Hilko Paulsen, Timo Kortsch: Stressprävention in modernen Arbeitswelten
Rezensiert von Tatjana van de Kamp, 14.08.2020
Hilko Paulsen, Timo Kortsch: Stressprävention in modernen Arbeitswelten. Das „Einfach weniger Stress“-Manual. Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG (Göttingen) 2020. 80 Seiten. ISBN 978-3-8017-2924-0. 34,95 EUR. CH: 45,50 sFr.
Thema
„Einfach weniger Stress“ gehört zu den Kursprogrammen zur Stressprävention, die durch die Zentrale Prüfstelle Prävention der gesetzlichen Krankenversicherungen zertifiziert wurden und deren Wirksamkeit durch eine Evaluationsstudie überprüft wurde. Das vorliegende Manual erläutert Hintergründe, den Ablauf, flexible Anwendungsmöglichkeiten sowie didaktische Hinweise für Training und Coaching.
Autoren
Dr. Hilko Paulsen und Dr. Timo Kortsch sind wissenschaftliche Mitarbeiter an der Technischen Universität Braunschweig sowie selbstständige Berater und Trainer in der Organisations- und Führungskräfteentwicklung. Paulsens Schwerpunkte sind Stressmanagement, Kompetenz- und Veränderungsmanagement und er ist in sportpsychologischem Training ausgebildet. Kortsch fokussiert auf Stressmanagement, digitale Lösungen zur Kompetenzentwicklung und Lernkultur und ist ausgebildet als systemischer Berater (SG) und Hypnotherapeut (M.E.G.).
Aufbau und Inhalt
Kapitel eins führt in die Veränderungen und fortschreitende Digitalisierung in modernen Arbeits- und Lebenswelten und die damit verbundenen Folgen für Arbeitnehmer und Führungskräfte ein. Die Beschäftigten unterscheiden sich darin, wie sie wachsende Anforderungen, wie Erreichbarkeit, Arbeitsintensität, Veränderung, Unsicherheit und Komplexität bewerten und bewältigen.
Im zweiten Kapitel werden theoretische Grundlagen und empirische Befunde zur Stressentstehung, -bewältigung und -prävention beschrieben. Dem „Einfach weniger Stress“ Konzept liegen vor allem zwei Modelle zugrunde:
- Das Transaktionale Stressmodell (Lazarus & Folkman, 1987), das auf einer doppelten Bewertung des Problems beruht (dessen Bedrohlichkeit und der eigenen Ressourcen zu dessen Lösung).
Empirische Befunde zeigen, dass problemlösende Strategien effektiv zur Burnout-Vermeidung beitragen können, während sich in der Emotionsregulation vor allem ein Perspektivwechsel oder eine Neubewertung als hilfreich erweisen, wohingegen eine Unterdrückung von Gefühlen eher dysfunktional wirkt.
- Das Job-Demands-Resources Modell (Demerouti, Bakker, Nachreiner & Schaufeli, 2001), das aus Karaseks (1979) Job-Demands-Control Modell abgeleitet ist. Stress entsteht danach durch Arbeitsanforderungen bei fehlenden Arbeitsressourcen sowie deren Wechselwirkungen. Proaktive Veränderungen der Anforderungen und Ressourcen (sogenanntes Job Crafting) können zu mehr Motivation und höherer Arbeitsleistung führen, dysfunktionales Verhalten (schlechte Kommunikation, Konflikte, etc.) hingegen zu mehr Beanspruchung, Stress und einer Verringerung der Leistung.
Empirische Befunde unterstützen die Strategie Ressourcen aufzubauen. Förderliche Anforderungen können Arbeitsengagement und Leistung steigern, bergen aber auch die Gefahr, die Erholungsfähigkeit (z.B. abschalten können) zu beeinträchtigen. Die Lösung liegt in individuell kombinierten Strategien der Neubewertung, Ressourcenerweiterung und Aufsuchen/​Vermeiden von Anforderungen unter Berücksichtigung der Wechselwirkungen (=aktiv gestaltendes Job Crafting). Eine undifferenzierte Reduktion von Anforderungen korreliert dagegen positiv mit Burnout.
Das zweite Kapitel endet mit einer Übersichtstabelle der für dieses Programm relevanten metaanalytischen Befunde.
Im dritten Kapitel werden fünf marktgängige Stresspräventionsprogramme vorgestellt und mit dem „Einfach weniger Stress Konzept“ verglichen.
Die Wirksamkeitsuntersuchung in einer Pilotstudie der Autoren in Kapitel vier deutet darauf hin, dass der Kurs auch noch 5 Wochen nach dem Kurs in den Bereichen Stresslevel, Flucht und Wissen über Stressoren und Ressourcen effektiv wirkt. Er ist auch dem Selbstlernkurs und der StressCue App (www.stresscue.de, siehe Kapitel 8) gegenüber überlegen. Die Kontrollgruppe ohne Intervention wies kaum Erfolge auf.
Das sehr kurze fünfte Kapitel erklärt das Präventionsgesetz und die Zertifizierung standardisierter Präventionsleistungen durch die Zentrale Prüfstelle Prävention (ZPP) der gesetzlichen Krankenkassen sowie die Verfahrensweise.
Konzept, Aufbau und Ablauf des Kurses „Einfach weniger Stress“ Kurses werden ausführlicher in Kapitel sechs vorgestellt. Ziel des Kurses ist die Vermittlung individueller Stressbewältigungskompetenzen, die die Teilnehmer befähigen sollen, mit konkreten Belastungen umzugehen, in ihrer individuellen Lebenswelt Anforderungen zu reduzieren und Ressourcen aufzubauen.
Der Kurs ist neben einem Einführungs- und Abschlussmodul in fünf Phasen gegliedert, die modular und in variablem Stundenumfang eingesetzt werden können:
Stress verstehen:
- psychologische Grundlagen von Stress und zugrundeliegende Modelle
- Stresssituationen analysieren, positive und negative Folgen benennen sowie das Zusammenspiel zwischen Stressoren und Ressourcen verstehen
Stressoren erkennen
- Analyse, Bewertung und Reflexion der eigenen Stressoren, z.B. im Stressoren-Radar
- persönliche innere Antreiber und den Umgang mit ihnen verstehen und ggf. umdeuten
- Verständnis für die Ambivalenz der Wirkungen von Herausforderungen entwickeln
Ressourcen wecken
- Ressourcenorientierte Sichtweise entwickeln
- Eigene Ressourcen und deren Bedeutung entdecken (z.B. mit dem Ressourcen-Radar), Wege zu ihrer Aktivierung erarbeiten und Wunschressourcen erfassen
- Job Crafting in Bezug auf die Gestaltung eigener Aufgaben, Beziehungen sowie Kognitionen (kognitive Umstrukturierung und Neubewertung) als Baustein der Ressourcenaktivierung
Umsetzung planen
- Anhand der Materialien aus den vorangegangenen Modulen Veränderungsbedarf und Veränderbarkeit analysieren, eine konkrete Veränderung planen, Handlungsschritte planen sowie Vorsätze in einer „wenn … dann …“-Struktur im Hinblick auf vorhersehbare Hindernissen fassen.
- In Gruppen Ideen sammeln und mögliche Hindernisse bei der Umsetzung diskutieren
Gelassen handeln
- Entwicklung von der Vision zum Wunsch-Handeln, Wenn-Dann-Pläne gegen mögliche Widerstände entwickeln, Rückfällen vorbeugen
- Teilnehmer befähigen, auch bei Umsetzungsbarrieren handlungsfähig zu bleiben
Abschlussmodul und Verabschiedung
- Alle Lerninhalte Revue passieren lassen und in einen persönlichen Ressourcenkoffer packen
- Maßnahmen zur Transfersicherung
Für alle Phasen/​Module werden Themen, Ziele, Inhalte, Methoden, Dauer und Materialen systematisiert und erläutert. Präsentationsfolien, Flipcharts und Arbeitsblätter sind jeweils beispielhaft eingefügt. Alle Materialen sind auf der CD-ROM zum Download verfügbar.
Das siebte Kapitel beschreibt Möglichkeiten, das Konzept auch in Coaching- und Beratungsprozessen oder einem hybriden Modell aus beidem umzusetzen mit Beispielen, möglichen Coachingfragen und Hausaufgaben für alle fünf Schritte.
Kapitel acht stellt weitere Anwendungsmöglichkeiten vor, insbesondere
- eine Anpassung des Programms für Führungskräfte in Bezug auf zeitliche Komprimierung, Anpassung der Inhalte (z.B. gesundheitsorientierte Führung sowie eine zielgruppengerechte Haltung und Formulierung
- digitale Unterstützung durch Apps, Email-Interventionen, Online Kurse sowie die auf dem „Einfach weniger Stress“ Programm basierende Stresscue-App als wirksame Ergänzung.
- Integration in das betriebliche Gesundheitsmanagement als individuelle Verhaltensprävention und als betriebliche Verhältnisprävention auf organisationaler und Prozessebene
Die dem Buch beigelegte CD-ROM enthält die zur Durchführung des Kurses benötigten Arbeitsblättern, Materialien und Präsentationsfolien sowie den ein- und eineinhalbtägigen Stundenverlaufsplan.
Diskussion
Das Manual ist für die betriebliche Praxis anwendbar, inhaltlich klar, pragmatisch und durchdacht strukturiert und basiert auf aktuellen Forschungsbefunden. Es ist übersichtlich gestaltet mit Tabellen, Schaubildern, Flip- und PowerPoint Charts und optisch abgesetzten Textbausteinen sowie Erklärungen theoretischer Zusammenhänge und didaktischen Hinweisen. Es enthält zusammen mit den Arbeitsblättern auf de CR-Rom alles, was erfahrene Trainer, Coaches oder Personalverantwortliche für die Durchführung eines Trainings oder Coachings benötigen. Die Autoren übertragen konsequent ihre fünf Phasen beispielhaft auf verschiedene Trainings- und Coaching Szenarien sowie unterschiedliche Zielgruppen.
Für die verschiedenen Phasen des Trainings verwenden die Autoren eingängige Symbole: S. 34 Glühbirne für Stress verstehen (S. 34), Blitz für Stressoren erkennen (S. 37), Herz für Ressourcen wecken (43). Allerdings werden diese auf Seite 30 anders zugeordnet mit Blitz für Stress verstehen, Herz für Stressoren erkennen und Glühbirne für Ressourcen wecken.
Etwas irritiert hat mich die Kritik an anderen marktgängigen und ebenfalls von der Zentralen Prüfstelle für Prävention (ZPP) zertifizierten und in wissenschaftlichen Evaluationsstudien und der Praxis bewährten Stressbewältigungs- und Präventionsprogrammen. In der Einleitung merken die Autoren nach dem Besuch einer Ausbildung an, „dass bestehende Kurskonzepte dem aktuellen Anforderungen gar nicht ausreichend Rechnung tragen“(S. 1). In Kapitel 3 werden die Besonderheiten des „Einfach weniger Stress“ Programms vorgestellt werden, als seien dies Alleinstellungsmerkmale gegenüber den anderen Präventionskursen:
- Kompakte 2 Tage
- Kompetenzen, um das Gelernte im Alltag anzuwenden
- Bezug auf zunehmende Alltagsanforderungen
- Bezug auf viele theoretische Weiterentwicklungen
- Breit angelegte Zielgruppe und auf spezielle Zielgruppen anpassbar
- Modularer Aufbau
- Ressourcenorientierter Ansatz
Das besonders kritisch (und aus einer älteren Auflage) zitierte „Gelassen und sicher im Stress“ Programm von Kaluza [1] ist theoriegeleitet, wird regelmäßig in neuen Auflagen überarbeitet und auf aktuelle Anforderungen und Forschungserkenntnisse angepasst, ist modular und flexibel aufgebaut, auf verschiedene Situationen und Zielgruppen anwendbar und sowohl in mehrwöchigen Varianten als auch als zweitägiges Kompaktprogramm durch die ZPP zertifiziert.
Auch Kaluza thematisiert die Schwächen des Karasek Modells (S. 39) und unterstützt die salutogenetische und ressourcenorientierte Sichtweise. Er integriert diese Aspekte in einem eigenen integrierten Anforderungs-Ressourcen-Modell mit Bewertung (Motive/Bedürfnisse, Einstellungen, Komponenten) nach Lazarus & Folkman (S. 58). Das Trainer Manual und das Teilnehmer Begleitbuch von Kaluza gehen ausführlicher auf wissenschaftliche Stress- und Gesundheitskonzepte sowie die biologischen Grundlagen und Stressreaktionen ein und setzt neben der instrumentellen und mentalen Stressbewältigung auch einen Schwerpunkt auf das regenerative Stressmanagement und wahlweise eine Akutbewältigung.
Die zitierten Programme unterscheiden sich in der Struktur und den inhaltlichen Schwerpunkten. Es gibt jedoch keine fundierten Hinweise darauf, dass sie weniger wirksam sind als das Programm der Autoren.
Das Programm von Paulsen und Kortsch zeichnet aus, dass es sehr pragmatisch strukturiert, auf das Notwendige beschränkt und dadurch schnell zugänglich ist, und dennoch auf aktuellen Forschungsbefunden und gesundheitspsychologischen Grundlagen beruht. Es ist flexibel anwendbar, und erfahrene Trainer, Coaches oder Personalverantwortliche können es mit dem Manual selbst durchführen und anpassen. Psychologen können ihr Wissen und ihre Kompetenzen in einem Zertifizierungskurs bei den Autoren vertiefen, um den Kurs mit Bezuschussung durch die Krankenkasse anzubieten.
Fazit
„Einfach weniger Stress“ ist ein praxisnaher und theoretisch fundierter Trainingsleitfaden für die Stressprävention im Training oder Coaching. Er ist für die Förderung durch gesetzliche Krankenkassen zertifiziert und für verschiedenen Zielgruppen einsetzbar. Zu diesem Programm bieten die Autoren auch eine Train-the-Trainer Schulung an.
[1] Gert Kaluza (2018): Stressbewältigung. Trainingsmanual zur psychologischen Gesundheitsförderung. 4.Aufl. Berlin: Springer. Paulsen und Kortsch weisen im Text und in der Literatur auf die 4. Auflage 2018 hin, zitieren inhaltlich aber aus der älteren dritten Auflage 2004. In der neuen Auflage haben sich unter anderem die Stressverstärker (S. 40) verändert.
Rezension von
Tatjana van de Kamp
Dipl. Kauffr., MA (Arbeits- und Organisationspsychologie)
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Es gibt 71 Rezensionen von Tatjana van de Kamp.
Zitiervorschlag
Tatjana van de Kamp. Rezension vom 14.08.2020 zu:
Hilko Paulsen, Timo Kortsch: Stressprävention in modernen Arbeitswelten. Das „Einfach weniger Stress“-Manual. Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG
(Göttingen) 2020.
ISBN 978-3-8017-2924-0.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/26685.php, Datum des Zugriffs 16.09.2024.
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