Nadia Kutscher, Thomas Ley u.a. (Hrsg.): Handbuch Soziale Arbeit und Digitalisierung
Rezensiert von Prof. Dr. Juliane Sagebiel, 18.02.2021

Nadia Kutscher, Thomas Ley, Udo Seelmeyer, Friederike Siller, Angela Tillmann u.a. (Hrsg.): Handbuch Soziale Arbeit und Digitalisierung. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2020. 658 Seiten. ISBN 978-3-7799-3983-2. D: 39,95 EUR, A: 41,10 EUR, CH: 51,90 sFr.
Thema
Das Thema Digitalisierung hat in einem rasanten Tempo unser Kommunikationsverhalten verändert und unseren Alltag neu strukturiert. Der „Lock-Down“ in der Corona-Pandemie hat zu Beschränkungen der Bewegungs- und Reisefreiheit, Homeoffice und Homeschooling oder durch vermehrten Onlinekonsum unser Leben massiv verändert. Und dieser Wandel macht auch vor der Sozialen Arbeit nicht Halt. Über die digitalen Medien eröffnen sich neue Möglichkeiten soziale Kontakte zu pflegen, die im real-life aufgrund der Kontaktbeschränkungen nicht möglich wären. In den Hochschulen wird Online-Lehre angeboten, Soziale Dienstleister posten ihre Angebote im Netz und bieten Onlineberatung an, Meetings und Konferenzen werden über Zoom abgehalten und die Aussage: „Sorry, ich bin im Zoom“ hätte es vor Corona nicht gegeben. Aber neben all den neuen, positiven Möglichkeiten zeigen sich die bestehenden sozialen Ungleichheiten deutlicher als vor der Pandemie (vgl. vgl. Butterwegge 2020a/b, dlf 2020, BAG kommunaler Frauen- und Gleichstellungsbeauftragter Deutschlands 2020, Lichtenberger/​Ranftler 2020).
Die rasante technische Entwicklung einerseits als auch der Diskurs zur Digitalisierung oder Mediatisierung in der Sozialen Arbeit erzeugen in der Disziplin und der Profession einen Druck, sich mit den Chancen und Risiken und den ökonomischen Folgen der Digitalisierung auseinanderzusetzen. Der Diskurs um digitale Medien und den sie auslösenden Transformationsprozessen in der Sozialen Arbeit zeigen eine Zuspitzung auf die Handlungsfelder der Kinder- und Jugendarbeit und der Onlineberatung. Das Themenspektrum um die Digitalisierung in der Sozialen Arbeit lässt sich systematisieren auf der Ebene der gesellschaftlichen Rahmung als Metaprozesse von technologisch vermittelten gesellschaftlichen Entwicklungen, die verantwortlich sind für neue sozialen Ungleichheiten. Die Ökonomin Shoshana Zuboff legt mit ihrem Werk „Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus“ eine aus marxistischer Perspektive umfassende Macht und Wirtschaftskritik der Plattformökonomie vor. In der Maschinenintelligenz sieht sie eine extreme Steigerung der Produktivkräfte als neues Produktionsmittel überschüssiger Nutzerdaten, die zur Vorhersageproduktion verarbeitet werden und der personenbezogenen Werbung und Anpassung an das Nutzerverhalten dienen. Diese ökonomischen Veränderungen mit ihren menschenverachtenden, intransparenten Geschäftspraktiken führen zu instrumentären Machtverschiebungen, die soziale Ungleichheiten produzieren und „eine zutiefst antidemokratische soziale Kraft“ (Zuboff 2018, S. 110) entfalten, den Überwachungskapitalismus. Der exklusiven Konzentration von Wissen und Macht der Digitalgiganten sei „eine Form der Tyrannei, die sich vom Menschen nährt, aber nicht vom Menschen ist“ (ebda.). Neben kritischen Gesellschafts- und zeitdiagnostischen Analysen finden sich grundlegende theoretische Zugänge das Verhältnis von Digitalität und Sozialer Arbeit zu erklären. So werden techniksoziologische, kommunikationstheoretische, medienpädagogische, sozialarbeitswissenschaftliche und sozialpädagogische Perspektiven herangezogen zur Erweiterung der Wissensbasis. Des Weiteren werden die Auswirkungen digitaler Technologien für Management und Steuerung in sozialen Organisationen und der Risiken und Chancen des Einsatzes von Dokumentationssystemen und der daraus folgenden Konsequenzen für die Autonomie und Selbstbestimmung der AdressatInnen diskutiert. Inwieweit im Spannungsfeld zwischen Vagheit und Exaktheit (Ley/Seelmeyer 2014, S. 52) der medialen Dokumentation und Entscheidungsfindung fachliche Standards gewahrt und datenschutzrechtliche Grundsätze eingehalten werden können, stellt einen weiteren Diskussionspunkt dar. Welche Wirkungen die Mediatisierung auf die veränderten Gegenstände der Sozialen Arbeit in den verschieden Handlungsfeldern, den Methoden und der Bedeutung von Medienpädagogik in der Bildungsarbeit entfaltet und welche neuen Formen der Dienstleitungserbringung durch digitale Medien sich eröffnen, stellt einen weiteren Schwerpunkt im Diskurs dar. Die vielfältigen Transformationsprozesse auf den genannten Ebenen bieten Möglichkeiten und Herausforderungen für die Forschung, deren Gegenstand sich zunehmend in virtuellen Räumen abzeichnet.
Seit einigen Jahren erscheinen Publikation, die in ihrer Vielfalt einen differenzierten, analytischen Blick auf die Entwicklungen, Widersprüche und Herausforderungen der Verflechtung des Digitalen und des fachlichen Selbstverständnisses der Profession ermöglichen. Herausragend unter allen Publikationen ist das 2020 erschienene „Handbuch Soziale Arbeit und Digitalisierung“ von Nadia Kutscher, Thomas Ley, Udo Seelmeyer, Friederike Siller, Angela Tillmann und Isabel Zorn. Es bietet einen ersten, gelungenen, systematisch detaillierten Überblick zu den Schnittstellen der Sozialen Arbeit aus unterschiedlichen theoretischen Perspektiven und zeigt prospektive Auswirkungen auf die Profession und die gesamtgesellschaftliche Entwicklung. In dem 658 Seiten starken Werk verfolgen die HerausgeberInnen ein über das technische Verständnis hinausgehende Begriff von Digitalität, in dem die „Etablierung soziotechnischer Arrangements und ihre Folgen für die einzelnen Akteure, Formen, Anlässe und Rahmenbedingungen sozialer Dienstleistungen“ (S. 10) mitzudenken sind. Denn „Der sich verändernde Umgang mit Daten verändert gesellschaftliche Teilhabenmöglichkeiten, politische Prozesse, das Verhältnis von Beruflichem/Öffentlichkeit und Privatsphäre, Vulnerabilitäten und Ungleichheiten, professionelle Entscheidungsspielräume und organisationale Standardisierungsprozesse“ (ebd.). Prozesse, die unmittelbar auf die Soziale Arbeit rückwirken. Die Schlussfolgerung diesen Wandel schlicht als „Soziale Arbeit wird digitaler“ zusammenzufassen, ignoriert die Vielschichtigkeit der Ebenen, auf denen dieser Wandel geschieht.
Herausgeber*innen
- Nadia Kutscher: Studium der Sozialen Arbeit und Pädagogik. Inhaberin des Lehrstuhls für Erziehungshilfe und soziale Arbeit an der Universität Köln. Arbeitsschwerpunkte: Digitalisierung im Kontext der Sozialen Arbeit, digitale Medien und Kindheit, Kinder- und Jugendhilfeforschung, ethische Fragen der Sozialen Arbeit, Bildung und soziale Ungleichheit. und Familie
- Thomas Ley: Studium der Sozialen Arbeit und Erziehungswissenschaft. Wissenschaftlicher Mitarbeiter und stellv. Leiter des Kompetenzzentrums Soziale Dienste am Institut für Innovationstransfer der Universität Bielefeld. Arbeitsschwerpunkte: Soziale Arbeit und Digitalisierung, Organisations- und Professionstheorien der Sozialen Arbeit, digitale Dokumentation pädagogischer Prozesse, qualitative Sozialforschung.
- Udo Seelmeyer: Studium der Erziehungswissenschaft mit Schwerpunkt Soziale Arbeit. Professur für Sozialarbeitswissenschaft an der FH Bielefeld. Arbeitsschwerpunkte: Digitalisierung in der Sozialen Arbeit, Assistive Technologien, ethische und soziale Implikationen digitaler Technik.
- Friederike Siller: Studium der Erziehungswissenschaft und Germanistik. Professur für Medienforschung und Medienpädagogik an der TH Köln. Arbeitsschwerpunkte: Forschung zu Medienkompetenz, medienpädagogische Evaluationsforschung, Kinder und Familien und Digitalisierung, digitale Teilhabe.
- Angela Tillmann: Studium der Erziehungswissenschaft. Professur für Kultur- und Medienpädagogik an der TH Köln. Arbeitsschwerpunkte: Kinder- und Jugendmedienforschung, Mediensozialisationsforschung, Soziale Arbeit und Digitalisierung, Aushandlung von Geschlecht in Medien.
- Isabel Zorn: Studium der Erziehungswissenschaft. Professur für Medienpädagogik am Institut für Medienforschung und Medienpädagogik an der TH Köln. Leiterin des Forschungsschwerpunktes: Digitale Technologien und Soziale Dienste. Mitglied im Forschungsschwerpunkt Medienwelten.
Aufbau und Inhalt
Mit der Auswahl der Beiträge wollen die AutorInnen den aktuellen Forschungs- und Wissensbestand zur „wechselseitigen Verwobenheit“ (S. 11) der hohen Dynamik gesellschaftlicher Digitalisierungsprozesse und den Prozessen in der Sozialen Arbeit grundlegend analytisch betrachten. Und das ist, so darf nach eingehender Lektüre anerkennend gesagt werden, den HerausgeberInnen und AutorInnen mit diesem Handbuch in hervorragender Weise gelungen ist. Im Folgenden werden wir entlang der Gliederung die einzelnen Abschnitte in gebotener Kürze vorgestellt.
Das Werk ist konzeptionell in sechs Kapitel gegliedert, in denen jeweils aus unterschiedlichen theoretischen Perspektiven Grundsatzthemen reflektiert werden. Im ersten Teil, zu „disziplinären Perspektiven“ finden sich vier theoretische Beiträge, die „ein Aufbrechen des parallel verlaufenden, nebeneinanderher Denkens von Sozialer Arbeit und Digitalität“ (Neumaier 2020, S. 89) eröffnen. Der erste Beitrag aus techniksoziologischer Perspektive geht der Frage nach, wie „Menschen und Technik gemeinsam interagieren und dadurch Sozialialität und Materialität gleichsam erzeugen“ (S. 18). Aus kommunikationswissenschaftlicher Sicht plädiert dann Krotz das Konzept der Mediatisierung für die Analyse von Sozialer Arbeit im Wandel der Medien anzuwenden, da dieser neben der Technikentwicklung vor allem „die individuellen, alltäglichen, kulturellen und gesellschaftlichen Umgangsweisen mit dem Medienwandle in den Mittelpunkt stellt“ (S. 30). Wie die Disziplinen Soziale Arbeit und Medienpädagogik interdisziplinär mit- und voneinander profitieren können sieht Hoffmann in einem handlungsorientierten, kritisch konstruktiven Umgang mit den Herausforderungen der Digitalisierung und Mediatisierung (vgl. S. 53). Abschließend untersuchen Cleppien und Hofmann aus einer sozialpädagogischen Sicht die „Argumentationsmuster der Digitalisierungsdebatte in der Sozialen Arbeit als auch …des Wandelns der Wissenschaft selbst“ (S. 58). Sie kommen zu dem Ergebnis, dass die Mediatisierung der Sozialen Arbeit sicher zu Neujustierungen führe, aber „zu keiner Transformation der grundlegenden Strukturen sozialpädagogischen Wissens“ (S. 69). Aber zur Schärfung des fachlichen Selbstverständnisses sei eine kritische Sicht auf das „laute Treiben“ (S. 58) des Diskurses notwendig, ebenso auf die Veränderungen einer digitalen Wissenschaft und ihrer politischen Steuerung nach Nützlichkeitskriterien (S. 71).
Im zweiten Teil werden „Gesellschaftliche Entwicklungen und Diskurse“ in den Blick genommen. In den acht Beiträgen analysieren die AutorInnen Veränderungen in den Bereichen der Arbeitswelt durch die Datafizierung und Algorithmisierung, den Lebenswelten von Kindern- und Jugendlichen, die Ursachen neuer soziale Ungleichheiten und wie sich in der beschleunigten Mediengesellschaft neue Formen von (fast unsichtbarer) Kontrolle und Überwachung etablieren. Und schließlich, welche Chancen eine offene, freien Software (openness) für die Soziale Arbeit bedeuten könnte. Zwei Beiträge sollen hier kurz vorgestellt werden: der Beitrag von Iske und Kutscher zu digitalen Ungleichheiten und von Lehner zu Aspekten der Überwachung, sozialer Kontrolle und Fürsorge. Ersterer geht der Frage nach, wie und welche sozialen Ungleichheiten sich durch den Zugang und die Nutzungspraktiken in sozialen Netzwerken ergeben. Die AutorInnen beziehen sich in der Analyse auf in der Architektur der digitalen Infrastruktur und dessen programmiertechnischen-algorithmischen Grundlagen, des Codes, für die Entwicklung und Fortschreibung digitaler Ungleichheiten. Denn die Codes erzeugen „auf der Basis von Algorithmen erstellte digitale Personenprofile, in denen Nutzungs- und Verhaltensdaten von Personen berechnet und gespeichert werden“ (S. 121), die als „digitale Schatten“ für die Nutzenden intransparent bleiben. Während der Diskurs um Digitale Spaltung (digital divide) die Ursachen im Zugang (access) und das Nutzungsverhalten (first- and second-level-digital divide) in den Blick nimmt, erweitert der Zugang der zero- bzw. third-level digital divide die Perspektive um die infrastrukturelle Dimension. Gerade in der Nutzung des Internets liegen die Ursachen für die Entwicklung und Fortschreibung digitaler Spaltungen und Ungleichheiten. Abschließend fragen die AutorInnen „inwiefern digitale Angebote in der Sozialen Arbeit Ungleichheitsproduktion befördern oder verhindern“ (S. 125).
Auch Lehner identifiziert die Entstehung und zukünftige Zementierung sozialer Ungleichheit und Stigmatisierung im System des social scoring, der digitalen Überwachung und Kontrolle. Er ermittelt einen fließenden Wechsel zwischen staatlichen und kommerziellen Überwachungstechnologien (S. 130), mit der Menschen algorithmisch kategorisiert und diskriminiert werden. Obdachlose, Arbeitslose, Alleinstehende, Flüchtlinge und andere ökonomisch Schwache geraten mit ihren Datenprofilen ins Abseits, ihre Misere gerinnt zum persönlichen Makel (vgl. S. 137). Kritische Soziale Arbeit sollte daher „darauf bedacht sein, zu verhindern, dass die algorithmisch gesponnenen Schicksalsfäden sich in Ketten verwandeln“ (S. 140).
Auf welchen Prinzipien und Grundlagen digitalisierte Formen der Dienstleistungserbringung beruhen, und welche Veränderungen, Erweiterungen wie Einschränkungen sich für fachliches Handeln ergeben, welche Qualitätsstandards gewahrt werden sollten, um einer Deprofessionalisierung entgegen zu wirken sind zentrale Fragen im dritten Teil des Handbuches. Arbeitsfeldübergreifend werden „spezifische Formen der Verbindung von digitaler Technologie und methodischen Handlungsansätzen“ (S. 13) beispielhaft für verschieden Arbeitsbereichen beschrieben. Das Spektrum der Beiträge reicht von der Onlineberatung, über digitale Falldokumentation, Chancen und Risiken der Sozialrobotik und möglichen Gefahren für die Risikodiagnostik, wenn „computergestützte Prognosen treffsicherer sind als Prognosen, die von Fachkräften ohne Unterstützung von Computern generiert werden“ (S. 255 f.). Welche Veränderungen und Herausforderungen sich für die sozialraumorientierte Soziale Arbeit im digitalen Zeitalter ergeben analysiert Kergel (S. 229). Die Orientierung an der digitalen Lebenswelt der AkteurInnen reicht über den materiellen Raum hinaus in den virtuellen Sozialraum, in dem informelle Netzwerke und Selbsthilfegruppen aktiv sind. Daher sollte sozialraumorientierte Soziale Arbeit „auch um eine medienpädagogische Perspektive angereichert“ (S. 234) werden. Denn über den Einsatz digitaler Medien können „willensstärkende Ressourcen freigelegt“ (S. 238) und selbstbestimmte Lebensführung ermöglicht werden.
Im Weiteren werden aus der Perspektive von disziplin- und professionsbezogenem Wissen Aspekte des fachlichen Handelns, der anzueignenden professionellen Kompetenzen hinsichtlich der veränderten Arbeitsbedingungen und ethischer Grundfragen diskutiert. Die Frage nach den Konvergenzen und/oder Widersprüchlichkeiten von fachlich Standards und den Logiken der digitalen Medien stehen auch hier im Focus der Beiträge. Abschließend wird im vierten Teil diskutiert, wie ein professioneller Habitus ausgebildet werden kann, „der die Digitalisierung kritisch-analytisch und pragmatisch- handlungsorientiert in den beruflichen Arbeitskontexten einbetten kann“ (S. 14). Kutscher richtet ihren Blick auf ethische Fragen, „die sich im Zusammenhang der digital-förmigen Erbringung personenbezogener sozialer Dienstleistung stellen“ (347). Die algorithmische Auswertung der vielen Metadaten, die sich durch die Nutzung von Social Media ansammeln bleiben nicht ohne Konsequenzen für die Adresst*innen (S. 353), denn ihre Berechnungen basieren auf der Unterscheidung von „Normalität“ und Abweichung (S. 354). Damit bergen sie das Risiko einer strukturellen, potentiell intransparenten Reproduktion sozialer Ungleichheit. Eine technische Logik, die „ethische Reflexionsbedarfe“ und eine Werteverantwortung für die Fachkräfte, wie für die Trägerorganisationen der Sozialen Arbeit anzeigt, aber auch die Politik herausfordert gesetzliche Rahmenbedingungen Datenschutz zu gewährleisten. Kutscher kommt zu dem Schluss, dass ein Forschungsbedarf besteht hinsichtlich moralischer Konflikte auf subjektiver wie struktureller Ebene.
Die strukturelle Ebene Organisation Sozialer Arbeit und der „organisierenden Technologien“ (S. 14) stehen im Mittelpunkt des fünften Abschnitts „Digitalisierung und Organisation“. In den einzelnen Beiträgen werden Fragen der digitalen Veränderung institutioneller Infrastruktur auf die Rahmenbedingungen für die fachliche Praxis, die Arbeitsabläufe, die die kommunikative Infrastruktur behandelt, wobei Ley und Seelmeyer betonen, dass die „Hidden Levers of Internet Control“ (S. 386) von der Profession kritisch in den Blick genommen werden sollten und einen Forschungsbedarf aufzeigen. Welchen Herausforderungen das Management sozialer Organisationen gegenübersteht den tiefgreifenden und schnellen digitalen Wandel nachhaltig zu bewältigen und sich gegenüber kommerziellen Anbietern mit ihren disruptiven Geschäftsmodellen (vgl. S. 391) zu positionieren erfordere neue Managementstrategien. Denn, so betont Kreidenweis, der digitale Wandel kommt nicht aus der Steckdose, sondern beginnt in den Köpfen der Menschen (vgl. S. 398). Folglich sollten Mitarbeiterinnen und EndnutzerInnen an der Entwicklung beteiligt werden.
Welche Herausforderungen aus der am 28.5.2018 in Kraft getretenen Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) der EU mit den Grundsätzen zur Verarbeitung personenbezogener Daten (Art. 5 ), zur Rechtmäßigkeit der Verarbeitung dieser Daten (Art. 6), sowie der Bedingungen für die Einwilligung zur Nutzung der Daten (Art. 6) für den Auftrag der Sozialen Arbeit folgen, erläutern Pudelko und Richter anhand von datenschutzrelevanten Szenarien aus der Praxis (vgl. S. 421 ff.) Ihr Fazit lautet: Datenschutz ist Bestandteil des Professionsauftrages der Sozialen Arbeit. Abgerundet wird der Abschnitt zu organisationalen Veränderungen mit einem Beitrag von Beranek, in dem sie die Möglichkeiten und Herausforderungen der Nutzung von Social Media darstellt (vgl. S. 427).
Digitalisierungsprozesse und ihre Entwicklungen in den verschiedenen Handlungsfeldern, mit 15 Beiträgen das umfangreichste sechste Kapitel im Handbuch, erörtern die Autoren und Autorinnen entlang der gesamten Lebensspanne in den Fällen, wo Unterstützung in Bewältigungssituationen durch die Soziale Arbeit notwendig ist (vgl. Hammerschmidt u.a. 2018, S. 22). Das Spektrum der ausgewählten Handlungsfelder reicht über die Kinder- und Jugendhilfe, die den größten Anteil der Beiträge ausmachen, über Alten-, Behinderten-, obdachlosen-Bewährungs-, Geflüchtetenhilfe bis hin zur Familienbildung. Die HerausgeberInnen betonen ein Überblick über sämtliche Handlungsfelder sei „auf der Basis des bisherigen Wissensstandes nicht möglich, da hierzu bislang zu wenig systematische Erkenntnisse vorliegen“ (S. 440). In der Zusammenschau auf die Digitalisierungsentwicklung in den verschiedenen Arbeitsfeldern wird deutlich, dass die Entwicklungen keineswegs synchron verlaufen, sondern entsprechend der Logik des jeweiligen Feldes und Auftrages, der organisationalen Strukturen und Akteurinnen sehr unterschiedlich verlaufen. So wird im z.B. im Bereich der Jugendarbeit der neuen technische Entwicklung mit Gestaltungsoptimismus begegnet, während in anderen Feldern wie der Kindertagsbetreuung eine ausdrückliche Skepsis vorherrscht (vgl. ebd.). In der Arbeit mit geflüchteten Menschen, insbesondere minderjährigen, unbegleiteten Flüchtlingen ist die Nutzung digitaler Medien und mobiler Dienst von besonderer Bedeutung, zum einen um mit ihren im Ausland lebenden Familien Kontakt zu halten, zum anderen in der pädagogischen Unterstützung durch die Fachkräfte. Kreß und Kutscher beschreiben die Spannungsfelder und Widersprüche, die durch die Medienpraxis der jungen Adressatinnen im Kontext von Bildungsarbeit und der Förderung gesellschaftlicher Teilhabe entstehen (die Ergebnisse beruhen auf einer empirischen Studie der Autorinnen zur Nutzung digitaler Medien durch unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, die 2018 in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Kinderhilfswerk durchgeführt haben: Studie_digitale_Medien_und_Fluechtlingskinder_Langversion.pdf, dkhw.de). So fehle den Fachkräften oft die medienbezogene Qualifikation um die Geflüchteten in ihrem Medienhandeln fachlich zu unterstützen und datenschutzrechtliche Kenntnisse, um sie vor Datenmissbrauch zu schützen. Und den Einrichtungen fehle die nötige Ressourcenausstattung (WLAN) und die finanziellen Mittel für Übersetzungsleistungen um die räumlich entfernten Eltern am pädagogischen Prozess zu beteiligen. Die Autorinnen kommen zu dem Schluss, dass die „digital eingebettete Praxis in der Sozialen Arbeit mit Geflüchteten bislang wenig und zumeist bruchstückhaft und eher deskriptiv erforscht“ (S. 582) wurde und fordern neben Bildungs- und Teilhabechancen auch Macht- und Ungleichheitsaspekte des digitalen Medieneinsatzes zu erforschen.
Diskussion
In fast allen Beiträgen weisen die AutorInnen auf weiteren Forschungsbedarf hin, sei es in den Handlungsfeldern, den Organisationen, der Disziplin und hinsichtlich gesamtgesellschaftlicher Veränderungsprozesse. Welche Herausforderungen und Möglichkeiten sich angesichts der komplexen technischen Entwicklung für die Forschung eröffnen stehen im Focus des letzten, siebten Teils des Handbuchs. „Da sich die Wirklichkeit zunehmend auch in virtuellen Räumen abspielt“ (S. 16) eignen sich herkömmliche, an der analogen Welt orientierte, methodische Zugänge nur begrenzt. Um die „Digitalisierung des Arbeitens in der Sozialen Arbeit“ (technische Kommunikation, Arbeitssettings, Arbeitsplattformen und wie das Soziale in das Digitale kommt) (S. 612) zu erforschen schlägt Böhringer eine Verknüpfung von qualitativen und ethnografischen Forschungsmethoden vor. Eckl und Ghamen beschreiben den Mehrwert und die Schwachstellen (vgl. S. 626) einer quantitativen Textanalyse im Kontext von Big Data des Topic Modeling. Darüber lassen sich „Ähnlichkeiten von Dokumenten erkennen, sowie Informationen über Textinhalte generieren“, die zu einem „tiefergehenden Verständnis der Ergebnisse beitragen“ (S. 637). Abschließend geben Gillingham/​Schiffhauer/​Seelmeyer einen Überblick zum internationalen Forschungstand des Einsatzes digitaler Technik in der Sozialen Arbeit und seiner Rezeption im deutschsprachigen Diskurs. Während die internationale Forschung in vielen Bereichen der Digitalisierung breit aufgestellt ist, konzentriert sich der deutschsprachige Fachdiskurs vorwiegend auf den Einsatz und die Nutzung von Fachanwendungen mit tendenziell technikoptimistischen und eher organisational-manageriellen Perspektive (vgl. S. 647). Im internationalen Vergleich gäbe es kaum nennenswerte Forschungs- und Entwicklungsvorhaben „mit Bezug auf Informationssysteme für die Soziale Arbeit oder deren Weiterentwicklung in Richtung Risikoprädiktion (PRM) und Entscheidungsunterstützung (DSS)…“ (ebd.). In den letzten Jahren sei hierzulande im Vergleich zu anderen Ländern eine Konzentration auf ethische Fragen im Zusammenhang mit digitaler Technik zu beobachten (zu nennen sei hier das Projekt „Algorithmenethik“ der Bertelsmann-Stiftung und des 2019 eingeführten Gütesiegels für Künstliche Intelligenz).
Den AutorenInnen ist es gelungen das breite Themensprektrum des Digitalisierungsprozesses in der Sozialen Arbeit – trotz subjektiver Priorisierungen (vgl. Neumaier 2020, S. 90) in einer schlüssigen Struktur abzubilden – ein Standardwerk sicher, wäre da nicht der Gender.
Wenn 85 % der internationalen Digitalisierungstechnik von Männern entwickelt, vermarket und organisiert werden, Geschlechterbilder sich an traditioneller Zweigeschlechtlichkeit orientieren und diese weiter fortschreiben stellen sich unweigerlich Fragen nach ungleichen Geschlechterverhältnisse in der virtuellen Welt (vgl. Karsten/Bock/Braches-Chyrek 2019, S. 346). „Wenn sprachliche Vordefinitionen und Übersetzungsprogramme (DeepL), männerlastige Wissens- und Personensuchmaschinen (Wikipedia) Deutungsmacht gewinnen und „die digitale Wissensproduktion als ein Ort der Konkurrenz um (männliche A.d.V.) Macht betrachtet wird“ (ebd, S. 349) dürfte diese Tatsache und ihre Folgen doch eine relevante Forschungsperspektive darstellen. Technik ist keineswegs neutral, sondern eine soziale Angelegenheit, sie reproduziert über Algorithmen Geschlechterstereotypen, die diametral zu den erreichten Zielen von Gleichstellungspolitik und Frauenförderung verlaufen“ (Beranek et al. 2021, o. S.), denn auch KI ist keineswegs geschlechterneutral. So sehen fast alle Roboterfrauen gleich und makellos aus – von Männern geschaffen und weibliche Sprachassistentinnen im Haushalt wie Alexas oder Siri entsprechen traditionellen Geschlechterrollen. Hingegen sind KI-Systeme für komplexere Aufgaben, wie IBM’s Watson oder Einstein mit tiefen männlichen Stimmen programmiert. Einen Gegenentwurf eines geschlechtslosen Sprachassistenten hat eine LGTB Gruppe „Copenhagen Pride“ in Zusammenarbeit mit der Universität Kopenhagen 2019 entwickelt, um ein gesellschaftliches Bewusstsein für überholte Stereotypen zu schaffen). Wie sich das Verhältnis von KI und Sozialrobotik unter Genderaspekten darstellt und welche Fragen für die Soziale Arbeit entstehen, betrachten Lenz und Wachter in ihrem Beitrag über Soziale Roboter und fordern dazu auf, den Aspekt ökologischer Nachhaltigkeit mitzudenken (Lenz/Wachter 2020, S. 228). Letzterer sei bedeutsam, weil die benötigten Rohstoffe für die Herstellung der Hardware und der stetig wachsende Verbrauch die Klimakrise verschärfen und, so die Autorinnen, dies eine soziale Krise ist, die insbesondere Frauen aufgrund ihrer niedrigen gesellschaftlichen Position betrifft (ebda.). Zentral für das Genderdesign von Sozial-Robotern und die Auswirkungen auf das Geschlechterverhältnis sind die Datensätze, mit denen KI trainiert wird, denn sie werden von den NutzerInnen als „genderspezifische soziale Interaktionspartner_innen wahrgenommen“ (ebd, S. 230)“ (vgl. Beranek et al., a.a.O.).Mit dieser Aussage berufen sich die Autorinnen auf eine kleine Anfrage an die Bundesregierung 2018 zur stärkeren Betroffenheit von Frauen durch die Klimakrise). Für die Entwicklung von Sozialen Robotern fordern die Autorinnen eine interdisziplinäre, partizipative Technologieentwicklung an der relevante AkteurInnen der Sozialen Arbeit beteiligt sind.
Fazit
Das Handbuch bietet einen hervorragenden, systematischen, grundlegenden, analytischen Ein- und Überblick über Herausforderungen, Widersprüche, Wechselwirkungen, Chancen und Gefahren, zu denen sich die Soziale Arbeit zukünftig verhalten muss. Ein grundlegendes Werk, das in seiner theoretischen Konzeptualisierung den aktuellen Stand sowie die Komplexität des digitalen Wandels aufzeigt und den Fachdiskurs und die Forschung nachhaltig bereichern wird. Aber nicht nur für die akademische Community ist das Werk interessant auch Fachkräfte, die in ihrer Praxis eine theoretische und ethische Orientierung suchen, die „Verflechtung des Digitalen mit fachlichen Logiken der Sozialen Arbeit“ (10) zu erkennen, finden hier interessante Perspektiven. Was von diesem Buch jedoch nicht zu erwarten ist, ist eine Theorie zur Digitalisierung der Sozialen Arbeit und Sozialer Dienste oder gar ein Praxis- Methodenhandbuch für soziale Projekte. Aber das will es ja auch nicht sein (vgl. S. 11). Es ist ein lobenswertes, fachlich bemerkenswertes Buch, das in keiner Fachbibliothek – in der Praxis, in den Hochschulen und bei interessierten Studierenden – fehlen sollte. Denn, so Kreidenweis zum Schluss (398): der digitale Wandel kommt nicht aus der Steckdose, sondern er beginnt in den Köpfen und wird von Menschen gestaltet – nicht von Maschinen.
Literatur
BAG kommunaler Frauen- und Gleichstellungsbeauftragter Deutschlands: Corona ist weiblich: Eine Krise der Frauen, frauenbeauftragte.org (3. Dez. 2020)
Butterwegge, C.: Wie Corona die Ungleichheit in Deutschland verstärkt; in: vorwärts, vorwaerts.de (1. Dez. 2020a)
Butterwegge, C.: Die zerrissene Republik. Wirtschaftliche, soziale und politische Ungleichheit in Deutschland, Weinheim und Basel 2020b
dlf: Soziale Ungleichheit durch Corona: „Man hätte stärker an die Ärmsten der Armen denken müssen“, deutschlandfunk.de (3. Dez. 2020)
Hammerschmidt, P/Sagebiel, J./Hill, B./Beranek, A. (2018): Big Data, Facebook, Twitter & Co und Soziale Arbeit. Weinheim Basel. Beltz Juventa
Hammerschmidt, P/Sagebiel, J./Hill, B./Beranek, A. (2021): Big Data, Facebook, Twitter & Co und Soziale Arbeit. Weinheim Basel. BeltzJuventa (2. Auflage, erscheint im April 2021)Karsten, M.-E./Bock, K./Braches-Chyrek, R. (2019) Zwischenruf. Digitalisierungsdiskurse im Dispositiv – ein virtuelles Gespräch. In: Soziale Passagen 2/2019, S. 345–350.
Lenz, G./Wachter, H. (2020): Soziale Roboter, Soziale Arbeit und Gender. In: Steckelberg, C./Thiessen, B. (Hrsg.): Wandel der Arbeitsgesellschaft. Soziale Arbeit in Zeiten von Globalisierung, Digitalisierung und Prekarisierung.
Lenz, G., und Wachter, H. (2020): Soziale Roboter, Soziale Arbeit und Gender. In: Steckelberg, C./Thiessen, B. (Hrsg.): Wandel der Arbeitsgesellschaft. Soziale Arbeit in Zeiten von Globalisierung, Digitalisierung und Prekarisierung.
Ley, T., und Seelmeyer, U. (2014): Dokumentation zwischen Legitimation, Steuerung und professioneller Selbstvergewisserung. In: Sozial Extra, H. 4, S. 51–55.
Lichtenberger, H., und Ranftler, J.: Von Superspreadern und Kinderarmut: Zu den intersektionalen Auswirkungen der Corona-Krise auf Kinder und den Folgen für die Soziale Arbeit; in: soziales_kapital, 2020, soziales-kapital.at Neumaier, S. (2020) Rezension zu: Kutscher, Nadia; Ley, Thomas; Seelmeyer, Udo; Siller, Friederike; Tillmann, Angela und Zorn, Isabel (Hrsg.) (2020). Handbuch Soziale Arbeit und Digitalisierung. Beltz Juventa (Weinheim). In: merz 2020/02: Beruf Medienpädagog*in. S. 89–90.
Zuboff, S. (2018): Der dressierte Mensch. Die Tyrannei des Überwachungskapitalismus. In: Blätter für deutsche und internationale Politik. 63, H. 11, S. 101–111
Rezension von
Prof. Dr. Juliane Sagebiel
Professorin für Sozialarbeitswissenschaft an der Hochschule München, Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften
Mailformular
Es gibt 6 Rezensionen von Juliane Sagebiel.
Lesen Sie weitere Rezensionen zum gleichen Titel: Rezension 27521
Zitiervorschlag
Juliane Sagebiel. Rezension vom 18.02.2021 zu:
Nadia Kutscher, Thomas Ley, Udo Seelmeyer, Friederike Siller, Angela Tillmann u.a. (Hrsg.): Handbuch Soziale Arbeit und Digitalisierung. Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2020.
ISBN 978-3-7799-3983-2.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/26693.php, Datum des Zugriffs 09.06.2023.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.