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Jörn Retterath: "Was ist das Volk?"

Rezensiert von Sebastian Elsbach, 15.07.2020

Cover Jörn Retterath: "Was ist das Volk?" ISBN 978-3-11-046207-4

Jörn Retterath: "Was ist das Volk?". Volks- und Gemeinschaftskonzepte der politischen Mitte in Deutschland 1917-1924. De Gruyter Oldenburg (Berlin) 2016. 462 Seiten. ISBN 978-3-11-046207-4. D: 59,95 EUR, A: 60,50 EUR.
Reihe: Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte - Band 110.

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Thema

Die Erforschung des deutschen Nationalismus ist ein weitverzweigtes Thema, welches auch in der Politik- und der Geschichtswissenschaft besonderes Interesse gefunden hat. Gerade die Rolle des Nationalismus in den großen Zäsuren der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert stand dabei auf dem Prüfstand. Retterath problematisiert den sehr unterschiedlich interpretierten Begriff des „Volkes“ in der Anfangsphase der Weimarer Republik, wobei er sich auf die parlamentarisch-demokratischen Parteien als hauptsächlicher Träger des Demokratisierungsprozesses konzentriert.

Autor

Der Autor ist langjähriger wissenschaftlicher Mitarbeiter des Institutes für Zeitgeschichte (IfZ) und des Historischen Kollegs, beide in München. Das Buch stellt die überarbeitete Version seiner Doktorarbeit dar, welche im Rahmen des Forschungsprojektes „Demokratiegeschichte des 20. Jahrhunderts als Zäsurgeschichte – Das Beispiel der frühen Weimarer Republik“ entstand.

Entstehungshintergrund

Das genannte Forschungsprojekt stellte eine Kooperation zwischen dem IfZ, dem Herder-Institut in Marburg sowie dem Institut für Deutsche Sprache in Mannheim dar. Die Arbeit Retteraths bewegt sich diesem interdisziplinären Umfeld entsprechend zwischen politischer Ideengeschichte und historischer Diskursanalyse. Der Autor verortet sich im Bereich der Historischen Semantik in Abgrenzung zur historischen Linguistik (S. 25). Es geht ihm also um die Geschichte des Begriffs „Volk“ und nicht um die Geschichte des Wortes „Volk“.

Aufbau

Auf die methodische Einleitung folgt eine lexikalisch orientierte Hinführung zum Thema in Form einer Darstellung der Entwicklung des Volksbegriffes von der Romantik bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges. In diesem zweiten Teil legt Retterath auch die für ihn zentrale Unterscheidung zwischen einem pluralistischen und einem holistischen Verständnis von „Volk“ dar.

In den eigentlichen drei Hauptteilen untersucht Retterath die weitere Begriffsentwicklung

  1. am Ende des Ersten Weltkrieges 1917/18,
  2. in der Phase von Revolution und Weimarer Nationalversammlung 1918/19 sowie
  3. in den darauffolgenden Jahren von 1919 bis 1924.

Ein Anhang über die Entwicklung der hauptsächlich verwendeten Presseerzeugnisse und die lexikalische Bedeutung der Begriffe „Volk“ und „Nation“ im Leitverlauf von 1852 bis 1934 sowie ein Personenregister runden die Arbeit ab.

Inhalt

Das Buch bietet eine Analyse historischer Presseerzeugnisse, die das Milieu der politischen Mitte (MSPD, DDP, DVP, Zentrum) in der frühen Weimarer Republik repräsentieren. Dies sind vor allem fünf Tageszeitungen, die um mehrere Duzend Broschüren, Wahlprogramme und zeitgenössische Sammlungen von Presseartikeln ergänzt wurden. Im Kern stützt sich Retterath aber auf folgende Zeitungen:

  1. Vorwärts (mehrheitssozialdemokratisch)
  2. Berliner Tageblatt (linksliberal)
  3. Vossische Zeitung (linksliberal)
  4. Kölnische Zeitung (nationalliberal)
  5. Germania (Zentrumspartei – christdemokratisch)

Hiermit bearbeitet Retterath also jene Zeitungen, die als milieugebundene Leitmedien bereits vielfach untersucht wurden. Der Autor konzentriert sich dabei auf Leit- und Meinungsartikel, die anhand eines standardisierten Zufallsrhythmus ausgewählt wurden. Insgesamt wurden ca. 6.300 Artikel gesichtet und über 1.700 Artikel detailliert ausgewertet (S. 21 f.). Mit diesem Quellenkorpus möchte der Autor die damalige öffentliche Meinung untersuchen und die Geschichte des Begriffs „Volk“ in den unterschiedlichen Milieus herausarbeiten.

Grundsätzlich unterscheidet Retterath zwischen einem pluralistischen Verständnis von „Volk“ und einem holistischen. Pluralismus meint in diesem Sinne die Anerkennung einer gesellschaftlichen Vielheit. Holismus meint hingegen die Idee einer auf gemeinsamer Abstammung beruhenden Gemeinschaft. Hieran anknüpfend unterscheidet der Autor zwischen Volksbegriffen, in denen der (holistische) „ethnos“, der (tendenziell indifferente) „plebs“ oder der (pluralistische) „demos“ im Vordergrund steht (S. 64 f.). Mit dieser Kategorisierung möchte Retterath die in der Ideengeschichte zur Weimarer Republik verbreitete Trennung von antidemokratischem und demokratischem Denken hinter sich lassen (S. 13 f.).

Im ersten Hauptteil konstatiert der Autor den Bedeutungszuwachs des Volksbegriffen im untersuchten Spektrum, der sich während des Ersten Weltkrieges ereignete. Der Kriegsbeginn war zumindest in der Presse von einer nationalistischen Hochstimmung geprägt, die das „Volk im Kampf“ wähnte und eine „Einheit der Nation“ beschwor (S. 78). In den Vokabeln der „Ideen von 1914“, der „Frontgemeinschaft“ und des „August-Erlebnisses“ drückte sich dieses holistische Volksverständnis aus. Angesichts des schlechten Kriegsverlaufes hielt der oftmals mit organischen Analogien („Volkskörper“, „Volkswille“, etc.; S. 81) konstruierte „Burgfrieden“ jedoch nicht. Vor allem auf Seiten der Sozialdemokratie kam es zu einer Ausdifferenzierung des Volksverständnisses weg vom hergebrachten „plebs“ im Sinne der Arbeiterschaft bzw. dem „einfachen Volk“ und hin zum „demos“, der sich in einer parlamentarischen Mehrheit ausdrücke. In der Partei war diese Entwicklung aber nicht unumstritten und spiegelte sich auch in der Parteispaltung zwischen USPD (plebs) und MSPD (demos) im Jahr 1917 wider, was im zweiten Hauptteil stärker ausgeführt wird. Das „Volk“ als „demos“ bildete während des Krieges den Gegensatz zur herrschenden Monarchie und vereinte die Parteien der (späteren) politischen Mitte. Sehr einflussreich wurde die Wortschöpfung des linksliberalen Staatsrechtlers Hugo Preuß, der den zukünftigen „Volksstaat“ als Alternative zum existierenden „Obrigkeitsstaat“ entwarf (S. 76). Unter Berufung auf das „Volk“, den „Volkswillen“ und die „Interessen des Volkes“ wurde vor allem von linksliberalen und mehrheitssozialdemokratischen Stimmen die Notwendigkeit von grundlegenden Reformen des Wahlrechtes und der Regierungsbildung betont, wobei diesen Forderungen ein pluralistischen Demokratieverständnis zugrunde lag (S. 92 f.). Tatsächlich trat die im Oktober 1918 parlamentarisch gebildete Regierung von Max von Baden mit dem Anspruch einer „Volksregierung“ auf, was als positiver Gegenbegriff zu einer „bürgerlichen Regierung“, „Parteiregierung“ oder „Mehrheitsregierung“ gemeint war (S. 119). Diese Begriffsbeispiele weisen bereits auf Retteraths Befund hin, dass auch im Zuge der späten Parlamentarisierung des Kaiserreiches pluralistische und holistische Denk- und Sprachbilder nicht immer scharf voneinander getrennt werden können. Ein Appell an die „innere Einheit“ konnte pluralistisch im Sinne eines Abbaus von gesellschaftlichen Spannungen durch Toleranz gemeint sein, oder aber holistisch im Sinne der Forderung diese „Einheit“ durch den Ausschluss von „Volksverrätern“ herzustellen (S. 128 f.). Die Phase des Weltkrieges war somit von einem Nebeneinander der positiven Erinnerung an die vermeintliche „innere Einheit“ vom August 1914 und einer Klage über das schlussendliche Zerbrechen dieser „Einheit des Volkes“ im Angesicht der Kriegsniederlage geprägt, wobei letzterer Gedanke die wirkmächtige Dolchstoßlegende unmittelbar vorbereitete (S. 130 f.).

Im zweiten Hauptteil widmet sich Retterath dem nur „scheinbaren Sieg“ des pluralistischen Volksbegriffes in der Weimarer Reichsverfassung. Er hebt hervor, dass pluralistische Begriffsverständnisse schon im Zuge der Novemberrevolution 1918 stark unter Druck gerieten. Die an der Regierung der Volksbeauftragten mitbeteiligte USPD und vor allem deren linker Flügel, aus dem heraus Ende Dezember 1918 die KPD hervorging, vertrat ein auf den „plebs“ fokussiertes Volksverständnis, was der Autor etwa an Reden Karl Liebknechts oder Artikeln der Roten Fahne festmacht, die in diesem Abschnitt zusätzlich herangezogen wurde (S. 135 u. 139). Die titelgebende, theoretisch klingende Frage „Was ist das Volk?“ wurde in diesem Wochen zu einer Machtfrage, die schlussendlich auch gewaltsam ausgetragen wurde, wobei beide Seiten das „Volk“ zu ihrer jeweiligen Legitimation anriefen. Bürgerliche Vertreter der politischen Mitte fürchteten angesichts dessen die Wiederkehr autoritärer Praktiken, wie etwa Hugo Preuß in seinem Artikel „Volksstaat oder verkehrter Obrigkeitsstaat“ ausführte (S. 156). Wie im Kriege wurde von Seiten der Mitte die „Einheit des Volkes“ beschworen, um den Staat in die Lage zu versetzen die anstehenden Belastungen zu bewältigen, wobei von Seiten der Linksradikalen vehement gegen diese „Einigkeitsphrase“ polemisiert wurde (S. 168). In den Beratungen der im Februar 1919 einberufenen Nationalversammlung über den von Hugo Preuß ausgearbeiteten Verfassungsentwurf stand das „Volk“ in mehrfacher Hinsicht im Zentrum. So hatte Preuß den Anspruch, dass der Verfassungsentwurf in einer möglichst „volkstümlichen“ Sprache formuliert worden sei, was den Übergang zum nun realisierten „Volksstaat“ unterstreichen sollte (S. 189). Der Staat wurde mit Art. 1 explizit dem „Volk“ untergeordnet: „Das Deutsche Reich ist eine Republik. Die Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ (S. 191). Dieser Artikel, wie die Verfassung insgesamt, erlaubte jedoch unterschiedliche staatsrechtliche Lesarten, wie Retterath unterstreicht. Neben pluralistischen Konzepten wie jenen von Hans Kelsen oder Richard Thoma trat die Idee, dass das „Volk“ nicht nur über dem Staat, sondern auch über dem Individuum stehe. Besonders den Gedanken, dass ein von den Bürgern unabhängiger und damit mystischer „Volkswille“ existiere identifiziert der Autor als Fortsetzung eines holistischen Volksbegriffes (S. 197). Auch die – vermehrt in den Auseinandersetzungen über den Versailler Vertrag hervortretende – verklärte Erinnerung an das „August-Erlebnis“ bzw. die „Ideen von 1914“ macht Retterath als problematischen Punkt deutlich, da hierdurch der deutscher Anteil am Ausbruch des Weltkrieges weggeredet werden konnte (S. 218). Die vordergründige Dominanz pluralistischer Argumentationsmuster macht der Autor denn auch daran fest, dass das Bürgertum durch die Novemberrevolution in eine defensive Position geraten war und selbst die rechtskonservative DNVP mit pluralistischen Argumenten versuchte ihre gesellschaftliche Position gegenüber der empfundenen Bedrohung einer sozialistischen Revolution zu schützen (S. 220). Schon im Zuge der Diskussion über die durch den Versailler Vertrag festgeschriebenen Gebietsabtretungen machten sich wieder holistische Vorstellungen vom „Volk“ breit (S. 221).

Zu Beginn des dritten und größten Hauptteiles, der in wiederum vier Abschnitte unterteilt ist, führt Retterath diesen Punkt näher aus, wenn er publizistischen Reaktionen auf die zusätzlichen Gebietsabtretungen nach 1919 bespricht. Die „Absplitterung deutscher Volksteile“ zugunsten vermeintlich „primitiver“ Völker wie Polen und Litauen wurde auch in der politischen Mitte emotional beklagt (S. 223–227). Gleichzeitig wurde in Bezug auf einen gewünschten Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich vor allem mit ethnischen Kriterien (z.B. „Blut“ oder „Stamm“) argumentiert, sodass der „demos“ gegenüber dem „ethnos“ an semantischem Boden verlor (S. 229 f.). Der eindeutig dem völkischen Sprachkosmos zuzuordnende Begriff „Rasse“ ließ sich jedoch in diesem Kontext nicht ausmachen (S. 235). Der gleichfalls holistisch konnotierte Begriff „Stamm“ fand wiederum insbesondere in der damaligen Föderalismus-Debatte eine reiche Anwendung, etwa wenn eine „organische“ Reichsgliederung gefordert wurde (S. 249), aber auch im Zuge der Abwehr separatistischer Bestrebungen im Rheinland, deren Wortführern „Stammesegoismus“ vorgeworfen wurde (S. 252). Die Rheinländer seien eben kein eigenes „rheinisches Volk“, sondern lediglich ein „Stamm“ des „deutschen Volkes“ (ebd.). An solchen Beispielen wird wiederum die Flexibilität des Volksbegriffes deutlich, dessen Inhalt diskursiv ausgehandelt wurde, wie Retterath veranschaulicht.

Ausführlich widmet sich der Autor auch der Verwendung des Begriffes „Volksgemeinschaft“ in der politischen Mitte. Dieser gemeinhin mit dem Nationalsozialismus verbundene Begriff war in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg durchaus noch bedeutungsoffen, wie auch Retterath betont. Gewissermaßen als narrative Fortsetzung der „nationalen Einheit“ zu Beginn des Weltkrieges beinhaltete der Begriff „Volksgemeinschaft“ eine mystische Wunschvorstellung von konfliktarmer Homogenität (S. 273). Der Problematische am Begriff lag freilich in dem klärungsbedürftigen Verhältnis von Individuum und „Gemeinschaft“. Sprecher aus dem Milieu der politischen Mitte negierten anders als Vertreter des völkischen Spektrums den Eigenwert der Persönlichkeit nicht. So betonte Theodor Heuss (DDP), dass die „Volksgemeinschaft“ nicht zu einer „Selbstaufgabe der Person“ führen dürfe (S. 281). Von gewissem Umfang waren denn auch die Bemühungen im linksliberalen und sozialdemokratischen Milieu den Begriff in einen demokratischen Kontext zu setzen. So präsentierte sich die linksliberale DDP im Wahlkampf 1924 als „Partei der Volksgemeinschaft“ und wollte dies als Appell an die Versöhnung der unterschiedlichen Klasseninteressen verstanden wissen (S. 288 f.). Unumstritten war dieses Vorgehen in der Partei aber nicht. Hugo Preuß hatte schon zum Neujahrstag 1924 vor der Idee gewarnt, dass Parteigegensätze in der „Volksgemeinschaft“ einfach aufgelöst werden könnten. Wenn „Volksgemeinschaft“ und „Parteikampf“ aber nicht als Gegensätze verstanden würden, dann könnte der Begriff im Sinne einer Gleichberechtigung aller Staatsbürger und einem gegenseitigen Bekenntnis zur verfassungsmäßigen Ordnung verstanden werden (S. 291 f.). „Volksgemeinschaft“ konnte also durchaus auf eine pluralistische Weise definiert werden. Schon die DVP-nahe Kölnische Zeitung verstand die „organische Volksgemeinschaft“ jedoch als absoluten Gegensatz zum „roten Klassenkampf“ (S. 298). Ob die SPD zur „nationalen Volksgemeinschaft“ gezählt wurde oder nicht, war angesichts dieses Begriffsverständnisses durchaus umstritten (S. 305). Exkludierende Gedanken wurden auch im katholischen Spektrum formuliert, wenn als Grundlage der „Volksgemeinschaft“ die Kriterien „Abstammung“, „Blut“ und sogar „Rasse“ genannt wurden. Zwar versuchte man sich hierbei noch vom völkischen Lager abzugrenzen, meinte aber ebenfalls den „gesunden Inhalt des völkischen Gedankens“ anerkennen zu müssen. Hieran zeigt Retterath die Nähe des Begriffes zu einem holistischen Volksverständnis, wenngleich er zu bedenken gibt, dass sich die „Volksgemeinschaft“ durchaus als begrifflicher Brückenschlag zwischen „Nation“ und „Demokratie“ angeboten hätte, wenn eine pluralistische Lesart des Begriffs wie etwa diejenige von Hugo Preuß stärker betont worden wäre (S. 326).

Als durchaus folgerichtige Konsequenz von exkludierenden Sprach- und Denkmustern diskutiert Retterath auch die semantischen Reaktionen auf die zwischen 1919 und 1924 häufigen Fälle von politischer Gewalt. Von Seiten der politischen Mitte wurde angesichts von politischen Morden, wie denjenigen an Matthias Erzberger (Zentrum) oder Walter Rathenau (DDP), eine offensive Besetzung der Begriffe „Volk“ und „Nation“ gesucht, indem den antirepublikanischen Gewalttätern ihre Verbindung zu selbigen Konzepten abgesprochen wurde (S. 334). Als Reaktion auf die Gewalt gegen die Republik wurde die „Einheit“ der Mitte angemahnt, um so der Krise Herr zu werden. Da aber die Gewalttäter offensichtlich aus dem radikalnationalistischen Lager kamen, gerieten die Sprecher der Mitte in einen semantischen Widerspruch. Daher wurde vielfach auf die vermeintliche „Krankheit“ Einzelner, bestimmter Gruppen oder gleich des „Volkskörpers“ als Ganzes verwiesen. Berühmt ist in diesem Sinne der Ausruf des damaligen Reichskanzlers Joseph Wirth (Zentrum), der der Rechten unterstellte „Gift in die Wunden“ des „Volkes“ zu träufeln (S. 349 f.) und es so krank zu machen. Das Folgeproblem solcher Sprachbilder war, dass nicht unbedingt klar wurde, mit welchen Mitteln – wenn überhaupt – eine „Gesundung“ herbeigeführt werden könne. Laut Retterath wurden hierdurch „radikale Denkkategorien“ begünstigt und etwa im Falle Wirths die Rechte zu einem „Feind des Volkes“, einem „inneren Feind“ stilisiert (S. 364). Dass antidemokratische „Feinde“ oder „Schädlinge“ ausgegrenzt und notfalls mit Gewalt bekämpft werden müssten, lag da durchaus nahe, wobei Retterath diesen Sprachgebrauch als das Öffnen einer „semantischen Büchse der Pandora“ interpretiert, da die entsprechenden Begrifflichkeiten der exkludierenden Sprache der Völkischen (Volksfeind“ und „Volksschädling) ähneln würden (S. 372).

Ein weiteres Feld des problematischen Sprachgebrauchs identifiziert der Autor in der Berichterstattung über das Parteiwesen und den Parlamentarismus. Parlamentarismus- und Parteikritik war demnach auch in der politischen Mitte weit verbreitet. So wurde die „Parteizerrissenheit“, also der vermeintliche Unwille der Parteien sich auf Kompromisse zu einigen, besonders im Kontext des Scheiterns mehrerer Versuche zur Bildung einer bürgerlich-demokratischen Sammlungspartei beklagt (S. 374). „Parteigegensätze“, „Parteizwist“, „Parteiegoismus“ oder „Parteigeschäfte“ bildeten gewissermaßen das negative Spiegelbild der Forderung nach einer „Volksgemeinschaft“ (S. 375 f.). Die tendenziell unpolitische „Überparteilichkeit“ war in Mode, nicht die für das Funktionieren einer parlamentarischen Demokratie notwendige „Parteilichkeit“ (S. 377). Eine Verteidigung des pluralistischen Meinungsstreites kam vorwiegend aus dem Lager des Linksliberalismus und der Sozialdemokratie, wobei letztere die „Masse“ als positiven Begriff verstand. Demgegenüber war die Parlamentarismuskritik im Nationalliberalismus und im politischen Katholizismus vielfach auf den vermeintlich übergroßen Einfluss der „Masse“ bzw. des „Pöbels“ in der Politik gerichtet (S. 382 f.). Als problematisch galt auch, dass der Parlamentarismus nicht in der Lage sei geeignete „Führer“ auszubilden. Die Kritik einer vermeintlich mangelhaften „Führerauslese“ führte auch in der Sozialdemokratie und im Linksliberalismus zu der Forderung nach einer „Führerdemokratie“, in der „Führer“ – an Führerinnen wurde nicht gedacht – durch politische Bildung und eine funktionierende Rückbindung an Parlament und Parteien herangezogen werden sollten (S. 395). Die Grenze zwischen einer solchen, sich als systemimmanent verstehenden und einer systemvernichtenden Parteien- und Parlamentarismuskritik war freilich recht dünn, wie Retterath auch in seinem Fazit betont (S. 412). Insgesamt kommt der Autor zu dem Schluss, dass schon in der Anfangsphase der Weimarer Republik pluralistische Positionen gegenüber historisch verankerten holistischen Sprach- und Denkmustern in die Minderheit geraten waren. Holistisches Denken deutet Retterath als wichtiges Scharnier zwischen der politischen Mitte Weimars und dem Nationalsozialismus, der den „semantischen Kampf“ schließlich für sich entscheiden sollte (S. 413 f.).

Diskussion

Retteraths umfangreiche und quellengesättigte Studie bietet vielfältige Anknüpfungspunkte für die Diskussion zentraler Forschungsprobleme der Weimarer Republik wie auch der weiteren deutschen Demokratiegeschichte. Die zufallsgestützte Auswahl der Zeitungsquellen funktioniert und auch ansonsten kann die Arbeit methodisch überzeugen. Die Unterscheidung zwischen Pluralismus und Holismus ist durchaus konstruktiv, aber ganz so weit entfernt von der üblicheren Unterscheidung zwischen demokratischem und antidemokratischem Denken ist Retteraths Vorschlag denn doch nicht. Im Kern untersucht der Autor schließlich, inwiefern im demokratischen Spektrum der frühen Weimarer Republik antidemokratische Sprach- und Denkmuster vorhanden waren, auch wenn er dies nicht so direkt benennt. Auf die Frage „Was ist das Volk?“ findet der Autor naturgemäß ein sehr buntes Sammelsurium von Antworten, sodass dem Leser am Ende nur klar geworden ist, dass der Volks- und Nationsbegriff sehr heterogen verstanden und die Sprechenden die konkrete Bedeutung dieser Worte mitunter gar nicht klar machten. Die Frage, die Retterath sehr viel deutlicher beantwortet, ist hingegen „Wie viel Einigkeits-Denken verträgt eine parlamentarische Demokratie?“, was als Buchtitel zugegebenermaßen viel sperriger klingt. Der Holismus wird vom Autor ebenso deutlich mit einer (mindestens potentiell) antidemokratischen Haltung verknüpft, wie der Pluralismus mit der parlamentarischen Demokratie. Begrifflich ist dies wie gesagt produktiv, da Retterath auf diese Weise das demokratische bzw. antidemokratische Denken qualitativ beschreiben kann und nicht bei dem bloßen, manchmal bloß opportunistischen Bekenntnis zur Demokratie stehen bleibt.

Auf diese Weise kann er nicht nur jene Stimmen ausfindig machen, die die pluralistische Demokratie in ihrem Anfangsstadium rechtfertigten und so verteidigten, sondern auch eine ganze Reihe von problematischen Sprachmechanismen identifizieren, mittels derer die Demokratie durch (!) die politische Mitte untergruben wurde. Man darf schließlich nicht vergessen, dass es weder die Kommunisten noch die Nationalsozialisten waren, die den Weimarer Parlamentarismus abschafften. Vielmehr war es die Präsidialregierung Heinrich Brünings (Zentrum), die 1930 den Schritt zum autoritären Notverordnungsregime tat und hierbei von der politischen Mitte getragen wurde. Die NSDAP war lediglich die Nutznießerin dieser Abwendung der Mitte vom Pluralismus, wobei es Retterath gelingt den Beginn dieses Prozesses zu thematisieren. Wichtig ist sein Befund, dass bei allen größeren und kleineren Krisen der Weimarer Republik das im Ersten Weltkrieg gestärkte Narrativ der „nationalen Einheit“ als vermeintlichem Patentrezept gegen die jeweilige Krise bemüht wurde. Als im Zuge der Weltwirtschaftskrise die SPD versuchte aus dieser nationalen Konsenskultur auszuscheren, weil sie die später von Brüning realisierte Sparpolitik nicht mittragen wollte, wurde dies offenkundig von den anderen Parteien der Mitte als ein so schwerer Verstoß gegen die „Einheit“ gewertet, dass es als gerechtfertigt erschien den Parlamentarismus auszuhebeln, die gewünschte „Einheit“ mittels präsidialer Zwangsmaßnahmen wieder herzustellen und den als negativ empfundenen „Parteizwist“ einzudämmen. Zu der von Retterath aufgezeigten Begriffstradition passt u.a. auch, dass Brüning als erster Reichskanzler offensiv versuchte das vermeintliche Gemeinschaftserlebnis des Weltkrieges anzusprechen und sein „Kabinett der Frontsoldaten“ sprachlich aufzuwerten.

Wenn Retterath diese Zusammenhänge nicht selbst sieht, so hat dies mutmaßlich mit seinem Forschungshintergrund im IfZ zu tun, wo die Erforschung des Nationalsozialismus im Vordergrund steht und weniger die Geschichte der Weimarer Republik als eigenständiger Epoche. Wenn der Autor den Vorschlag entwickelt, dass die Mitte durch eine aktivere Besetzung der Begriffe „Volk“ und „Nation“ oder durch die Ausbildung eines demokratischen Volksgemeinschaftsbegriffs dem Nationalsozialismus hätte vorbeugen können, ist dies nicht wirklich überzeugend, da dieser Gedanke den Opportunismus der NSDAP vernachlässigt. Auch bei einer sehr viel traditionsreicheren Begriffsbildung waren die Nationalsozialisten in der Lage sich die Sprache des politischen Gegners anzueignen (z.B. „Sozialismus“ -> „nationaler Sozialismus“; „Arbeiterpartei“ -> „deutsche Arbeiterpartei“). So spiegelt Retteraths Vorschlag das verständliche Interesse der NS-Forschung an der „Volksgemeinschaft“ wieder, ohne aber in diesem Punkt grundsätzlich Neues zu bringen. Nicht ganz zu Ende gedacht erscheint auch seine Parallele zwischen der in der politischen Mitte verbreiteten Darstellung der Republikgegner als „innere Feinde“ und der in der NS-Sprache gebräuchlichen Wendung „Volksfeinde“. Eine pluralistische Position würde sich schließlich selbst negieren, wenn unterschiedslos alle Meinungen als legitim anerkannt würden, also auch jene, die den Pluralismus gewaltsam bekämpfen wollen. Der Ausschluss solcher Meinungen ist noch kein Ausweis für eine holistische Position und um das Beispiel Joseph Wirths aufzugreifen ist es fraglich, ob der Redner wirklich ein mystisches Weltbild verbreitete. Die angesprochene DNVP hatte in ihrer Presse schließlich eine ganz weltliche Hetzkampagne gegen den ermordeten Rathenau gefahren, was Wirth und allen politisch Informierten bekannt war. Das von seinem Kabinett ausgearbeitete Republikschutzgesetz sollte die effektivere Bestrafung solcher publizistischen Angriffe ermöglichen, sodass „Gift“ und „Heilmittel“ nicht mystisch abstrakt blieben, sondern für die Zeitgenossen eindeutig waren. Die Stärkung des Pluralismus war insofern nicht nur die Absicht, sondern auch der Effekt von Wirths Politik. Grundsätzlich ist Retteraths Punkt aber überzeugend, dass die Ausgrenzung von Antidemokraten mittels Krankheitsmetaphern semantisch betrachtet ein zweischneidiges Schwert ist, da hierdurch die thematisierten Politiker und ihre Anhänger politisch entmündigt werden. Auch heute ist es ja mitunter üblich vermeintlich pathologische Charakterzüge von autoritären Staatsführern zu betonen und so den rationalen Kern ihrer Machtstrategien zu verdecken. Annehmbarer weise wäre es semantisch effektiver – was Retterath aber nicht explizit thematisiert – die politischen Verbrechen solcher „Verfassungsfeinde“ zu betonen und so nicht das ambivalente „Volk“, sondern die demokratische „Verfassung“ in den Mittelpunkt zu rücken. Wie überzeugend diese Sprachstrategie in der frühen Weimarer Republik gewesen wäre, steht freilich auf einem anderen Blatt.

Weitere inhaltliche Punkte aus Retteraths thematisch sehr abwechslungsreicher Dissertation könnten für eine Diskussion herausgegriffen werden, aber abschließend soll hier nur die Frage gestellt werden, ob die zentrale Zuordnung des Autors (Holismus = antidemokratisch; Pluralismus = demokratisch) wirklich so eindeutig ist. Zwar wird diese Zuordnung in der theoretischen Hinführung relativiert, aber die wiederholten Bezüge zwischen holistischen Denk- und Sprachmustern und dem NS-Sprachgebrauch lassen dann doch keinen anderen Schluss zu. Dass übermäßiges Einigkeits-Denken für eine Demokratie gefährlich, sogar tödlich sein kann, wird bei Retterath deutlich. Demgegenüber wäre es aber wichtig zu klären, wie viel Holismus bzw. Gemeinschaft auch eine pluralistische Demokratie braucht, um funktionieren zu können.

Fazit

In der Studie „Was ist das Volk?“ von Jörn Retterath wird anhand von zeitgenössischen Presseerzeugnissen die Geschichte des Volksbegriffs in der frühen Weimarer Republik untersucht. Hierbei konzentriert sich der Autor auf das Spektrum der politischen Mitte von den Sozialdemokraten, Links- und Rechtsliberalen bis zur katholischen Zentrumspartei. Publikationen des rechtskonservativen und antidemokratischen Spektrums werden ergänzend berücksichtigt. Grundsätzlich unterscheidet Retterath zwischen einem holistischem und einem pluralistischem Volksverständnis, wobei er letzteres tendenziell in der Defensive sieht. Während der vielfältigen Krisen der frühen Weimarer Republik suchten die Sprechenden Anschluss an das im Ersten Weltkrieg herausgebildete Narrativ der „inneren“ bzw. „nationalen Einheit“, was der Autor als im Kern holistisches Konzept deutet. Im Rahmen der Arbeit wird eine große Bandbreite von Themen abgedeckt, die vom Verfassungsdenken, der Sprache der Novemberrevolution, semantischen Reaktionen auf politische Morde und mehr reicht. Insofern bietet die Studie weitverzweigte Erkenntnisse und Diskussionsmöglichkeiten für die Forschung zum deutschen Nationalismus und der deutschen Demokratiegeschichte.

Rezension von
Sebastian Elsbach
Post-Doktorand an der Forschungsstelle Weimarer Republik – Jena
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Es gibt 3 Rezensionen von Sebastian Elsbach.

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Zitiervorschlag
Sebastian Elsbach. Rezension vom 15.07.2020 zu: Jörn Retterath: "Was ist das Volk?". Volks- und Gemeinschaftskonzepte der politischen Mitte in Deutschland 1917-1924. De Gruyter Oldenburg (Berlin) 2016. ISBN 978-3-11-046207-4. Reihe: Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte - Band 110. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/26705.php, Datum des Zugriffs 28.05.2023.


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