Moller Gilbreth hinzu. Walter Dill Scott befasste sich erstmals mit der Psychologie der Werbung, indem er u.a. die Beachtung von Zeitungswerbung untersuchte (Scott, 1908).
  • Spätestens mit dem Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg im April 1917 war die Frage nach der Eignung wehrpflichtiger Männer sichtbar geworden. Schon zuvor war die Methode der Intelligenzmessung von Binet und Simon in den USA adaptiert worden. Als Anfang 1917 klar wurde, dass mehrere Millionen junger Männer gemustert werden würden, machte Robert M. Yerkes, der eher für seine Tierexperimente bekannt war, den Plan einer psychologischen Standarduntersuchung, womit auch die Psychologie ihren Beitrag zur amerikanischen Nation im Krieg leisten könne. Ungewöhnlich schnell entwickelte eine Arbeitsgruppe zwei Intelligenztests als Papier-und-Bleistift-Tests: Test a für Personen, die lesen konnten, und Test b für Personen, die nicht lesen konnten (S. 398). Schon im November hatten 40 PsychologInnen insgesamt 80.000 Männer untersucht. Die Tests konnten überarbeitet werden und erhielten die – heute bekannten – Bezeichnungen Army Alphy Test und Army Beta Test. Zu Kriegsende waren 1,7 Millionen Wehrpflichtige getestet worden. Ein nicht erwartetes Ergebnis war, dass das Intelligenzalter der jungen Männer nur bei 13 Jahren lag. Dies führte zu Maßnahmen zur Verbesserung von Unterricht, an denen Yerkes in den folgenden Jahren beteilig war.

Epilog

PsychologInnen haben sich in der Darstellung ihres Fachs oft ohne den Bezug zur Alltagswelt, zur Wirtschaft und „Politik“ (im negativen Sinn) gesehen und dargestellt (S. 411). Aber dies war natürlich nie der Fall. Seit Beginn hat die amerikanische Psychologie ihr Ansehen dadurch erworben, dass sie sich eingebracht hat – im Bereich der Schulen, Krankenhäuser, in der Industrie und der Regierung usw. Christopher Green weist in diesem kurzen, abschließenden Kapitel nochmals darauf hin, dass die Psychologie sich in Amerika zur gleichen Zeit entwickelt hat, wie die großen Städte gewachsen sind.

Diskussion

Christopher Green stellt viele sozialgeschichtliche Entwicklungen in den USA dar. Hierzu gehören Kriege und deren Auswirkungen, Rassenunruhen, soziale Reformen, Streiks, Veränderungen in Wirtschaft und Kultur. So erfährt man viel über die Geschichte Nordamerikas. Vor diesem „Hintergrund“ werden die Biographien der Pioniere der empirischen Psychologie dargestellt: William James, G. Stanley Hall, James McKeen Cattell und andere. Das ist bislang noch nie so geleistet worden und verdient Anerkennung.

Die gewählte Zeitspanne ist groß. Sie reicht – wenn man alle erwähnten historischen Fakten nimmt, sehr weit. Intensiv wird jedoch nur die Zeit von ca. 1860–1917 behandelt. Aber dies ist schon ein Zeitabschnitt, in dem in Nordamerika unglaublich viele Veränderungen eintraten – durch Einwanderungen, Kriege, Kanal-, Eisenbahn- und Brückenbau, durch Schwerindustrie, Elektrifizierung, Streiks und Unruhen. Die Entwicklung der Psychologie von religiös begründeten Ansätzen der Seelenkunde bis hin zu Anwendungsbereichen wie Pädagogischer und Klinischer Psychologie und Personalauslese für das Militär war nicht minder dynamisch. Auch ein kürzerer Zeitabschnitt hätte ein ganzes Buch gefüllt. Wenn man allein die Hunderte von Fußnoten durchsieht, würden viele für sich nach entsprechenden Recherchen ganze Geschichten abgeben.

Ein Gedanke, der sich beim Lesen sehr bald einstellt, betrifft das Verhältnis Nordamerikas und Deutschlands. 18mal allein sind die Einwanderer aus Deutschland als Begriff im Index zu finden. Da gab es Deutsche, die in den USA ihren Weg machten. Aber es gab auch viele junge, gebildete Amerikaner, die in Deutschland Philosophie, Physiologie, Psychologie und Pädagogik studierten und ihr Wissen in Amerika verwerteten. Immer wieder werden deutsche PsychologInnen – meist als Lehrer und Doktorväter – erwähnt. Der Index nennt – abgesehen von Münsterberg – 51 mal Wundt, 9 mal Fechner, 7 mal Ludwig, 7 mal Du Bois-Reymond, 5 mal Stumpf, 5 mal Meumann und 4 mal Ebbinghaus; Die führende Rolle deutschsprachiger Autoren in der Experimentalpsychologie ist unübersehbar. Sicher gab es auch Feindschaft (z.B. gegenüber Münsterberg zu Beginn des Ersten Weltkriegs). Es wäre eine eigene Fragestellung wert, die Beziehungen Deutschlands und Nordamerikas in der Geschichte der Psychologie genauer zu untersuchen und zu einem eigenen Thema zu machen. Dieses Buch von Christopher Green könnte hierfür eine Grundlage bilden.

Schließlich sei noch auf die gute Auswahl der ca. 50 Abbildungen und die beachtliche Sorgfalt und Genauigkeit hingewiesen, mit der das Buch erstellt wurde.

Fazit

Der Buchautor hat mit diesem umfangreichen Buch zur Psychologiegeschichte der USA eine neue Dimension hinzugefügt: Die Entstehung psychologischer Lehrstühle, Institute und Forschungsaktivitäten an den frühen nordamerikanischen Universitäten wird im Kontext der Sozialgeschichte dargestellt. Die Zeitspanne reicht von der Epoche der sog. Reconstruction (1865-1877) bis zum Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg.

Das eindrucksvolle Wissen des Verfassers, sein sozialgeschichtlicher Ansatz mit der Einbeziehung der Vereinnahmung des Kontinents, der Einwanderungsbewegungen, Wirtschaftskrisen, militärischen Konflikte sowie seine anschauliche Darstellung der Entwicklungen der Universitäten und der Psychologie als neuer empirischer Wissenschaft machen das Buch zum umfangreichen, streckenweise spannenden Sachbuch, das auch für Nicht-PsychologInnen lohnend ist.

Rezension von
Prof. em. Dr. Helmut E. Lück
FernUniversität in Hagen, Fakultät für Psychologie
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Es gibt 13 Rezensionen von Helmut E. Lück.

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ISSN 2190-9245