Christine Preißmann: Mit Autismus leben
Rezensiert von Dr. Richard Hammer, 27.08.2020
Christine Preißmann: Mit Autismus leben. Eine Ermutigung. Klett-Cotta Verlag (Stuttgart) 2020. 192 Seiten. ISBN 978-3-608-86127-3. D: 18,00 EUR, A: 18,50 EUR.
Thema
Menschen mit einer Autismus-Spektrums-Störung empfinden und agieren anders als ihre Mitmenschen. Sie neigen zu stereotypen und eingeschränkten Verhaltensmustern und sie erleben Beeinträchtigungen in der Kommunikation und sozialen Interaktion. Dies erschwert ihr Leben in der Gemeinschaft und macht sie häufig zu Außenseitern. Christine Preißmann zeigt, dass trotz der großen Herausforderungen ein gutes Leben gelingen kann.
Autorin
Christine Preißmann, Dr. med., Fachärztin für Allgemeinmedizin, Notfallmedizin, Psychotherapie, ist als Ärztin in der Vitos Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Heppenheim tätig. Seit 2018 bietet sie dort eine „Autismus-Sprechstunde“ an. Bundesweit kann man sie erleben in Seminaren und Vorträgen, in denen sie Öffentlichkeitsarbeit für den Bereich Autismus-Spektrum-Störungen macht. In zahlreichen Publikationen zeigt sie ihre Kompetenz zu diesem Thema als Betroffene und Fachfrau.
Entstehungshintergrund
Dieses Buch erscheint nach der bereits 2019 erschienenen 2. Auflage ihres Buches: „Gut leben mit einem autistischen Kind“, das Resilienz-Buch für Mütter im Verlag Klett-Cotta in der Reihe „Hilfe aus eigener Kraft“.
Aufbau
Nach einer kurzen Einführung in die Theorie zum Autismus folgt das Buch den Lebensabschnitten, beginnend mit dem Vorschulalter und der Schulzeit, über die Pubertät hin zu den Themen der jungen Erwachsenen und dem aktuellen Berufsleben. Es geht dabei ein auf eine Vielfalt unterschiedlicher Themen, mit denen sich eine Frau mit Autismus bei der Bewältigung des Alltags auseinandersetzen muss. Dabei wird jedes Thema zunächst aus eigener Erfahrung aufgegriffen, ergänzt durch wertvolle Hinweise und Empfehlungen für die jeweiligen Herausforderungen.
Inhalt
Das Buch startet mit der Frage: Autismus – was ist das? Es stellt kurz den aktuellen fachliche Diskussionsstand dar und geht dann ein auf Symptome und Auffälligkeiten, Häufigkeiten, Ursachen, Verlauf und Diagnostik. In weiteren, losen aneinandergereihten Abschnitten, geht die Autorin ein auf:
- das Vorschulalter,
- die Schulzeit,
- das Erwachsenwerden,
- eine Frau werden,
- auf die Zeiten des Studiums und des Berufsanfangs und greift dabei Themen auf wie Freundschaft und Partnerschaft, Lebensträume, Gesundheit und Krankheit und Wahrnehmungsbesonderheiten.
Schließlich geht die Autorin noch ein auf spezifische Herausforderungen wie Wohnungssuche, Urlaub und Freizeit sowie die Bewältigung des Alltags im Allgemeinen (Einkaufen, Gäste einladen, Frisörbesuch, Mobilität, Freizeitgestaltung) um dann abzuschließen mit einer Ermutigung für ein Leben mit Autismus.
Diskussion
Christine Preißmann legt uns hier ein sehr persönliches Buch vor, in dem sie uns ihr Leben als Autistin zeigt, mit all den Stolpersteinen, die sie im Laufe ihrer Biographie erfolgreich bewältigt hat. Zu jedem Thema schildert sie zunächst ihre eigenen Lebenserfahrungen von früher Kindheit bis zu ihrer erfolgreichen Arbeit als Fachärztin. Aufgrund ihrer Erfahrungen – angereichert mit den Ergebnissen der Autismusforschung – bietet sie zu jedem Thema Strategien, Hilfen, Tipps, wie die Lebenssituation für Menschen mit Autismus erleichtert werden kann. Dadurch wird dieses Buch zu einer wertvollen Hilfe für Betroffene, für ErzieherInnen, Lehrkräfte und Eltern.
Einige Beispiele mögen dies verdeutlichen:
Den dringenden Wunsch nach Inklusion begründet sie unter anderem mit ihrer leidvollen Erfahrung als Schülerin. Sie wurde häufig von ihren Mitschülern gemobbt – ohne Hilfe und Unterstützung durch die Lehrkräfte, da diese mit ihrer Besonderheit nichts anzufangen wussten. Bis hin zu ihrem Schulleiter, der ihr bei der Übergabe des Abiturzeugnisses „zu verstehen gab, dass ich in seinen Augen für ein Medizinstudium auf keinen Fall geeignet sein, viel zu faul und auch längst nicht intelligent genug“ (S. 41).
Auch die Situation in der Pubertät zeigt, wie wichtig es ist, Kinder und Jugendliche mit Autismus besonders zu unterstützen, da sie in der Regel nicht in der Lage sind, von sich aus Kontakt zu Gleichaltrigen aufzunehmen und mit ihnen über Probleme der beginnenden Sexualität zu sprechen. „Ich war so schrecklich einsam und ich verstand nicht, weshalb man mich ausschloss. Und dadurch hatte ich auch nicht die Möglichkeit, die in der Adoleszenz anstehenden Fragen mit Gleichaltrigen zu besprechen“ (S. 54).
Ihr Leben gleicht einem Hürdenlauf, in dem sie immer wieder Hürden bewältigen musste, welche für andere anscheinen selbstverständlich zu überspringen waren. Aber sie schafft es weiter mit Hilfe der Unterstützung ihrer Eltern, einer Psychotherapeutin und einer Ergotherapeutin, deren Hilfe sie endlich in Anspruch nehmen konnte, als sie im Alter von 27 Jahren – mehr oder weniger – durch Zufall – die Diagnose Autismus erhielt. Mit deren Hilfe konnte Christine Preißmann ihren Lebensweg bewältigen und dabei lässt sie die LeserIn teilhaben. An der Bewältigung ihrer Probleme im Studium, bei der Berufswahl, bei der Bewältigung des Alltags. Sie geht dabei sehr differenziert ein auf scheinbar selbstverständliche Situationen, welche für Autisten eben nicht selbstverständlich sind: Frisörbesuch, Einkauf im Supermarkt, Shopping für neue Kleidung. Dabei schildert sie eindringlich die persönlichen Probleme dabei und gibt sehr praktische Tipps, wie diese Situationen mit Hilfe gut bewältigt werden können.
Sehr persönlich wird Preißmann bei den Themen Freundschaft und Partnerschaft, wobei sie sehr eindringlich ihr eigenes Leiden schildert. Ja, sie vermisst Freundschaft, würde gerne mit anderen „zusammen einen Spaziergang unternehmen in freier Natur, einen Tierpark oder ein Museum besuchen oder zu einem Flughafen fahren, das könnte angenehm sein“ (S. 114). Auch der Wunsch nach Partnerschaft besteht, aber meist „kaum Ideen, wie man einen passenden Partner finden und was man dann mit ihm unternehmen könnte“ (S. 116).
Ausführlich geht die Autorin ein auf die „Wahrnehmungsbesonderheiten“ von Menschen mit Autismus. In allen Sinnesbereichen (auditiv, visuell, taktil, olfaktorisch) besteht zum einen eine Hyper-, zum andern eine Hyposensibilität. Vor allem die Überempfindlichkeit erzeugt häufig Probleme im Alltag von Autisten, oft auch deshalb, weil andere Menschen dies nicht bemerken und deshalb die daraus entstehenden „Verhaltensbesonderheiten“ nicht nachvollziehen können. Dazu gibt das Buch zahlreiche Anregungen und Hinweise, wie im Alltag, vor allem auch in der Schule Situationen so verändert werden können, damit das Leben in diesen Situationen für Autisten erträglicher wird.
Das Buch schließt mit einem Appell, der auch als Hilferuf verstanden werden kann (S. 183):
Teilhabe autistischer Menschen:
Nicht weil wir autistisch sind
Nicht obwohl wir autistisch sind.
Wichtig ist die gemeinsame Basis:
Wir wollen und können in vielen Bereichen dabei sein, weil wir – wie viele andere Leute auch – Menschen sind.
Fazit
Christine Preißmann legt uns hier ein sehr persönliches, eindringliches Buch vor. Sie öffnet ihre Biographie mit allen Stärken und Schwächen und macht uns so mit den Besonderheiten von Menschen mit Autismus bekannt, verbunden mit dem Appell, auf die Verhaltensbesonderheiten dieser Menschen einfühlsam zu reagieren – weil sie eben Menschen sind. Sie bietet zahlreiche Hinweise, Beispiele, Anregungen, Tipps, wie der Alltag dieser Menschen mit Autismus besser bewältigt werden kann. Damit kommen die aus der Praxis gewonnenen Erfahrungen und Empfehlungen der Autorin Betroffenen, Angehörigen und Fachleuten gleichermaßen zugute.
Bleibt noch anzumerken, dass die auf Seite 80 erwähnte „Spezifische Integrationstherapie“ eigentlich „Sensorische Integrationstherapie“ heißen muss. Hilfreich und ehrlich wäre auch ein deutlicher Hinweis darauf, dass dieses „Mit Autismus leben“ eine besondere Art des Autismus darstellt. Etwa die Hälfte der Menschen mit Autismus ist geistig behindert. Deren Leben spielt sich in ganz anderen Sphären ab und deren Eltern werden aus diesem Buch wenig Ermutigung schöpfen können.
Für Menschen auf der „guten“ Seite des Spektrums aber ist das wirklich ein sehr ermutigendes Buch, das hilft, unterstützt und auffordert zu kämpfen.
Danke für dieses Buch.
Rezension von
Dr. Richard Hammer
Dipl. Motologe
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Es gibt 33 Rezensionen von Richard Hammer.
Zitiervorschlag
Richard Hammer. Rezension vom 27.08.2020 zu:
Christine Preißmann: Mit Autismus leben. Eine Ermutigung. Klett-Cotta Verlag
(Stuttgart) 2020.
ISBN 978-3-608-86127-3.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/26723.php, Datum des Zugriffs 18.01.2025.
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