Héctor Wittwer: Das Leben beenden
Rezensiert von Prof. Dr. Andrea Warnke, 03.06.2020

Héctor Wittwer: Das Leben beenden. über die Ethik der Selbsttötung. mentis Verlag (Paderborn) 2020. 281 Seiten. ISBN 978-3-95743-138-7. D: 29,90 EUR, A: 30,80 EUR.
Thema
In Deutschland besteht die Diskussion um die Sterbehilfe seit vielen Jahren. Sollte es erlaubt sein, Menschen die sterben möchten dabei zu helfen? Die Diskussion um diese Frage ist geprägt von Emotionen und politischen Interessen, eine Spaltung in Gegner und Befürworter erschwert die Debatte über diese ethische Frage.
Das vorliegende Buch möchte zur Versachlichung sowie Differenzierung und Präzisierung der Argumentionen beitragen. Leitfragen des Buchs sind: „Kann es moralisch erlaubt sein, das eigene Leben zu beenden? Kann es moralisch erlaubt sein, einen anderen Menschen bei seiner Selbsttötung zu unterstützen?“ (S. 3). Wittwer bearbeitet diese Leitfragen aus einem philosophischen Blickwinkel.
Autor
Der Autor ist Philosoph und hat seit 2014 eine Professur für Praktische Philosophie an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg inne.
Entstehungshintergrund
Das Buch richtet sich an Menschen, die an tiefergehenden und umfassenden Informationen und Argumenten im Kontext der Problematik der Selbsttötung interessiert sind. Das komplexe Thema wird aus philosophischer Sicht betrachtet und fußt u.a. auf der Dissertationsschrift von Héctor Wittwer „Selbsttötung als philosophisches Problem. Über die Rationalität und Moralität des Suizids“ aus dem Jahre 2003.
Aufbau und Inhalt
Das Buch ist eine wissenschaftliche Monographie mit rund 300 Seiten.
Kapitel 1 bietet eine Einführung in das Problem der Selbsttötung in Geschichte und Gegenwart.
Mit dem § 217 trat in Deutschland Ende 2015 einer neuer Paragraph des Strafgesetzbuchs in Kraft, der die „Geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung“ unter Strafe stellt. Dieser Einführung – und damit Abstimmung im Bundestag – waren viele öffentliche Debatten vorangegangen. Ziel dieser Gesetzesänderung war insbesondere, die Tätigkeit von Sterbehilfeorganisationen (bspw. DIGNITAS-Deutschland) zu untersagen. Der Autor führt das Gesetz und die darin liegenden Problematiken respektive Schwierigkeiten aus. (Anmerkung der Rezensentin: Durch das Urteil vom Bundesverfassungsgericht am 26.02.2020 wurde dieses Verbotsgesetz für verfassungswidrig erklärt). Gründe für einen Suizid variieren je nach Epoche und Kultur – gleichzeitig auch ihre moralische Beurteilung. Anhand von Beispielen werden zunächst die moralischen und politischen Debatten in Deutschland über die Selbsttötung dargelegt. Wittwer fragt im ersten Abschnitt „Worüber wird eigentlich so heftig gestritten? Und warum ist die deutsche Gesellschaft in Bezug auf den Suizid so gespalten?“ (S. 7). Sodann wird der Blick in Länder gelenkt, in denen im Unterschied zu Deutschland die „Hilfe zum Sterben“ legal ist. Der Begriff „Hilfe zum Sterben“ wird von Wittwer als Oberbegriff genutzt und umfasst neben der Sterbehilfe auch die Beihilfe zum Suizid. Die „Hilfe zum Sterben“ ist dabei zu unterscheiden von der „Hilfe beim Sterben“, d.h. der Sterbebegleitung. Zwar ist in den meisten Staaten der Welt „Hilfe zum Sterben“ strafbar, jedoch sind in einigen Ländern Liberalisierungstendenzen vorhanden. In Europa ist dies bspw. die Niederlande („Gesetz über die Kontrolle der Lebensbeendigung auf Verlangen und der Hilfe bei der Selbsttötung“, in Kraft getreten 2002). Der abschließende dritte Abschnitt führt in die Haltung zum Suizid in der griechisch-römischen Antike ein, um zu zeigen, „dass die in der Gegenwart noch immer dominierende Missbilligung der Selbsttötung durchaus nicht zum Kern der abendländischen Kultur gehört“ (S. 7).
Kapitel 2 trägt die Überschrift Grundlagen für die ethische Behandlung des Themas. Wittwer definiert zunächst den Suizid bzw. die Selbsttötung und grenzt diese von anderen (umgangs)sprachlichen Ausdrücken, wie z.B. Freitod und Selbstmord ab. Anschließend legt der Autor die Vielfalt der Selbsttötungen und ihre Bedeutung für die moralische Beurteilung dar. Das Kapitel schließt mit der Auseinandersetzung über die Krankheitsthese, ist es doch gängige Meinung, dass der Wunsch nach Selbsttötung ein Signal für das Vorliegen einer (psychischen) Krankheit oder einer seelischen Störung ist.
Kapitel 3 stellt die Frage „Kann es vernünftig sein, sich zu töten?“ Im ersten Abschnitt wird der Zusammenhang zwischen der Rationalität und der Moralität von Handlungen im Allgemeinen erläutert. Der zweite Abschnitt wird der Begriff der Rationalität näher bestimmt. Das Kapitel endet mit der These des Autors, „dass es durchaus gute Gründe für einen Suizid geben kann und dass es daher rational sein kann, das eigene Leben zu beenden“ (S. 67).
In Kapitel 4 werden die Einwände gegen die mögliche Rationalität des Suizids in den Mittelpunkt genommen, indem die abschließende These des vorangehenden Kapitels wieder aufgegriffen und entsprechende Einwände geprüft werden. Das moralische Recht der Selbstbestimmung und die persönliche Freiheit eines Menschen werden konfrontiert mit der Auffassung, dass dieses Recht bzw. die persönliche Freiheit dort endet, wo ein Mensch irrational handelt respektive sich selbst durch seine Handlung schwerwiegenden Schaden zufügt. Entsprechende geläufige Begründungen dieses Arguments werden vorgestellt und kritisch analysiert. Der Autor führt aus, dass keine dieser Begründungen (z.B. „Denn sie wissen nicht, was sie tun“ sowie „Der Tod ist immer schlecht, weil das Leben immer lebenswert ist“) einer Prüfung standhält und kommt zu dem Schluss, dass nichts dagegen spricht, dass es Gründe für einen Suizid geben kann.
Das Kapitel 5 fokussiert die moralische Beurteilung der Selbsttötung und ihre praktischen Implikationen. Der einleitende Abschnitt dieses Kapitels klärt, was unter dem „Recht, sich zu töten“ verstanden werden kann. Im zweiten Abschnitt vertritt Wittwer die These, „dass es unter bestimmten Umständen moralisch erlaubt ist, das eigene Leben zu beenden“ (S. 137). Er nennt als Bedingungen die Rationalität des Handelnden zum Zeitpunkt der Tat und die Rationalität der Entscheidung selbst. Im dritten Abschnitt vertritt der Autor die These, dass es in anderen Fällen hingegen moralisch geboten ist, „Menschen an einer Selbsttötung zu hindern oder sie, falls sie bereits versucht haben, sich zu töten, am Leben zu erhalten“ (S. 137). Das Kapitel schließt mit dem Abschnitt „Im Zweifel für das Leben, bei Gewissheit für die Freiheit“. Hier führt Héctor Wittwer aus, dass es nicht um eine Entscheidung zwischen den beiden Thesen geht, sondern es jeweils andere Fälle der Selbsttötung betrifft.
Kapitel 6 stellt die Einwände gegen das moralische Recht auf Selbsttötung dar. Es werden exemplarisch Argumente für ein striktes moralisches Suizidverbot vorgestellt, die in der gegenwärtigen Debatte besonders häufig angebracht werden. Beispielsweise wird die religiöse Begründung des Suizidverbots, die Grenzen der Selbstbestimmung und die Krankheitsthese eingegangen.
Kapitel 7 widmet sich der Abgrenzung der ärztlichen Beihilfe zum Suizid von der direkten aktiven Sterbehilfe. Die zentrale These dieses Kapitels lautet, dass es unabdingbar ist, beide Themen (Suizidbeihilfe und Tötung auf Verlangen) separat voneinander zu behandeln und damit auch korrekt zu definieren. „Das Ziel dieses Kapitels besteht in dem Nachweis, dass die Mehrzahl der Argumente, die gegen die direkte aktive Sterbehilfe angeführt werden, nicht gegen die Legalisierung der ärztlichen Beihilfe zum Suizid spricht“ (S. 200).
In Kapitel 8 hält der Autor ein Plädoyer für die Legalisierung der ärztlichen Beihilfe zum Suizid. Zunächst werden über die moralische Zulässigkeit der Suizidbeihilfe und die Bedingungen, die dafür erfüllt sein müssen, gesprochen. Anschließend werden die wichtigsten Einwände gegen die Legalisierung der Beihilfe zum Suizid dargestellt.
Das abschließende Kapitel 9 beinhaltet die Auseinandersetzung mit den Einwänden gegen die Legalisierung der ärztlichen Beihilfe zum Suizid. Nachdem Wittwer in Kapitel 8 die Gründe für die Zulässigkeit einer ärztlichen Beihilfe zum Suizid dargelegt hat, werden in diesem Kapitel die Einwände gegen ihre Legalisierung diskutiert. Der Autor gelangt zu dem Resümee, dass keine der gängigen Einwände gegen die Legalisierung stichhaltig und überzeugend sind.
Héctor Wittwer schließt seine Ausführungen mit einem Fazit und Ausblick und fordert: „Der Paragraph 217 des deutschen Strafgesetzbuches muss so bald wie möglich abgeschafft werden. Stattdessen benötigt Deutschland ein Gesetz, welches die ärztliche Beihilfe zum Suizid unter strengen Auflagen erlaubt“ (S. 271).
Diskussion
Das Für und Wider der Sterbehilfe wird seit Jahren hochemotional diskutiert wird. Die Kluft zwischen Befürwortern und Gegnern ist tief. Sachlichkeit und nachvollziehbare Argumentationslinien sind notwendig, wenn man sich ein begründetes Urteil über die Selbsttötung und Sterbehilfe bilden möchte.
Das 2015 eingeführte Verbot der geschäftsmäßigen Sterbehilfe (§ 217) verstößt gegen das Grundgesetz, so das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in seinem Urteil vom 26.02.2020. Der umstrittene Paragraph, der die geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung unter Strafe stellt, sei verfassungswidrig. Das Urteil ist eine klare Entscheidung für die Selbstbestimmung bis in die letzte Konsequenz. Mit seinem Urteil hat das BVerfG erstmals auch bestätigt, dass aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz) als Ausdruck persönlicher Autonomie ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben erwächst. Hilfe beim Sterben ersetzt nicht Hilfe zum Sterben, so das BVerfG.
Das Buch ist vor dem Urteil des BVerfG erschienen. Nichts desto trotz ist es ein aktuelles und damit relevantes Buch. Es wird dem Anspruch gerecht, einen Beitrag zur Versachlichung der Debatte zu leisten und ermöglicht eine eigene Positionierung, auch wenn die Standpunkte des Autors relevante Säulen des Buches sind. Die Kontroversen sind auch für Nicht-Expert/​innen systematisch aufbereitet. Héctor Wittwer plädiert für das Recht sich selbst zu töten sowie für die Legalisierung des ärztlich assistierten Suizids unter strengen Auflagen (Volljährigkeit, Leiden an einer unheilbaren körperlichen Erkrankung leiden, Zurechnungsfähig nach dem Urteil von Expert/​innen, Aufklärung über die Alternativen zur Selbsttötung). Sicherlich ist das Lesen nicht „in einem Rutsch“ möglich; immer mal wieder weglegen und „sacken lassen“, so ging es zumindest der Rezensentin. Aber, das ist dem Thema und nicht dem Buch mit seiner geballten Information geschuldet. „[D]ie Lektüre des vorliegenden Buches [soll] denjenigen eine Hilfe sein, die sich nur auf oberflächliche Weise mit dem Problem des Suizids beschäftigen möchten, sondern die sich ein wohlbegründetes Urteil über die Zulässigkeit der Selbsttötung bilden möchten.“ (S. 4) Diesem Wunsch wird das Buch – trotz der Komplexität des Gegenstands – sehr gerecht.
Fazit
Hilfe beim Sterben ersetzt nicht Hilfe zum Sterben. Héctor Wittwer plädiert für eine Abschaffung des 2015 eingeführten § 217, das BVerfG hat dies Anfang 2020 bestätigt. Auch nachdem der Paragraph gekippt wurde, ist das Buch zu empfehlen, denn nun muss eben diese Hilfe zum Sterben geregelt werden. Dazu kann das vorliegende Werk einen wertvollen Beitrag leisten, da es umfassende Informationen und Argumente im Kontext der Problematik der Selbsttötung aufzeigt. Ein gelungenes Buch, nicht immer leichtgängig, aber sehr informativ und anregend zur eigenen Positionierung.
Rezension von
Prof. Dr. Andrea Warnke
Professorin für Soziale Arbeit, IU Duales Studium, Hamburg
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Es gibt 24 Rezensionen von Andrea Warnke.
Zitiervorschlag
Andrea Warnke. Rezension vom 03.06.2020 zu:
Héctor Wittwer: Das Leben beenden. über die Ethik der Selbsttötung. mentis Verlag
(Paderborn) 2020.
ISBN 978-3-95743-138-7.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/26734.php, Datum des Zugriffs 04.10.2023.
Urheberrecht
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