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Kaspar Molzberger: Autonomie und Kalkulation

Rezensiert von Prof. Dr. Harald Christa, 22.06.2020

Cover Kaspar Molzberger: Autonomie und Kalkulation ISBN 978-3-8376-5078-5

Kaspar Molzberger: Autonomie und Kalkulation. Zur Praxis gesellschaftlicher Ökonomisierung im Gesundheits- und Krankenhauswesen. transcript (Bielefeld) 2020. 413 Seiten. ISBN 978-3-8376-5078-5. D: 39,99 EUR, A: 39,99 EUR, CH: 48,70 sFr.
Reihe: Arbeit und Organisation.

Weitere Informationen bei DNB KVK GVK.
Inhaltsverzeichnis bei der DNB.

Thema

Seit der Einführung der leistungsorientierten Vergütung in den meisten Bereichen der personenbezogenen sozialen Dienstleistungen sowie seit der Implementation der DRGs in der Krankenhausversorgung flammt ein engagierter Streit um die „Ökonomisierung“ im Sozial- und Gesundheitswesen immer wieder auf. Es sei durchaus vernünftig, auch in sozialpolitischen Kontexten über Wirtschaftlichkeit zu sprechen, so hört man von der einen Seite, der Einzug der Controller hat Einbußen in der Qualität zur Folge, so argumentieren die Skeptiker.

Entstehungshintergrund

Kaspar Molzberger hat im Rahmen seiner Dissertation an der Universität Witten/​Herdecke eine Studie zur Praxis der Ökonomisierung im Gesundheit- und Krankenhauswesen als Teilbereich des gesellschaftlichen Strukturwandels durchgeführt. Die vom Publikationsfonds der Charité – Universitätsmedizin Berlin geförderte Untersuchung liegt nunmehr vom transcript- Verlag veröffentlicht vor.

Autor

Kaspar Molzberger ist als Diplomsoziologe wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Medizinische Soziologie und Rehabilitationswissenschaft der Charité – Universitätsmedizin Berlin.

Aufbau und Inhalt

Die Publikation enthält acht Abschnitte sowie ein Literaturverzeichnis.

In der Einleitung skizziert der Autor die theoretischen Hintergründe seiner Analyse sowie seinen spezifischen Zugang. So stellt er die Frage, inwieweit sich das Ökonomische nach neoklassischem Muster, quasi gemäß den Eigengesetzlichkeiten von Märkten, wertneutral und von außen erfassen lässt, oder ob Modellrechnungen der Ökonomie „eher als normative Vorgaben, die zur Entstehung des Ökonomischen – einer auf Preissignalen basierenden Marktwirtschaft und rational entscheidender, nutzenmaximierender Verhaltensweisen des homo oeconomicus – erst wesentlich beitragen“. Korrespondierend hierzu wären entsprechende Forschungen nicht nur mit Bezugnahme auf ökonomische Faktoren zu realisieren, nämlich im Rahmen einer breiteren Analyse der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen „über soziale Werte, Autonomie, Ziele, Regeln und Macht, von denen die ökonomische Rationalität, wie sie die neoklassische Wirtschaftstheorie entwirft, letztendlich abhängt und zehrt“.

Der zweite Abschnitt trägt die Überschrift „Ökonomisierung zwischen Zeitdiagnose und Gesellschaftstheorie“. Hier wird deutlich, wie verschieden die Konzepte und Deutungsmuster von „Ökonomisierung“ sind, die von den Diskussionsführenden in den gesellschaftlichen und fachlichen Debatten um die (vermeintliche) Ausbreitung (markt-)wirtschaftlicher Konzepte herangezogen werden. Pointiert und sehr informiert referiert Kaspar Molzberger die wesentlichen paradigmatischen Eckpunkte seit Adam Smith, auch mit Verweis auf deren Implikationen für Wirtschaft, Staat und Gesellschaft – und mit Blick auf Ökonomie als normative Theoriebildung. Zunehmend richtet sich der Blick in den weiteren Ausführungen dann auf Organisationen, da dort von ihm die entscheidenden Erkenntnisse bezüglich einer „Ökonomisierung“ vermutet werden, und er geht umfangreich auf die Frage der „Entgrenzung“ von vormals getrennt zu interpretierenden Sphären der Gesellschaft ein. Prägende Stichworte sind u.a. Kalkulation, Quantifizierung und Vergleich.

Im dritten Abschnitt wird die Ökonomisierung aus praxis- und organisationstheoretischer Perspektive betrachtet. Im Kontext der dieser Arbeit zugrunde liegenden Fragestellung erscheint es dem Autor als naheliegend, über das Verhältnis von Ressourcen und Entscheidungen „operative Fiktionen in den Blick zu nehmen“. Der Fokus liegt nun auf einem Modus, der es Organisationen erlaubt, „ihre turbulenten Umwelten sowie die eigenen inneren Interessengegensätze, Ressourcen, mikropolitischen Spiele, technologischen Unzulänglichkeiten, Arbeits- und Herstellungsprozesse sowie informalen Strukturen im Modus des ‚Als-Ob‘ temporär und stets auf ein Neues zusammenzuhalten“. Am Ende dieses Abschnitts wird auch ein metatheoretischer Rahmen zur Erfassung gesellschaftlicher Ökonomisierungsprozesse dargestellt.

Im darauffolgenden vierten Abschnitt umreißt Kaspar Molzberger den institutionellen Wandel im Gesundheit- und Krankenhauswesen. Nach einer Skizze der Einbettung von Kliniken im Deutschen Gesundheitssystem beschreibt er das „alte wohlfahrtsstaatliche Setting“ der Krankenhausversorgung bis in die 1970er Jahre sowie (mit Blick auf einen ökonomisch induzierten ordnungspolitischen Wandel) den neuen Rahmen, dem sich der Klinikbetrieb ausgesetzt sieht. Dieser ist nunmehr gekennzeichnet durch Kostendeckung, durch Budgetierung und leistungsorientierte Pauschalentgelte, mithin durch eine Abkehr vom reinen Bedarfsdeckungsprinzip.

Der fünfte Abschnitt skizziert die Methodologie der Untersuchung. Umrissen werden der Forschungsansatz der dokumentarischen Methode zwischen Verstehen und Interpretieren, die Forschungsschritte, die dokumentarische Organisations- und Zahlenforschung sowie das aus Experteninterviews und teilnehmende Beobachtung bestehende Erhebungsverfahren inklusive Sample und Fallauswahl.

Der sechste Abschnitt beinhaltet die empirische Analyse. Darin werden die empirischen Ergebnisse im Hinblick auf Ökonomisierungsphänomene anhand sogenannter „thematischer Bezüge bzw. Cluster“ analog der im Text vorstehend herausgearbeiteten Begriffskontexte dargestellt. Deutlich wird eine neue Sichtbarkeit des ökonomischen Drucks: eine detaillierte Mengenbetrachtung „erzeugt eine Spannung zu der habitualisierten Aufmerksamkeit des Arztes für den singulären Fall“ in der Klinik. Hinzu kommen Vergleich und Konkurrenz, eine fachspezifische Mikropolitik mit Zahlen, auch im Sinne einer „Widersprüchlichkeit von numerischer Konkurrenz und professioneller Kollegialität“. Letztendlich ergibt sich auch eine neue Verantwortlichkeit von leitenden Medizinerinnen und Medizinern im Zusammenhang unterschiedlicher Rationalitäten der Krankenhausökonomie.

Eine Diskussion der Ergebnisse erfolgt im siebten Abschnitt. Auch hier wird die Untersuchung von Kaspar Molzberger an verschiedenen Stellen sehr bedeutsam, so zum Beispiel in der Erörterung des Krankenhauses auf der Suche nach einer ihm angemessenen Form. Hier wird das moderne Krankenhaus „zwischen industriellen, bürokratischen und managerialen Anforderungen“ ebenso deutlich wie vor dem Hintergrund der dominierenden Kontrollstrategien das „Dilemma zwischen Mangelverwaltung und Versorgung der betriebswirtschaftlichen Vorsorge“.

Im achten und letzten Abschnitt wagt der Autor noch einen wirtschaftssoziologischen Ausblick im Hinblick auf Ökonomisierung zwischen Autonomie und Kalkulation. Mit einem kurzen Rückgriff auf die theoretischen Ausführungen wird hier unter anderem noch einmal auf die große Bedeutung von numerischen Vergleichen und Kalkulationen für Ökonomisierungsprozesse in Organisationen gelegt. Es wird die Frage aufgeworfen, ob es angesichts verschiedener Dilemmata den von Ökonomisierung betroffenen Organisationen gelingt, für sich „angemessene Skripte zu finden, die diese Übersetzungen als solche reflexiv mitführen und in der Praxis achten“.

Diskussion

Eng an der Fragestellung, strukturiert in der Analyse, präzise in der Darlegung und Interpretation der Ergebnisse verfolgt und analysiert diese Untersuchung die Aneignung über Quantifizierung bislang autonomer Teilbereiche der Gesellschaft durch ökonomische Imperative. Der Text ist durchwegs auf wissenschaftlich hohem, jedoch stets klarem, Niveau abgefasst. Alle Abschnitte dieser Publikation können gewinnbringend auch gesondert rezipiert werden. Der klare Blick des Autors auf die Art, die Interpretation und die Implikationen des ordnungspolitischen Wandels im Krankenhaussystem Deutschlands ist bemerkenswert. Wir wünschen diesem Buch eine weite Verbreitung.

Fazit

Eine ausgezeichnete medizinsoziologische Analyse von Ökonomisierung und Ökonomisierungsprozessen am Beispiel Krankenhaus.

Rezension von
Prof. Dr. Harald Christa
Professor für Sozialmanagement an der Evangelischen Hochschule Dresden mit Schwerpunkt Sozio-Marketing, Strategisches Management, Qualitätsmanagement/ fachliches Controlling.
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Es gibt 158 Rezensionen von Harald Christa.


Zitiervorschlag
Harald Christa. Rezension vom 22.06.2020 zu: Kaspar Molzberger: Autonomie und Kalkulation. Zur Praxis gesellschaftlicher Ökonomisierung im Gesundheits- und Krankenhauswesen. transcript (Bielefeld) 2020. ISBN 978-3-8376-5078-5. Reihe: Arbeit und Organisation. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/26698.php, Datum des Zugriffs 11.10.2024.


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