Aladin El-Mafaalani: Mythos Bildung
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 02.04.2020

Aladin El-Mafaalani: Mythos Bildung. Die ungerechte Gesellschaft, ihr Bildungssystem und seine Zukunft. Verlag Kiepenheuer & Witsch (Köln) 2020. 320 Seiten. ISBN 978-3-462-05368-5. D: 20,00 EUR, A: 20,60 EUR.
Bildung ist ein unmöglicher Begriff
Natürlich nicht deshalb, weil Bildung nichts wert wäre; auch nicht deshalb, weil wir nicht wüssten, was Bildung ist; denn darüber gibt es, seit Menschen darüber nachdenken, dass Wissenserwerb lebens- und existenzsichernd ist, Bibliotheken voller theoretischer und praktischer Literatur. Es sind Analysen, Forschungsergebnisse und Ratgeber, die kluge, brauchbare und unnütze Auskunft darüber geben. Es gibt immer wieder Reformen, die Bildung als gesellschaftlichen Auftrag formulieren und durchsetzen. Und in gesellschafts- und bildungspolitischen Programmen werden Versuche unternommen, Zu- und Missstände in staatlich verordneten Bildungssystemen zu beschreiben und zu verändern. Mit nationalen und internationalen Intelligenzmessungen und Vergleichsuntersuchungen werden Rangskalen aufgestellt, die Auskunft über die Wissensstände von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen geben sollen. In Regierungsprogrammen wird Bildung als ein hoher Wert ausgewiesen und gefo(ö)rdert. Zumindest in den ökonomisch entwickelten Ländern sind formale Bildungserfolge bilanzierbar. Doch die Fragen nach einer lokalen und globalen sozialen Gerechtigkeit hinken in diesem Marsch nach Bildung hinterher. Bildung wird zum Mythos und zum Makel! Weil das (deutsche) Bildungssystem selektiert und nicht integriert und Bildungsgerechtigkeit herstellt.
Entstehungshintergrund und Autor
„Wir wissen, dass wir nicht wissen, welche Herausforderungen sich ein heute geborenes Kind im Laufe seines Lebens wird stellen müssen“. Diese Einsicht, in der das Bewusstsein von der Veränderbarkeit, Wandlungsfähigkeit und -notwendigkeit steckt, ist eine der Herausforderungen für die gegenwärtige, zukunftsorientierte Existenz der Menschheit (vgl. dazu: Heiner Hastedt, Hg., Deutungsmacht von Zeitdiagnosen. Interdisziplinäre Perspektiven, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/​25798.php). Das Dilemma und das Paradoxon wird deutlich: Obwohl der Mensch als ein mit Vernunft ausgestattetes Lebewesen ist und mit dem Bewusstsein lebt, dass er eingebunden ist in dem Verlauf von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, ist sein Wissen um den Prozess des individuellen und kollektiven Daseins beschränkt. Soweit allerdings herrscht Gewissheit: Ein gebildeter Mensch ist einem Ungebildeten überlegen! Aber da tut sich schon eine neue Ungewissheit auf, nämlich: Welche Bildung soll es sein? Ist es die Vermittlung von Kompetenzen, im Leben anderen überlegen und im Vorteil zu sein? Wird Bildung als Ware und Währung ausgezahlt? Oder ist Bildung die Kompetenz, den persönlichen, gesellschaftlichen und sozialen Anforderungen in der Einen, gerechten Welt gerecht zu werden?
Aladin El-Mafaalani ist seit Juli 2019 Professor für Erziehungswissenschaft und Inhaber des Lehrstuhls für Erziehung und Bildung in der Migrationsgesellschaft an der Universität Osnabrück. Er war zeitweise Abteilungsleiter im Nordrhein-Westfälischen Kultusministeriums. Er koordiniert als Beauftragter des NRW Ministeriums für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration die „Koordinierungsstelle für muslimisches Engagement in NRW“. Mit seinem Buch „Das Integrationsparadox. Warum gelungene Integration zu mehr Konflikten führt“ (2018, www.socialnet.de/rezensionen/​24884.php) machte er darauf aufmerksam, dass Integration mehr ist als Anpassung und schon gar nicht Assimilation. Mit der neuen Arbeit stellt er mit „Mythos Bildung“ die Probleme dar, dass und wie Ungerechtigkeit, Bevorzugung und Benachteiligung im deutschen Bildungssystem entsteht und wirkt, und welche äußeren und inneren Strukturen notwendig sind, damit Chancengerechtigkeit für alle möglich wird.
Aufbau und Inhalt
Der Autor gliedert das Buch in fünf Kapitel.
- Im ersten kommt „Blackbox Bildung“ zur Sprache.
- Im zweiten wird „Mythos Chancengleichheit“ diskutiert.
- Im dritten werden „Paradoxien der Bildungsexpansion“ thematisiert.
- Das vierte Kapitel wird das Problem „In Armut aufwachsen -und zur Schule gehen“ problematisiert.
- Und im fünften werden Vorschläge entwickelt und Prognosen erstellt, wie „Bildung in der Zukunft“ aussehen könnte.
El-Mafaalani gelingt es, die schwierigen und komplizierten Aspekte zur individuellen und gesellschaftlichen Bildungsentwicklung und die Zugänge und Aufweise über die Bedeutung von persönlicher, fachlicher, alltags-, gesellschaftstauglicher demokratischer und lebensweltlicher Bildung für alle Menschen allgemeinverständlich darzustellen und dabei komplizierte, fachspezifische Begriffe zu vermeiden.
Die anthropologische Herleitung des Bildungsbegriffs als Deutung und Erlangung vom Selbst und Welt, als kognitive und emotionale Aneignung, als didaktische, methodische, fachliche, fächerübergreifende, allgemeinbildende und habituelle Kompetenzen, ist darauf angewiesen, dass Bildung professionell, unideologisch und ganzheitlich vermittelt wird. Da leuchtet der Diskurs durch, wie er z.B. mit der Frage „Begabung und Lernen“ von der Bildungskommission des Deutschen Bildungsrates 1969 gewissermaßen als Fundament für ein neues Bildungsdenken postuliert wurde: „Der Habitus wird nicht nur durch die Prägung in der Familie und dem unmittelbaren Umfeld ausgebildet, sondern auch durch die Biografie insgesamt“ (S. 47). Diese komplizierten, verschränkten Fragen und Aspekte lassen sich in theoretischen, fachspezifischen und interdisziplinären Analysen darstellen; sie lassen sich aber auch allgemeinverständlich einfach ausdrücken: „Man muss ein Stück vom Kuchen haben, um beurteilen zu können, ob es nicht ein besseres Rezept geben könnte. Wer (noch) nichts vom Kuchen abbekommen hat, will ein Stück von genau diesem Kuchen – und könnte aggressiv werden, wenn diejenigen, die schon reichlich hatten, darüber reden, ob nicht ein anderer Kuchen besser für die Allgemeinheit wäre“ (S. 53).
Die Forderungen nach Chancengleichheit für ein gutes, gelingendes Leben aller Menschen auf der Erde werden von denen, die sie besitzen, immer wieder relativiert; etwa mit dem Begriff „Chancengerechtigkeit“. Damit kommt zum Ausdruck, dass es nicht um „Gleichmacherei“ gehen könne (obwohl die Globale Ethik, wie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 in Artikel 1 eindeutig ausweist: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren“). Es ist deshalb richtig und wichtig, Forderungen nach Chancengleichheit in der Bildung zu bedenken, mit Fragen nach der Bedeutung von Herkunft, dem Bildungsbewusstsein, Lebensverhältnissen; und nicht zuletzt zu den (eigentlich) nicht gewollten und beabsichtigten gesellschaftlichen strukturellen Veränderungen, etwa wenn der Autor nachweist: „Bildungsungleichheit wächst, wenn Bildungschancen steigen“ – ein Paradoxon, das den geweiterten Blick auf Chancengleichheit im bestehenden System notwendig macht. Bemerkenswert dabei freilich ist, dass auch El-Mafaalani, wie viele andere Bildungsexperten es scheut, eines der Grundübel von Bildungsungleichheit, das dreigliedrige Schulsystem in Frage zu stellen. Ob hier Pragmatismus, die Scheu vor der grundsätzlichen, kontroversen Auseinandersetzung, oder gar die resignative Einstellung, dass gegen die Macht des traditionellen Schulsystems sowieso nichts auszurichten ist, eine Rolle spielt, sei dahingestellt. Immerhin gibt es eine Alternative, nämlich die Integrierte Gesamtschule, die der Autor freilich nur am Rande erwähnt.
Mir scheint, dass sich in der Argumentation zum „Mythos Bildung“ eine Diskrepanz auftut. Während der Autor immer wieder betont, dass es, um Ungleichheit abzuschwächen, nicht ausreicht, mehr, sondern anderes zu tun, und zwar nicht, „indem man zu wissen glaubt, was benachteiligte Menschen benötigen, sondern indem man herausfindet, wie sie leben und warum sie so handeln, wie sie handeln“ – werden die Antworten und Lösungsansätze doch vielfach „per Ordre du Mufti“ formuliert. Dieser vielleicht zu krass formulierte Eindruck mildert sich zwar durch die kluge Analyse und Bestandsaufnahme der Bildungssysteme in der Gegenwart. Die Betonung liegt dabei auf dem Ausbau der Bildungseinrichtungen als Ganztagsbetrieb, scheint sich aber zu bestätigen bei der Zuweisung der professionellen Aufgaben von Lehrkräften. Wenn El-Mafaalani titelt, dass deren Kerngeschäft das Unterrichten sei, ist das erst einmal nicht falsch; doch Unterricht ist mehr als Wissensvermittlung, sondern Bildung und Erziehung. Und die professionelle Lehrkraft ist qua gesellschaftlichem Auftrag und Habitus „Agent der Aufklärung“ (vgl. dazu auch: Rolf-Thorsten Krämer/Hilke Pallesen, Hrsg., Lehrerhabitus. Theoretische und praktische Beiträge zu einer Praxeologie des Lehrerberufs, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/​26159.php). Viel zu kurz gegriffen scheint auch die Aussage zu sein, dass das Bildungssystem (freilich mit der Einschränkung: „so wie es ist“) ohne die Vergabe von Noten nicht auskomme. Der Autor ignoriert dabei die Bemühungen, wie sie z.B. in den Niedersächsischen IntegrIerten Gesamtschulen zur Lerndiagnostik entwickelt w(u)erden, und wie sie aktuell von der Deutschen Schulakademie als Schwerpunkt einer Reform der schulischen Lern- und Leistungsbewertung ausgewiesen wird.
Fazit
Die Kritik soll nicht übertönen, dass Aladin El-Mafaalani mit der Analyse „Mythos Bildung“ auf Wirklichkeiten, Fehlentwicklungen und Defizite im deutschen Bildungssystem in einer allgemein verständlichen Sprache aufmerksam macht. Mit dem in seinem Buch „Integrationsparadox“ benutztem Bild vom Tisch, an dem die verschiedenen Gruppen der Gesellschaft (auch davor, daneben, darunter oder gar nicht) sitzen, macht er deutlich, dass Bildungs(weiter-)entwicklung und Expansion, soll sie nicht nur ein Privileg für Einige, sondern für Alle sein, eines grundlegenden gesellschaftlichen Perspektivenwechsels bedarf. Daran müssen alle Menschen mitarbeiten. Dass dies der Autor nicht Ex cathedra, sondern dialogisch und motivatorisch versucht, veranlasst den Rezensenten, den „Mufti“-Vorwurf zurückzunehmen.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 02.04.2020 zu:
Aladin El-Mafaalani: Mythos Bildung. Die ungerechte Gesellschaft, ihr Bildungssystem und seine Zukunft. Verlag Kiepenheuer & Witsch
(Köln) 2020.
ISBN 978-3-462-05368-5.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/26695.php, Datum des Zugriffs 28.05.2023.
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