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Guido Zurstiege: Taktiken der Entnetzung

Rezensiert von Dr. Antje Flade, 12.06.2020

Cover Guido Zurstiege: Taktiken der Entnetzung ISBN 978-3-518-12745-2

Guido Zurstiege: Taktiken der Entnetzung. Die Sehnsucht nach Stille im digitalen Zeitalter. Suhrkamp Verlag (Berlin) 2019. 297 Seiten. ISBN 978-3-518-12745-2. D: 16,00 EUR, A: 16,50 EUR, CH: 23,50 sFr.
Reihe: Edition Suhrkamp - 2745.

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Thema

Es wird ein Blick auf die digitale Gesellschaft geworfen, die sich durch eine permanente Konnektivität und eine weitreichende Überwachung auszeichnet. Dargestellt werden verschiedene Taktiken, wie man sich zur Wehr setzen und die Kontrolle wiedererlangen kann.

Autor

Guido Zurstiege ist Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen.

Aufbau

Das Buch besteht aus sechs (vom Autor nicht nummerierten) Kapiteln inklusive Einleitung und einem Fazit sowie ausführlichen Anmerkungen und einem umfangreichen Literaturverzeichnis. Aus Gründen der Übersicht werden die Kapitel hier nummeriert. 

Inhalte

Zu Beginn der Einleitung, dem ersten Kapitel, wird als Reaktion auf den Verdruss über den Verfall des politischen Diskurses der Medienverzicht genannt. Unter Entnetzung versteht der Autor kommunikative Enthaltsamkeit und die Nichtnutzung von Medien. Daran anknüpfend kommt der Autor auf das Schweigen zu sprechen, das nach Niklas Luhmann nicht das Gegenteil von Kommunikation, sondern Kommunikation mit anderen Mitteln ist. Mit der Nichtnutzung von Medien wird eine Haltung ausgedrückt und das Recht auf kommunikative Selbstbestimmung betont. Der heutige Mediennutzer wird beschrieben als zerrissen zwischen den scheinbar grenzenlosen Möglichkeiten der Vernetzung einerseits und dem Bedürfnis nach Grenzziehung andererseits; er ist „gehetzt, gereizt, gestresst“ (S. 26). Thematisiert werden Freiräume der Nichterreichbarkeit, die Sehnsucht nach Authentizität, das Unbehagen bei der Nutzung digitaler Medien, die vermeintliche Auflehnung der vom Autor so bezeichneten „Apostel der Entnetzung“ und die Erzeugung eines Klimas der Wachsamkeit, die Benefits digitaler Medien wie deren Aktualität, ihrem schier unerschöpflichen Wissen und der Herstellung von Verbindungen. Zurstiege stellt drei Taktiken für den Umgang mit den digitalen Medien vor: die kompromisslose Entnetzung; Lernen, Kompetenzerwerb und Selbstregulierung; temporärer Verzicht. Grundlage der Ausführungen des Autors sind eigene Erfahrungen und Fallstudien. Der Autor bezieht sich auf Michel de Certeau, der zwischen Strategien und Taktiken unterschieden hat. Strategisch operieren die großen Unternehmen, die Nutzer wenden Taktiken an.

Im zweiten Kapitel „Apostel der Entnetzung“ schildert Zurstiege, wie ehemalige Befürworter digitaler Medien ihre Haltung geändert haben und Protagonisten der Tech-Industrie zu Kritikern werden. Tristan Harris, einer der Gründer des Centers für Humane Technology, dessen Ziel das „positive computing“ ist, wird als das personifizierte Gewissen des Silicon Valley bezeichnet. Er setzt auf Reform statt Revolution, einer Möglichkeit, dennoch im Geschäft zu bleiben. Die Kritik des Apostels Jaron Lanier richtet sich auf das Web 2.0, durch das Internetnutzer Online Angebote öffentlich verfügbar machen konnten. Damit begann die Ausbeutung des geistigen Eigentums der Web-2.0-Nutzer sowie die Verletzung des Urheberrechts von Autoren. Howard Rheingold wird genannt, der sich für die Gemeinschaft stiftende Kraft sozialer Netzwerke im Internet begeistert hatte und das Potenzial sozialer Medien immer noch positiv sieht. „Macht mal Pause“ ist das Credo der Organisation Reboot, das 10 Regeln, das „Sabbath Manifesto“, formuliert hat. Ähnlich propagiert die Slow-Media Bewegung einen moderaten Medienkonsum und eine inhaltlich vertiefende Berichterstattung. Der Informatiker Cal Newport setzt sich für einen digitalen Minimalkonsum ein, um ein konzentriertes Arbeiten, das durch Ablenkungen erschwert würde, zu ermöglichen. Allgemeines Ziel ist die Rückkehr zu einer reflektierten Form der Mediennutzung. Als die drei zentralen Problemfelder bezeichnet Zurstiege die wachsende Konnektivität, Hassbotschaften im Internet und Überwachung sowie die Aufhebung der Trennung zwischen Sendern und Empfängern.

Im dritten Kapitel „Konnektivitätsverzicht“ wird das Smartphone mit seinen universellen Einsatzmöglichkeiten, das eine permanente Konnektivität ermöglicht, in den Fokus gerückt. Mobile Medien heißt, dass Medien selbst in den kleinsten Zwischenräumen genutzt werden können. Dass das auch geschieht, liegt daran, dass digitale Medien faszinieren. Sie werden fortlaufend dahingehend optimiert, ihre Nutzer zu begeistern. Umso schwerer fällt der Verzicht. Eine Frage ist auch, wer z.B. in Arbeitsverhältnissen ausreichend Macht besitzt, das Recht auf Nichterreichbarkeit in Anspruch zu nehmen. Eine subtile Form des Verzichts ist, sich eine Maske zuzulegen, hinter der man sich versteckt oder sich so darstellt, dass jede Blöße vermieden wird. Die Nutzer verschaffen sich so einen Panzer, der sie vor Verletzungen und Enttäuschungen schützt. Zurstiege nennt fünf Stressoren, die den Mitgliedern sozialer Netzwerke Konnektivitätsstress bescheren: das Gefühl angekettet zu sein, der Verlust der Privatsphäre, Neid und Eifersucht durch soziale Vergleiche, die Übermittlung verstörender Inhalte und die ständige Überwachung.

Zu Beginn des vierten Kapitels „Digitale Selbstverteidigung“ schildert der Autor die Phänomene des Internet of Things bis hin zum Internet of Toys. Beispiele sind der schlaue Teddy von Google, dessen Augen Kameras sind und der auf Gesten und Sprache reagieren kann, die Apple Watch, die den Gesundheitszustand und das Maß an sportlicher Betätigung protokolliert, und die schlauen Regale in Geschäften, die in ein personalisiertes Shopping münden. Digitale Selbstverteidigung betrifft die defensive Absicherung der eigenen Identität, mit der man digital in Erscheinung tritt; sie ist zugleich der Versuch, sich vor Überwachung zu schützen z.B. mit einem Blackphone, das mit einer speziellen Sicherheitstechnik ausgerüstet ist, anstelle des gängigen Smartphone. Etliche große Netzwerke widmen sich der Bekämpfung von Hasskommentaren und Beleidigungen im Internet. Der Counterspeech-Doktrin, die von der Kraft der Gegenrede ausgeht, steht der Autor skeptisch gegenüber, denn es müssen bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein, damit der Wettbewerb der Argumente funktionieren kann. Es funktioniert z.B. nicht bei Diskussionsforen im Internet. 

Das fünfte Kapitel „Rückzug in die Echokammer“ beginnt mit der Feststellung, dass die Informationsmenge immer größer geworden und der mediale Lärmpegel gestiegen ist. Die Mediennutzer reagieren darauf mit einer Art informatorischem Shutdown. Weil die Nutzer des Internet nicht nur Adressat, sondern auch Quelle der Kommunikation sind, ist zum professionellen Journalismus der Amateurjournalismus dazu gekommen. Jeder kann sich zu Wort melden. Das Ergebnis ist ein information overload mit vielen Einzelperspektiven, widersprüchlichen Informationen, diversen Deutungsversuchen und differierenden Erklärungen. Es gelten neue Aktualitätsmaßstäbe und es entfällt die Notwendigkeit, etwas zu behalten, denn man kann jederzeit im Archiv nachsehen. Zurstiege spricht von einer voranschreitenden Nachrichtenerschöpfung, einer abnehmenden Empathie für das Leiden anderer Menschen und einem „psychic numbing“. Entsprechend wichtig ist die Rückgewinnung der Kontrolle über die Auswahl von Informationen und einem Verweigern von Aufmerksamkeit. Dann folgt ein Perspektivwechsel, indem der Autor auf Fake News, den wütenden Populismus und Verschwörungstheorien zu sprechen kommt.

Das sechste Kapitel „Vorbeugende Selbstfürsorge“ beginnt mit dem Thema Internetsucht. Die Angst vor dem Suchtpotenzial internetbasierter Medienangebote kann ein Motiv sein, vorbeugend auf sie zu verzichten. Ein Problem ist vor allem die Computerspielsucht. Diese Spiele sind zu einer dominierenden Freizeitbeschäftigung geworden. Selbst auferlegte Regeln können hilfreich sein wie z.B. „erst lernen, dann zocken“ (S. 199). Die Einigung auf verbindliche Regeln gehört zu den zentralen Taktiken der Entnetzung.

Das Fazit beginnt mit einer Feststellung: dem Leiden am Lärm der Zeit. Hauptverursacher sind die Medien. Ihr Lärm weckt die Sehnsucht nach Stille. Die sich regende Kritik angesichts des Unbehagens an der herrschenden Medienkultur prallt nicht nur an den großen IT-Konzernen ab, vielmehr münzen sie „die ihnen entgegengebrachte Kritik in lukrative Geschäftsmodelle um“ (S. 232). Damit eine Entnetzung stattfindet, plädiert der Autor für die Nutzung auch analoger Mittel wie z.B. einem Papierkalender sowie allgemein für eine Entschleunigung, die mentale Ressourcen frei macht. 

Diskussion

Grundlage der Ausführungen des Autors sind eigene Erfahrungen und Fallstudien, die nicht repräsentativ sind und deshalb auch keine Rückschlüsse zulassen auf die Häufigkeit derjenigen, die solche Taktiken anwenden, sowie auf die Häufigkeit der Art der Taktiken der Entnetzung. Wie groß der Anteil, der durch das digitale information overload Erschöpften und Gestressten in der Bevölkerung ist, bleibt offen. Die Fallbeispiele und die eigenen Erfahrungen, auf die sich der Autor als Medienexperte stützt, sind nicht repräsentativ für die Gesamtbevölkerung. Es ist durchaus die Frage, ob immer mehr Menschen dazu übergehen, ihre digitalen Geräte mit einem Klebestreifen über der Kamera zu entschärfen, weil sie sich einer möglichen verdeckten Beobachtung bewusst sind, wie der Autor behauptet (S. 34). Eine solche Aussage erfordert eine repräsentative Stichprobe der solche Geräte nutzenden Gesamtbevölkerung.

Dass der Autor von „Aposteln“ spricht, weckt Assoziationen, dass hier gepredigt wird und etwas verkündet wird, an das man einfach glauben muss. Mit Wissenschaft scheint das nichts zu tun zu haben, es ist eine Glaubenssache. Die von Zurstiege genannten „Apostel“ scheinen jedoch kompetente Wissenschaftler zu sein. 

Das Verhandeln der Eltern mit den Kindern über die Nutzung digitaler Medien wird vom Autor unter Konnektivitätsverzicht verbucht. Er ist eher eine Frage der Erziehung. Auch die von der Wirklichkeit abweichende „glatte“ Selbstdarstellung in den sozialen Medien ist kein Verzicht, sondern ein treffendes Beispiel für eine Taktik in Form eines Abwehrmechanismus. Ein zentraler Punkt: die Unmöglichkeit angesichts einer permanenten Konnektivität selbstbestimmt zwischen Nähe und Distanz zu wechseln, also fehlende Privatheit, wird durchaus als Stressor genannt, doch die psychologische Bedeutung nicht ausreichender Privatheit z.B. für die Festigung der Ich-Identität bleibt etwas unterbelichtet. Die digitale Selbstverteidigung, um die es im vierten Kapitel geht, setzt beim Internet der Dinge ein. Es erstaunt jedoch, dass der Autor nicht bis zum Smart Home vordringt, das sich im Unterschied zu den schlauen Regalen im Supermarkt auf die private Sphäre des eigenen Zuhause bezieht, wo Überwachung und Kontrollverlust entsprechend schwerer wiegen.

Unter der Überschrift „Theorie der Verschwörung“ im Kapitel „Rückzug in die Echokammern“ erwartet man mehr als nur Bemerkungen über den wütenden Populismus, nämlich eine tieferreichende Analyse dieses Phänomens. Zurstiege berichtet über Fake News und Verschwörungstheorien, ohne sich zu fragen, inwieweit eine objektive, das wirkliche Geschehen genau abbildende Berichterstattung überhaupt möglich und nicht nur eine Wunschvorstellung ist. Der Autor vertritt die These, dass das digitale Überangebot zu einem psychic numbing führt, was er anhand einzelner Beispiele belegt. Dem lässt sich die These gegenüberstellen, dass eine gezielte kompetente Mediennutzung den Horizont erweitert und davor schützt, in einer Echokammer zu landen. Um das entscheiden zu können, bräuchte man empirische Befunde, die über Fallstudien hinausreichen. Wer wütend über die Medien ist, könnte entweder darauf verzichten oder die Berichterstattung in unterschiedlichen Medien vergleichen. 

Die vorbeugende Selbstfürsorge, von der im sechsten Kapitel die Rede ist, knüpft an der Faszinationskraft der Medien und einem darauf basierenden Suchtverhalten an. Die Angst vor dem Suchtpotenzial internetbasierter Medienangebote kann ein Motiv sein, auf sie zu verzichten. Doch dies ist sicherlich keine Taktik der Entnetzung, sondern eher ein Rettungsversuch. Der suchtähnliche Mediengebrauch ist das genaue Gegenteil des Medienverzichts. Hier drängt sich geradezu ein Vergleich der Verzichtenden und der Süchtigen auf. Was unterscheidet die beiden Gruppen und welche speziellen Taktiken sind nach dem Ergebnis dieses Vergleichs zu empfehlen, um von der Sucht zu befreien? 

Im Fazit wird ein „Leiden am Lärm der Zeit“ konstatiert, woraus der Autor auf eine Sehnsucht nach Stille schließt. Hier tauchen indessen einige Fragen auf: Ist sensorische Stimulation immer schon Lärm? Und wer leidet eigentlich? Und sehnt er sich deshalb nach Stille? Gibt es nicht auch eine Angst vor der Leere angesichts eines Mangels an authentischen realen Erfahrungen? Wie verträgt sich das Leiden mit der Mediensucht und der Faszinationskraft der Medien? Gerade die Faszination ist ein Punkt, dem man auf den Grund gehen müsste, denn wenn die Medien nicht faszinieren würden, würde man sich davon kaum vereinnahmen lassen. Wie die umweltpsychologische Forschung belegt, ist Faszination ein wichtiger Erholfaktor: Wenn z.B. eine Fernsehserie oder ein Computerspiel die unwillkürliche Aufmerksamkeit auf sich zieht, kann sich der Mechanismus der gerichteten Aufmerksamkeit regenerieren. Ein Verzicht auf Faszination könnte somit in manchen Fällen sogar kontraindiziert sein.

Fazit

Abgesehen von einigen Kritikpunkten ist das Buch ein wertvoller Beitrag zur aktuellen Diskussion, die Nutzung digitaler Medien betreffend. Es ist die Grundfrage, wie Menschen etwas über die Welt erfahren. Weil es eine Überfülle an Ereignissen ist, über die berichtet wird, stellt sich die Frage, wie sich der einzelne Mensch vor einem Kontrollverlust angesichts eines durch die Digitalisierung noch vermehrten information overload schützen kann. Kann der Verzicht auf Medienkonsum eine empfehlenswerte Taktik sein? Diese Frage wird von verschiedenen Seiten aus beleuchtet. Auch wenn Grundlage der Aussagen eigene Erfahrungen des Autors sowie das Medienverhalten der Menschen im Umfeld des Autors sind, sodass eine Generalisierung der Befunde auf die Bevölkerung insgesamt nicht möglich ist, so ist das Buch doch außerordentlich informativ. Es verdient eine große Leserschaft.

Hamburg, 18. April 2020

Rezensentin: Dr. Antje Flade

Rezension von
Dr. Antje Flade
Autorin und Psychologin
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Zitiervorschlag
Antje Flade. Rezension vom 12.06.2020 zu: Guido Zurstiege: Taktiken der Entnetzung. Die Sehnsucht nach Stille im digitalen Zeitalter. Suhrkamp Verlag (Berlin) 2019. ISBN 978-3-518-12745-2. Reihe: Edition Suhrkamp - 2745. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/26755.php, Datum des Zugriffs 20.09.2024.


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