Friso Ross, Mario Rund et al. (Hrsg.): Alternde Gesellschaften gerecht gestalten
Rezensiert von Matthias Brünett, 14.07.2020

Friso Ross, Mario Rund, Jan Steinhaußen (Hrsg.): Alternde Gesellschaften gerecht gestalten. Stichwörter für die partizipative Praxis. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2019. 477 Seiten. ISBN 978-3-8474-2272-3. D: 56,00 EUR, A: 57,60 EUR.
Thema
Partizipation ist in modernen demokratischen Gesellschaften sicherlich als Zentralwert anzusehen, der nahezu alle Gesellschaftsbereiche umfasst. Die hier rezensierte Publikation beschäftigt sich mit der Frage, wie Partizipation – genauer: partizipative Praxis – zur gerechten Gestaltung alternder Gesellschaften beitragen kann. Die Autorinnen und Autoren verstehen dabei „partizipative Praxis“ als umfassender und weitergehender als die bloße „Durchsetzung von rechtlichen Ansprüchen auf die Beteiligung des Einzelnen“ (S. 10). Vielmehr wird der Versuch unternommen, eine gelebte Praxis zu skizzieren, die Partizipation als inhärenten Bestandteil von Gesellschaften einbezieht, anstatt sie bloß punktuell zu applizieren.
Herausgeber und AutorInnen
Die Herausgeber: Friso Ross ist Jurist und Professor an der Fakultät Soziales und Gesundheit der Hochschule Kempten. Mario Rund ist Professor für Soziale Arbeit im Gemeinwesen an der Hochschule Darmstadt. Jan Steinhaußen ist Geschäftsführer des Landesseniorenrates Thüringen. Neben den Herausgebern zeichnen 38 weitere Autorinnen und Autoren für die Beiträge verantwortlich.
Aufbau
Der Sammelband enthält auf 477 Seiten insgesamt 34 Einzelbeiträge, die die folgenden Themengebiete behandeln:
- Bildung und Kultur
- Demokratie
- Gemeinwesen und Engagement
- Gesundheit und Pflege
- Kommunen
- Kommunikation und Medien
- Migration
- Mobilität
- Regionalentwicklung
- Religion
- Sozialpolitik
- Stadtentwicklung
- Vorsorge und Lebensende
- Wohnen
Nachfolgend werden zwei Beiträge näher vorgestellt.
Inhalt
„Gesundheitsförderung und Krankheitsprävention“ – Jan Steinhaußen erläutert auf den Seiten 143 bis 164 Grundlagen der Gesundheitspolitik zur, wie der Titel schon ausdrückt, Prävention von Krankheiten und Förderung der Gesundheit. Er führt kurz ein in die paradigmatischen Unterschiede der Begriffe Krankheitsprävention und Gesundheitsförderung und beschreibt danach deren derzeitige Umsetzung in der Gesundheitspolitik. Ein weiterer Abschnitt des Beitrags ist den Präventionspotenzialen im Alter gewidmet. Durch verminderte Resilienz und häufigere chronische Krankheiten sieht der Autor hier vornehmlich sekundär- und tertiärpräventive Ansätze als geeignet an. Nach Ansicht Steinhaußens sei Gesundheitsförderung nicht möglich, da diese sich vornehmlich an Menschen ohne Erkrankungen bzw. Krankheitssymptome richte. Weitere Besonderheit der Situation Älterer seien die zunehmend ausdifferenzierten Lebensentwürfe, Lebenssituationen und Entwicklungsaufgaben im Vergleich zu Jüngeren. Jüngere Menschen sind, in Bezug auf Prävention und Gesundheitsförderung, sehr viel stärker in Institutionen eingebunden (z.B. Kita, Schule und Betriebe). Bei älteren Menschen ist dies vielfach nicht der Fall, was im Hinblick auf die Erreichbarkeit problematisch sein kann. Mit Bezug auf neue Ansätze im Gesundheitswesen plädiert der Autor dafür, nicht ausschließlich reaktiv zu denken, sondern ein proaktives Gesundheitssystem zu entwerfen. Wesentliches Merkmal dessen müssten eine personalisierte Risikoerhebung und ebenso individuell abgeleitete Interventionen sein. Partizipation sei darin insofern wichtig, als Verhaltens- und Lebensstiländerungen immer nur mit den Betroffenen zu erreichen sind, sich also nicht durch Experten einfach verordnen lassen. In partizipativen Präventionsansätzen sieht der Autor nicht zuletzt auch die Möglichkeit, kritischen (und kritisierten) Aspekten von Prävention und Gesundheitsförderung, denen er sich auf den letzten Seiten des Beitrags widmet, gewissermaßen entgegentreten zu können. Die Kritik an Prävention bezieht sich, sehr kurz gesagt, auf die Befürchtung, dass durch eine verabsolutierte Prävention nicht nur negative Zukunftserwartungen konstruiert werden, sondern auch normative Setzungen folgen können, die alles und jeden zum Mittelmaß zwingen, da jegliche Abweichung von der herrschenden Norm eine Pathologisierung beinhalten könnte.
„Altern in digitalen Lebenswelten“ – Anja Hartung-Griemberg beschreibt auf den Seiten 263 bis 271 aus einer medienpädagogischen Perspektive, wie ältere Menschen sich zur fortschreitenden Digitalisierung ihrer Lebenswelten verhalten und welche Optionen dieselbe für ältere Menschen bereithält. Sie geht zunächst auf die Fremdheit als wesentliche Erfahrung älterer Menschen mit medialem Wandel ein. Diese werde u.a. dadurch induziert, dass die Anwendung neuer Medien keine Entscheidung, sondern bereits Zwang sei, da bestimmte Dienstleistungen sehr oft digitalisiert angeboten würden. Als Beispiele dafür nennt sie Onlinedienste von Verwaltungsbehörden oder Banken. Der Zugang älterer Menschen zu neuen bzw. sich ändernden Medien sie demnach weniger von einer grundsätzlichen Neugier, sondern vielmehr von der Frage nach dem Mehrwert einer technischen oder medialen Innovation geprägt. Weiter geht die Autorin auf die Diversität von Lebensstilen und Medienpraxen im Alter ein. In Kürze referiert sie Erkenntnisse zu unterschiedlichen Lebensstilen und ihren Einflüssen auf die Mediennutzung älterer Menschen. Sie schließt mit dem Hinweis, dass „das Alter“ mitnichten als feststehende Kategorie existiert, sondern wie im Alter auch weiterhin (alternative) Identitäten entstehen. Der letzte Teil des Beitrags beschäftigt sich mit Potenzialen und Chancen der Digitalisierung. Hier beschreibt sie vor allem „erweiterte Optionen“ in den Bereichen Bewegung, Begegnung und Artikulation. Erweiterte Bewegungsoptionen sieht sie einerseits in der Unterstützung körperlicher Bewegung durch entsprechende (motivierende o.Ä.) Programme, aber auch in der Erweiterung des Bewegungsradius um den virtuellen Raum. Erweiterte Begegnungsoptionen liegen in der Möglichkeit, auch über größere Distanzen hinweg soziale Kontakte zu pflegen. Erweiterte Artikulationsoptionen sieht die Autorin in der Anwendung neuer Medien, die vorherrschende Altersstereotypen, bspw. „Imperative des Seniorenmarketings“ aufbrechen können.
Der Aspekt der Partizipation wird eher gestreift, interessant wäre hier, Möglichkeiten alltäglicher Partizipation von älteren Menschen zu beleuchten, wie sie bereits in einer Vielzahl von Projekten erprobt wird. Etliche der von der Autorin angeführten Ergebnisse bieten hier ideale Ansatzpunkte.
Diskussion
Der Sammelband vereint eine Vielzahl recht unterschiedlicher Beiträge. Die je nach Verfasserin oder Verfasser unterschiedlichen Perspektiven sind jedoch als Stärke zu sehen.
Die Auswahl der Beiträge ist relevant, aber sicherlich nicht erschöpfend. Den Herausgebern ist dies bewusst, wie sie im Vorwort auch anmerken. Ohnehin ist es ihr Ziel, eine Diskussion anzustoßen, und weniger, Deutungen und „expertokratische […] Antworten“ (S. 9) vorzugeben. Das gelingt ihnen, insbesondere durch die unterschiedlichen fachlichen Perspektiven und Schwerpunkte.
Deshalb ist der Sammelband auch nicht als Glossar oder Ähnliches zu sehen, sondern als Sammlung unterschiedlicher Perspektiven auf das, was partizipative Praxis sein könnte oder sein sollte.
Insofern richtet sich der Sammelband auch an eine breite Leserschaft: Praktikerinnen und Praktiker wie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler dürften hier Interesse haben.
Fazit
Die Beiträge im rezensierten Sammelband leisten, gesamthaft gesehen, einen begrüßenswerten Beitrag zum fachlichen und gesellschaftlichen Diskurs.
Rezension von
Matthias Brünett
MSc. Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Deutsches Institut für angewandte Pflegeforschung (DIP), Köln
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