Oswald D. Kothgassner, Anna Felnhofer (Hrsg.): Klinische Cyberpsychologie und Cybertherapie
Rezensiert von Prof.in Dr.in Daniela Cornelia Stix, 20.04.2020
Oswald D. Kothgassner, Anna Felnhofer (Hrsg.): Klinische Cyberpsychologie und Cybertherapie.
Facultas Verlag
(Wien) 2018.
246 Seiten.
ISBN 978-3-8252-4894-9.
D: 24,99 EUR,
A: 25,70 EUR,
CH: 32,50 sFr.
Reihe: UTB - 4894.
Thema
Selbsternanntes Ziel des Sammelbands ist, mit bestehenden Vorurteilen gegenüber neuen Medien aufzuräumen und das Potenzial dieser für die klinische Psychologie und Psychotherapie herauszuarbeiten. Dies umfasst Herausgeber und Herausgeberin zu Folge die Reflexion möglicher Anwendungsrisiken sowie die Festlegung von Richtlinien im Sinne der Qualitätssicherung. Dabei werden nicht nur Internetphänomene im Hinblick auf die Nutzbarkeit für klinische Psychologie und Psychotherapie in den Blick genommen, sondern auch Technologien und Anwendungen wie Robotik sowie Virtual und Augmented Reality.
Herausgeberin und Herausgeber
Oswald D. Kothgassner und Anna Felnhofer sind beide als Klinische Psychologe/in und Gesundheitspsychologe/in tätig und darüber hinaus im Wissenschaftskontext als Universitätslektor bzw. als Universitätsassistentin in verschiedenen Wiener Einrichtungen.
Aufbau und Inhalt
Das Buch ist in drei Hauptteile untergliedert:
- Teil I – Alte Ziele, neue Wege umfasst fünf Beiträge.
- Teil II – Veränderungen im Behandlungsalltag umfasst 7 praxisnahe Darlegungen.
- Teil III – Problemfelder im digitalen Zeitalter umfasst 10 Kapitel.
Abschließend finden sich die Kurzprofile der AutorInnen sowie ein Stichwortverzeichnis.
I. Alte Ziele, neue Wege
1. Gesundheit und Krankheit im Kontext neuer Medien (Anna Felnhofer und Claudia Klier, ab S. 11): Die Autorinnen geben einen einleitenden Überblick, indem sie neu, durch das Internet aufgetretene bzw. dadurch verstärkte Krankheiten/Störungen knapp darlegen sowie andererseits positive Effekte des Internets auf die (Er-)Forschung (z.B. Zugänglichkeit zu bestimmten Personengruppen) aufzeigen.
2. Mechanisierung psychologischer Behandlung: Wo bleibt der Mensch? (Ilse Kryspin-Exner, ab S. 19): Die Autorin plädiert in ihrem Beitrag, mit den Technologien Schritt zu halten und technikgestützte Interventionsmöglichkeiten als das Repertoire bereichernd zu betrachten. Ihr Einsatz sei unter dem Aspekt der Passung individuell abzuwägen.
3. Ethik und Qualitätssicherung in der klinisch-psychologischen Beratung mittels neuer Medien (Gabriele Jansky-Denk, ab S. 29): In dem Beitrag werden zahlreiche qualitätssichernde Maßnahmen und beispielhaft das österreichische Gütesiegel für Online-Beratung erörtert sowie eine Abgrenzung von psychologischer Behandlung und psychologischer Onlineberatung vorgenommen.
4. Rechtliche Aspekte der Nutzung neuer Medien in der klinischpsychologischen und psychotherapeutischen Beratung: Österreich (Barbara Lunzer, ab S. 38): Dieser Beitrag knüpft an den vorherigen an und erörtert gut nachvollziehbar auf Grundlage der Vorgaben aus dem Psychologen- und dem Psychotherapeutengesetz weitere Aspekte wie Sorgfaltsmaßstab, Verpflichtung zur Gefahrenbeherrschung, Dokumentations- und Verschwiegenheitspflicht.
5. Rechtliche Aspekte der Nutzung neuer Medien in der psychologischen Behandlung: Deutschland (Johann Rautschka-Rücker, ab S. 46): In Deutschland ist die Cybertherapie gesetzlich nicht geregelt. Eine rechtliche Orientierung findet sich in den Berufsordnungen und den Ärzte-/​Psychotherapeutenkammern. Der Konsens geht weitgehend dazu, dass Fachkräfte, die bei Diagnostik und Aufklärung auf persönlichen Kontakt verzichten, Sorgfaltspflichten missachten.
II. Veränderungen im Behandlungsalltag
6. Internetbasierte Therapie am Beispiel sozialer Ängste (Johanna Boettcher & Thomas Berger, ab S. 57): Autorin und Autor geben einen Überblick über drei Formen der Online-Therapie: Selbsthilfeprogramme, therapeut*innen gestützte Selbsthilfeprogramme und online-therapeutische Programme (z.B. Schreibtherapie). Anschließend stellen sie ein aus fünf Modulen bestehendes therapeut*innen gestütztes Programm vor, dessen Wirksamkeit für soziale Ängste belegt ist.
7. Virtual Reality Therapy und Serious Games (Javier Fernández-Álvarez, Desirée Colombo, Giuseppe Riva, Rosa Baños und Cristina Botella, ab S. 65): Die AutorInnen stellen Virtual Reality als „gut fundiertes“ und erforschtes Werkzeug für eine Vielzahl von Anwendungsbereichen vor. Ebenso zeigen sie das Potenzial von Serious Games auf. Sie bemängeln jedoch letztlich den bislang mangelnden Einsatz beider in der klinischen Praxis.
8. Roboter und Agenten in der psychologischen Intervention (Tania R. Nuñez und Astrid M. Rosenthal-von der Pütten, ab S. 78): In dem Beitrag werden zunächst verschiedene Arten von Einsatzmöglichkeiten von Assistenz- und Interaktionssystemen dargelegt und anschließend – u.a. anhand von Krankheitsbildern – ausgeführt. Die AutorInnen betonen mehrfach, dass klinische Studien nötig sind, um bisherige Effekte empirischer Studien zu verifizieren.
9. Neue Medien in der Versorgung von Kindern und Jugendlichen (Sophie-Antonia Utermöhlen, Anna Felnhofer, Andreas Goreis, Luise Poustka und Oswald D. Kothgassner, ab S. 86): Der Beitrag enthält zahlreiche Beschreibungen von technologiegestützten Therapien für die Zielgruppe Kinder bis junge Erwachsene. Die laut Autor*innen aber immer von Face-to-Face-Kontakten begleitet werden sollten, um einen positiven Einfluss auf Compliance, Adhärenz und Motivation zu haben.
10. Neue Medien in der geriatrischen Versorgung (Claudia Oppenauer-Meerskraut, Erika Mosor, Valentin Ritschl und Tanja Stamm, ab S. 100): Im Fokus des Beitrags steht E-Mental-Health (computergestützte Interventionen) und deren mögliche Einsatzgebiete bei kognitiven Trainings oder kognitiven Verhaltenstherapien. Auch Herausforderungen und Vorteile sowie ethische und rechtliche Fragestellungen werden thematisiert.
11. Mediennutzung im stationären und teilstationären Setting (Oswald D. Kothgassner, Clarissa Laczkovics, Sophie-Antonia Utermöhlen und Anna Felnhofer, ab S. 111) … kann sich negativ auswirken, wenn sie der Flucht vor Problemen dienen, ein Einlassen verhindern oder störungserhaltend wirken. …kann sich positiv auswirken, wenn bestehende Kompetenzen gestärkt werden. Wichtig ist den Autor*innen zufolge, dass Vertraulichkeit und Privatsphäre aller Patient*innen gewahrt bleiben und entsprechende Regeln im Behandlungsvertrag vereinbart werden.
12. Grenzüberschreitungen in der therapeutischen Beziehung durch neue Medien (Anna Felnhofer und Caroline Culen, ab S. 121): Auch die beiden Autorinnen betonen die Bedeutung von transparenten und partizipativ vereinbarten Regeln zur Gestaltung der therapeutischen Beziehung und deren Rahmenbedingungen. Sie zeigen des Weiteren die veränderten Herausforderungen bezüglich der therapeutischen Arbeitsbeziehungen sowohl für die traditionelle als auch für die Online-Therapie anhand von Beispielen auf.
III. Problemfelder im digitalen Zeitalter
13. Homo Digitalis: Was ist aktuell über den Einfluss digitaler Medien auf neuronale Prozesse bekannt? (Christian Montag, ab S. 133): Der Autor belegt vielfach Veränderungen in bestimmten Hirnarealen durch die Nutzung von bestimmten Medien oder Inhalten. Als Beispiele führt er u.a. das Fingerspitzengefühl im motorischen Kortex an oder schlechtere arithmetische Leistungen bei gleichzeitiger gesteigerter Sensibilität gegenüber sozialer Zurückweisung (präfrontaler Kortex). Der Autor fordert verstärkte Forschung, da Wirkungszusammenhänge noch vielfach unklar seien.
14. Verbreitung von Psychopathologien durch neue Medien am Beispiel von Pro-Ana und Pro-Mia (Julia Philipp, Gudrun Wagner und Andreas Karwautz, ab S. 141): Im Fokus stehen empirische Erkenntnisse zu essstörungsbezogenen Internetseiten und Social-Media-Gruppen. Autorinnen und Autor legen nach einer definitorischen Einordnung typische Inhalte, Nutzerinnen und deren subjektive Sichtweisen sowie Risiken dar. Der Beitrag schließt mit einem Katalog von Handlungsempfehlungen.
15. Cybermobbing und Cyberstalking (Oswald D. Kothgassner und Johanna Xenia Kafka, ab S. 154): Zu beiden Phänomenen finden sich im Beitrag Definition, Epidemiologie, Kasuistik und Umgangsmöglichkeiten. Autor und Autorin ist es wichtig zu betonen, dass die Cybervarianten eine neue, andere Qualität haben.
16. Dysfunktionaler und suchtartiger Internetgebrauch (Martin Fuchs und David Riedl, ab S. 165): Der Beitrag ist dem vorherigen Beitrag vom Aufbau her ähnlich, behandelt jedoch zusätzlich die Ätiologie indem die Sucht-Trias von Müller (2017) vorgestellt und auf das Thema Medienkompetenz eingegangen wird.
Ergänzung der Rezensentin: Im neuen IDC-11 (ab Januar 2022) ist die Computerspielsucht in der Rubrik der Verhaltenssüchte aufgenommen.
17. Ist Medienkompetenz ein protektiver Faktor gegen problematische Mediennutzung? (Stephanie Pieschl, ab S. 180): Anhand des Beispiels Cybermobbingprävention legt die Autorin die Wirkung von medienkompetentem Verhalten dar. So könnten eine technische Expertise und intensive Mediennutzung als Risikofaktoren auftreten. Protektive Faktoren seien dagegen ethische, selbstkritische und selbstregulative Komponenten – sowohl bei Cybermobbing als auch bei Internetsucht.
18. Muster dysfunktionaler Internetnutzung: Cyberchondrie und Selbstmedikation (Christiane Eichenberg, ab S. 189): Die Autorin zeigt die Gefahr auf, die von selbst recherchierten Onlinediagnosen ausgehen kann. Ebenso stellt sie Studienergebnisse zum Thema Selbstmedikation und den Forschungsstand zu Cyberchondrie vor. Ihre Take-Home-Message ist der Appell an in Gesundheitsfeldern Arbeitende, achtsam zu sein oder entsprechendes Verhalten bei der Anamnese zu erfragen.
19. Der digitale Werther-Effekt: die Auswirkungen des Internets bei Suizidalität und selbstverletzendem Verhalten (Johanna Xenia Kafka und Oswald D. Kothgassner, ab S. 199): Traditionelle Medienrichtlinien zur Berichterstattung bei Suiziden lassen sich kaum auf Online-Kommunikation übertragen, weshalb, so Autorin und Autor, allgemeine Aufklärung und Sensibilisierung für das Thema Suizid bedeutsam seien. Sie warnen darüber hinaus vor einer Tabuisierung und empfehlen bedachte Wortwahl und Informationen über Hilfsangebote.
20. Cyberkriminalität (Astrid Grundner und Diana Klinger, ab S. 207) … meint kriminelle Handlungen, die mittels IKT an IT-Systemen oder Daten begangen und herkömmliche Kriminaldelikte, zu deren Planung, Vorbereitung und Ausführung IKT verwendet werden. Erörtert werden Delikte, die auf zwischenmenschlichen Beziehungen basieren und daher psychische Befindlichkeit betreffen, wie Happy-Slapping und Rachepornos, außerdem das Darknet.
21. Online-Sexualität, Sexting, Pornografie und sexuelle Übergriffe im Internet (Diana Klinger und Sabine Völkl-Kernstock, ab S. 215): Der Fokus des Beitrags liegt auf Kindern und Jugendlichen, die als schutzbedürftig betrachtet werden, und der Vorstellung von empirischen Erkenntnissen zu der Nutzung der in der Überschrift genannten Phänomene.
22. Extremismus: Einflussnahme und Meinungsbildung durch neue Medien (Thomas Hetterle, ab S. 225): Leider bleibt der Autor die Frage nach dem Einfluss nicht nur schuldig, auch ein thematischer Bezug des Beitrags zum Kontext des Buches war nicht zu erkennen. Der Autor geht davon aus, das neue Medien kommunikative Erweiterungen darstellen und als solche per se das soziale Handeln verändern – Extremismus bzw. entsprechendes Handeln inbegriffen.
Diskussion
Das Buch hatte den Anspruch gleichermaßen theoretisch Interessierte und praktisch Arbeitende anzusprechen und „den Inhalten neben einer soliden theoretischen Fundierung vor allem auch Praxisnähe zu verleihen“. Dies ist Herausgeberin und Herausgeber in mehrfacher Hinsicht gelungen. Theoretische und praktische Beiträge sind quantitativ ausgewogen. Auch innerhalb einiger Beiträge werden Praxisbezüge durch Beispiele hergestellt. Die Gestaltung in übersichtliche Take-Home-Messages trägt ebenfalls dazu bei, wenngleich ich inhaltlich nicht immer das Gefühl hatte, dass sie wirklich die Kernaussagen des Beitrages enthielten.
Als Zielgruppen benennen die Herausgebenden konkret Studierende und Lehrende der Psychologie, Psychotherapie und Medizin, als klinische PsychologInnen, GesundheitspsychologInnen und PsychotherapeutInnen Tätige sowie wissenschaftlich Interessierte. Diese können meines Erachtens um die Fachkräfte der Sozialen Arbeit ergänzt werden.
Die Beiträge des Buches sind – nach einer ersten Überraschtheit – angenehm kurz zu lesen somit könnte das Buch auch als Nachschlagewerk dienen. Auf Grund der unterschiedlichen Qualität der einzelnen Beiträge, würde ich es jedoch nicht als Lehrbuch einsetzen, sondern Lernenden gezielt Beiträge zur Verfügung stellen.
Fazit
Das vorliegende Buch eignet sich für alle, die sich einen ersten Überblick über die Möglichkeiten des Einsatzes neuer Medien in Psychologie und Psychotherapie verschaffen wollen oder sich gezielt zu einzelnen Themenfeldern informieren möchten. Es schafft als Gesamtwerk eine gute Verknüpfung von Theorie und Praxis.
Für Fachkräfte der Sozialen Arbeit und insbesondere derjenigen, die in klinischen Handlungsfeldern tätig sind, ist das Buch zu empfehlen.
Rezension von
Prof.in Dr.in Daniela Cornelia Stix
ist Dipl.-Sozialpädagogin/-arbeiterin (FH) und Medienwissenschaftlerin (M.A.) und als Professorin für Soziale Arbeit an der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg tätig. Ihre Arbeitsschwerpunkte umfassen die Themen Digitalität und Digitalisierung der Sozialen Arbeit, Natur- und Erlebnispädagogik sowie die Kinder- und Jugendarbeit.
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ORCID: https://orcid.org/0000-0001-9211-7748
Es gibt 21 Rezensionen von Daniela Cornelia Stix.
Zitiervorschlag
Daniela Cornelia Stix. Rezension vom 20.04.2020 zu:
Oswald D. Kothgassner, Anna Felnhofer (Hrsg.): Klinische Cyberpsychologie und Cybertherapie. Facultas Verlag
(Wien) 2018.
ISBN 978-3-8252-4894-9.
Reihe: UTB - 4894.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/26702.php, Datum des Zugriffs 15.01.2025.
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