Yvonne Blumenthal, Gino Casale et al.: Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten und emotional sozialen Entwicklungsstörungen
Rezensiert von Prof. Dr. phil. habil. Thomas Müller, 23.06.2022
Yvonne Blumenthal, Gino Casale, Bodo Hartke, Thomas Hennemann, Clemens Hillenbrand et al.: Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten und emotional sozialen Entwicklungsstörungen. Förderung in inklusiven Schulklassen. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2020. 176 Seiten. ISBN 978-3-17-033836-4. D: 26,00 EUR, A: 26,80 EUR.
Thema
Das Buch bietet zentrale Einblicke in aktuelle, empirisch gesicherte Erkenntnisse und Handlungsansätze zur Förderung von Kindern und Jugendlichen mit emotional-sozialem Förderbedarf. Es fragt zudem nach Praxiskonzepten, die sich als erfolgreich für Entwicklungs- und Verhaltensförderung erwiesen haben.
Autor:innen
- Dr. Yvonne Blumenthal lehrt an der Universität Rostock sowie an der Universität Greifswald Sonder- und Inklusionspädagogik sowie Pädagogik mit dem Förderschwerpunkt Lernen und emotionale, soziale Entwicklung.
- Prof. Dr. Gino Casale lehrt Methodik und Didaktik in den Förderschwerpunkten Lernen und emotional-soziale Entwicklung an der Bergischen Universität Wuppertal
- em. Prof. Dr. Bodo Hartke ist Sonderpädagoge und lehrte an der Universität Rostock Sonder- und Inklusionspädagogik sowie Pädagogik mit dem Förderschwerpunkt Lernen
- Prof. Dr. Thomas Hennemann lehrt an der Universität zu Köln Erziehungshilfe und sozial-emotionale Entwicklungsförderung
- Prof. Dr. Clemens Hillenbrand lehrt Pädagogik und Didaktik bei Beeinträchtigungen des Lernens an der Universität Oldenburg
- Prof.in Dr. Marie-Christine Vierbuchen ist Juniorprofessorin für Inklusive Bildung in den Erziehungswissenschaften an der Universität Vechta
Entstehungshintergrund
Vor dem Hintergrund einer zunehmenden Schülerschaft mit dem Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung sowie der Herausforderung, ein inklusives Bildungssystem zu realisieren, sehen sich viele Lehrkräfte insbesondere durch verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche gefordert und erleben sich durch diese erheblich belastet. Hinzu kommt der nicht von der Hand zu weisende Vorwurf, dass sonderpädagogische Förderung zum einen bisweilen zu spät ansetzt und sich infolge einem wait-to-fail-Vorwurf zu stellen hat und zum anderen eingesetzte Maßnahme und Praxiskonzepte nicht auf ihre Wirksamkeit hin überprüft sind, sondern zu häufig einer normativen Unterstellung von Wirksamkeit unterliegen. Daher liefern die hier zusammengestellten, empirisch fundierten Erklärungs- und Handlungsansätze sowie Praxiskonzepte einen wichtigen Beitrag zur Bewältigung der genannten Herausforderungen.
Aufbau
Das Buch gliedert sich in elf Kapitel. Dabei werden zu Beginn grundlegende Begrifflichkeiten des Förderschwerpunkts emotionale und soziale Entwicklung thematisiert sowie empirisch bewährte Erklärungs- und Handlungsansätze skizziert. Die Kapitel 3 bis 8 widmen sich verschiedenen Aspekten und Perspektiven der Förderung. Kapitel 9 spricht das Thema der Kindeswohlgefährdung an und die Kapitel 10 und 11 widmen sich einem Praxisbeispiel sowie Möglichkeiten der Implementation wirksamer Hilfen in die Schule.
Inhalt
Die Autorinnen und Autoren eröffnen ihr Buch mit einer begrifflichen Auseinandersetzung zu emotional-sozialen Entwicklungs- und Verhaltensstörungen und zeigen differenziert Ziele und Entwicklungsschritte emotionaler und sozialer Kompetenzen auf. Darüber hinaus thematisieren sie ebenso Ziele und Entwicklungsschritte der Handlungsregulation. Sie legen dar, dass insbesondere für den inklusiven Kontext Handlungsnotwendigkeit besteht, und stellen in Aussicht, dass insbesondere Rahmenkonzepte wie Response to Intervention oder Schoolwide Positive Behavior Support für das Gelingen einer präventiven und inklusiven Förderung von Bedeutung sind.
In Kapitel zwei werden empirisch bewährte Erklärungs- und Handlungsansätze vorgestellt, insbesondere lerntheoretische, kognitionspsychologische sowie entwicklungspsychologische Ansätze. Die Verfasserinnen und Verfasser begründen ihre Auswahl durch zwei Kriterien, die infolge Fördermaßnahmen zugrunde liegen sollen und rechtfertigen darüber ihre Auswahl: theoretische Fundierung und Evidenzbasierung. Sie legen schlüssig dar, was sie als empirisch bewährtes Wissen ansehen, wie es entsteht und welche Aussagekraft sich diesem zuschreiben lässt.
Kapitel 3 stellt in sachlogischer Folge positiv evaluierte Praxiskonzepte vor, wobei mehrstufige schulweite Förderkonzepte zur Prävention von Verhaltensstörungen und zur inklusiven Beschulung bei sonderpädagogischem Förderbedarf in der emotionalen und sozialen Entwicklung im Fokus stehen. Erläutert werden mehrstufige Ansätze der Prävention, das Response-to-Intervention-Modell sowie der Schoolwide Positive Behavior Support. Die Autorinnen und Autoren können darlegen, dass sich das Wissen über wirksame schulische und außerschulische Ansätze zur Prävention erheblich erweitert hat und in vielen Bereichen als fundiert angesehen werden kann. Daher verweisen sie auch auf eine entsprechende anstehende Professionalisierung von Fachkräften in dieser Hinsicht.
Die Kapitel 4, 5 und 6 widmen sich drei unterschiedlich intensiven Förderebenen und bilden damit in wesentlichen Aspekten die Ebenen des Response-to-Intervention-Modells ab.
- Für die Förderebene I (Kapitel 4) werden Beziehungsaspekte, Classroom-Management, wirksame Förderprogramme für soziales Lernen sowie die Modellierung und Verstärkung positiven Verhaltens dargestellt.
- Für die Förderebene II (Kapitel 5) werden Aspekte einer unterrichtsintegrierten Förderung gefährdeter Schülerinnen und Schüler dargestellt, beispielsweise lerntheoretisch basierte Aspekte, kognitive Verhaltensmodifikation sowie eine unterstützende Elternarbeit.
- Förderebene III (Kapitel 6) widmet sich Einzelfallhilfen bei deutlich ausgeprägten emotional-sozialen Entwicklungs- und Verhaltensstörungen: Beschrieben werden eine ressourcenorientierte Diagnostik einerseits und eine störungsspezifische Diagnostik andererseits, personelle und organisatorische Gelingensbedingungen. Außerdem wird ein Überblick über wirksame Maßnahmen bei ADHS und Störungen des Sozialverhaltens gegeben.
Daran schließt sich das siebte Kapitel an, welches danach fragt, wie sich soziale Integration wirksam fördern lässt. In einem ersten Schritt geht es um das Erkennen sozialer Desintegration und die sich im zweiten Schritt anschließende Förderung sozialer Integration. Aber auch peermediiertes Lernen, Lehrkraft- und Peer-Feedback werden in ihrer Bedeutung erläutert.
Kapitel 8 setzt sich mit datenbasierten Förderentscheidungen auseinander und zeigt Screening- und Monitoringverfahren sowie Hilfen zur Ziel- und Handlungsplanung auf. Zudem werden Möglichkeiten einer differentiellen Förderplanung in kooperativen, multiprofessionellen Teams dargestellt.
Kapitel 9 thematisiert Aspekte des Kindeswohls, auch im Hinblick auf eine inklusive Beschulung. Skizziert werden Formen der Kindeswohlgefährdung und Möglichkeiten des Vorgehens für Lehrkräfte bei Verdachtsmomenten. Auch auf Hilfs- und Informationsnetzwerke wird verwiesen.
Schließlich wird in Kapitel 10 beispielhaft das Rügener Inklusionsmodell vorgestellt und aufgezeigt, wie die zentralen, zum Teil in den vorangegangenen Kapiteln dargestellten Aspekte zusammenwirken können.
Das abschließende Kapitel 11 widmet sich Fragen der Implementation wirksamer Hilfen in die Schule und stellt hierfür zunächst Forschungsbefunde für Gelingensbedingungen der Implementation eines neues Konzeptes vor. Daran schließen sich Möglichkeiten der Implementation neuer Konzepte durch Schulentwicklung und Change Management an und schließlich wird auch Handlungsmöglichkeiten durch Fortbildungen verwiesen.
Diskussion
Das hier rezensierte Buch nimmt eine klare Perspektive ein: es fokussiert auf die Erkenntnisse und Maßnahmen zur Förderung in inklusiven Schulklassen, die sich mit Blick auf ihre Wirksamkeit empirisch überprüfen lassen und dabei bewährt haben. Diese Fokussierung erscheint vor dem Hintergrund, ein inklusives Schulsystem erfolgreich zu realisieren und vor allem, Entwicklungs- und Verhaltensstörungen präventiv, statt im wait-to-fail-Modus zu begegnen, durchaus legitim und zugleich notwendig. Es ist, nicht zuletzt in Verantwortung für Kinder und Jugendliche mit emotional-sozialem Förderbedarf, nicht (länger) hinzunehmen, dass ihnen und ihren Bedarfen mit Fördermaßnahmen begegnet wird, die Wirksamkeit nur versprechen, diese aber ggf. nicht erzielen. Und auch mit Blick auf die erheblichen Belastungen für Lehrkräfte, insbesondere diejenigen ohne sonderpädagogische Professionalität, welche aus der Beschulung dieser Kinder und Jugendlichen entstehen, erscheint es nur konsequent, sich mit Maßnahmen auseinanderzusetzen, die tatsächlich effektiv sind. Das insgesamt recht schmale Buch sollte zudem nicht darüber hinwegtäuschen, welch erheblicher Forschungsaufwand von den Autorinnen und Autoren selbst, aber auch von zahlreichen anderen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern betrieben wurde und wird, um gesicherte Erkenntnisse für die inklusive Beschulung zu gewinnen und wirksame Maßnahmen abzuleiten und zu evaluieren.
Ein noch so legitimer wie notwendiger Fokus bringt aber automatisch auch Verkürzungen und Auslassungen mit sich – zumindest dann, wenn man den Blick auf die Gesamtheit der Expertise einer Disziplin Pädagogik bei Verhaltensstörungen wirft. Notwendigerweise wird man dafür auch Abstand nehmen müssen von strengen empirischen Kriterien. So ist eingangs von „belastenden Erziehungssituationen“ (S. 11) die Rede, die als „Interaktionen zu verstehen“ seien. Dieser Aussage ist zuzustimmen, allerdings bleibt eine Auseinandersetzung mit diesen belastenden Erziehungssituationen im Buch aus. Auch spielen die genannten Interaktionen nur am Rande eine Rolle. Sicherlich haben die Autorinnen und Autoren Recht damit, dass in der Praxis die Probleme in der inklusiven Beschulung emotional-sozial förderbedürftiger Kinder und Jugendlicher „meist an den Verhaltensweisen“ (ebd.) festgemacht werden. Die Fokussierung auf Kinder mit Verhaltensstörungen und emotional-sozialen Entwicklungsstörungen leistet dieser Einschätzung der Praxis in bedenklicher Weise Vorschub. So sehr eine personalisierte Sichtweise Möglichkeiten wirksamer Förderung eröffnet, so sehr trägt sie dazu bei, Kinder und Jugendliche nicht als Symptom-, sondern als Verantwortungsträger für das von ihnen gezeigte Verhalten zu betrachten. Eine stärker interaktionistische Sichtweise könnte dem entgegenwirken und brächte auch institutionelle, mitverantwortliche Faktoren, wie beispielsweise ein eindimensionales Leistungsverständnis der Schule, ans Licht, welches sich hinreichend empirisch als negativ wirksam für die betroffenen Kinder und Jugendlichen belegen ließe. Hinzu kommt, dass mit einer personorientierten Sicht Kinder und Jugendliche aus dem Blick geraten, deren Erleben und Verhalten im Widerspruch zueinanderstehen und die infolge Performanzprobleme aufweisen. Ihnen ist mit einer Fokussierung auf die Handlungsregulation (S. 17 f.) und die Überwindung von Vulnerabilität zugunsten von Resilienz (S. 30 f.) allein nicht geholfen. Dies lenkte den Blick auf Erklärungsansätze, die sich empirisch durchaus bewährt haben, auch wenn sich aus ihnen (noch) nicht immer evidenzbasierte Maßnahmen ableiten lassen und die daher im Buch keine Berücksichtigung gefunden haben. Und schließlich wäre zu bedenken, ob gerade mit Blick auf die Beziehung zwischen Lehrkraft und Lernenden (S. 44), auszuhalten ist, dass es auch Faktoren einer anders gearteten Wirksamkeit gibt, die ihre Qualität darin entfalten, dass sie sich einer strengen empirischen Nachweisbarkeit entziehen und über die sich dennoch wissenschaftlich arbeiten lässt. Schließlich ist zu bedenken, dass Förderung allein kein Garant für einen gelingenden (inklusiven) Unterricht darstellt. So wäre es wünschenswert gewesen, wenn der unumstritten hoch bedeutsame der Aspekt der Förderung ins Verhältnis zur Bedeutung von Bildung, Erziehung und Didaktik gesetzt worden wäre, um von den „zentralen Fragen einer inklusiven Pädagogik bei emotional-sozialen Entwicklungs- und Verhaltensstörungen“ sprechen zu können, wie es der Buchrücken verspricht.
Dies alles mögen mehr oder weniger berechtigte pädagogische Bedenken sein, die dennoch nichts an der Notwendigkeit einer derartigen fachlichen Fokussierung ändert, wie sie das Buch von Blumenthal, Casale, Hartke, Hennemann, Hillenbrand und Vierbuchen vornimmt. Dem Buch ist insbesondere im Hinblick auf inklusive Schulklassen weite Verbreitung und wohlwollende Aufmerksamkeit zu wünschen.
Fazit
Die Autorinnen und Autoren Blumenthal, Casale, Hartke, Hennemann, Hillenbrand und Vierbuchen legen mit ihrem Buch „Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten und emotional-sozialen Entwicklungsbedingungen“ ein sehr fokussiertes Werk vor, das sich vor den Herausforderungen, ein inklusives Bildungssystem für und mit Kindern und Jugendlichen mit emotional-sozialem Förderbedarf zu realisieren, auf empirisch wirksame Aspekte der Förderung in inklusiven Schulklassen konzentriert.
Rezension von
Prof. Dr. phil. habil. Thomas Müller
Pädagogik bei Verhaltensstörungen, Universität Würzburg
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Zitiervorschlag
Thomas Müller. Rezension vom 23.06.2022 zu:
Yvonne Blumenthal, Gino Casale, Bodo Hartke, Thomas Hennemann, Clemens Hillenbrand et al.: Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten und emotional sozialen Entwicklungsstörungen. Förderung in inklusiven Schulklassen. Kohlhammer Verlag
(Stuttgart) 2020.
ISBN 978-3-17-033836-4.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/26714.php, Datum des Zugriffs 15.01.2025.
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