Bernhard Langner: Beziehungsgestaltung in der Pflege von Menschen mit Demenz
Rezensiert von Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind, 09.11.2020
Bernhard Langner: Beziehungsgestaltung in der Pflege von Menschen mit Demenz. Praxisleitfaden zum Expertenstandard. Springer (Berlin) 2020. 166 Seiten. ISBN 978-3-662-59688-3. D: 34,99 EUR, A: 35,97 EUR, CH: 39,00 sFr.
Thema
Im März 2018 wurde vom Deutschen Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege (DNQP) an der Hochschule Osnabrück der Expertenstandard Beziehungsgestaltung in der Pflege von Menschen mit Demenz im Selbstverlag veröffentlicht. Diese Publikation stieß in den einschlägigen Fachkreisen auf große Resonanz u.a. in Gestalt von vielen Veranstaltungen, Fortbildungen und Seminaren. Darüber hinaus entstanden Publikationen zur Erläuterung und Veranschaulichung der Inhalte. Die vorliegende Veröffentlichung lässt sich dieser Rubrik zuordnen.
Autor
Bernd Langner ist Altenpfleger und Qualitätsmanager. Er leitet das Qualitätsmanagement in mehreren stationären Einrichtungen.
Aufbau und Inhalt
Das Buch ist in zehn Kapiteln untergliedert.
Kapitel 1 (Ausgangslage und Blick in die Zukunft, Seite 1 - 5) beinhaltet in knappen Worten die demografische Entwicklung in Deutschland unter dem Aspekt der Epidemiologie der Demenzerkrankungen und das zentrale Moment der Beziehungsgestaltung in der Pflege und Betreuung Demenzkranker im fortgeschrittenen Stadium.
In Kapitel 2 (Die eigene Haltung, Seite 7 - 13) werden unterschiedliche stationäre und ambulante Typen der Versorgung anhand von konkreten Beispielen aus Deutschland, der Schweiz und den Niederlanden vorgestellt: u.a. ein Demenzpflegeheim aus der Schweiz, eine Demenzstation in einem Akutkrankenhaus, eine ambulant betreute Demenzwohngemeinschaft und eine ambulante wohnortsorientierte Versorgungseinrichtung mit dem Schwerpunkt der Einbindung ehrenamtlicher Helfer aus den Niederlanden.
In Kapitel 3 (Welche Haltung nehmen Mitarbeitende zu Menschen mit Demenz ein? Seite 15 - 18) wird der Fragebogen „Approach to Dementia Questionnaire“ (ADQ) vorgestellt. Hierbei handelt es sich um ein Instrumentarium zur Ermittlung der Einstellung zu Demenzkranken mittels „hoffnungsbasierter“ und „personzentrierter“ Fragestellungen.
Kapitel 4 (Selbsterfahrungen zu den Gefühlen eines Menschen mit Demenz, Seite 19 - 28) beinhaltet die Beschreibung des Sensibilisierungspakets „Hands-on Dementia“, einem „Demenzsimulator“ mittels der Szenarien von 13 Alltagssituationen zwecks Vergegenwärtigung der Symptome einer Demenz. Es folgt die Erläuterung des Konzepts „Instant Aging“ unter Zuhilfenahme eines „Alterssimulationsanzugs“ für Medizinstudenten und das Projekt „Schattenmann“ für Pflegende und Betreuende, die in den „Schattentagen“ einen Rollenwechsel bezüglich ihrer Alltagskompetenzen vornehmen.
Kapitel 5 (Der Expertenstandard „Beziehungsgestaltung in der Pflege von Menschen mit Demenz“, Seite 29 - 113) lässt sich als eine Zusammenfassung des oben angeführten Expertenstandards bezeichnen.
Zu Beginn werden Erwartungen an die Pflegenden formuliert: eine „personzentrierte Haltung“ und Wissensstände über die Erkrankung und den Umgang mit den Betroffenen bei der Pflege, Betreuung einschließlich der anschließenden Bewertung dieser Maßnahmen. Es wird betont, dass der Expertenstandard nicht die demenzspezifischen Krankheitssymptome der Wahrnehmung und des Verhaltens mitsamt dem damit verbundenen Spektrum an pflegerischen und betreuerischen Interventionen bzw. Präventionsmaßnahmen zum Inhalt hat. Es folgen u.a. Ausführungen über die Kernelemente des „personzentrierten Ansatzes“ von Tom Kitwood (u.a. die 17 Faktoren der „malignen Sozialpsychologie“), die sechs neurokognitiven Bereiche des medizinischen Diagnostikinstrumentariums „Diagnostic und Statistical Manual of Mental Disorders“ (DSM-5) bezüglich der Demenz mit Fallbeispielen und anschließend weitere Assessmentinstrumente (u.a. Mini-Mental-State und CERAD).
Von den Pflegenden werden u.a. folgende Wissensstände („Fachkräftewissen“) erwartet: Formen der Kommunikation und Interaktion (verbal, paraverbal und nonverbal) bezugnehmend auf Paul Watzlawick, Demenzformen in Anlehnung an die „S3-Leitlinie Demenz“ mit dem Schwerpunkt Alzheimerdemenz, die Wirkungsweisen von Medikamenten bei Demenzkranken mit dem Schwerpunkt Nebenwirkungen und die Teamarbeit als eine Entwicklungsaufgabe mitsamt ihren verschiedenen Stadien und Konfliktpotenzialen. Den Abschluss bilden die Aufgaben und Erwartungen an eine gerontopsychiatrische Fachkraft bzw. an eine Fachkraft für Demenz im Krankenhaus bezüglich der Fortbildungs- und Zusatzausbildungs- und Koordinierungsaufgaben.
Ausführlich wird die „Verstehenshypothese“ des „Expertenstandards“ beschrieben, die überwiegend auf einem bedürfnisorientierten Konzept basiert: NDB-Modell („Need-Driven dementia-compromised Behavior“) nach Kolanowski. Nach diesem Ansatz beeinflussen bestimmte Einflussfaktoren (der neurologischer und sozialer Status, Gesundheitsaspekte, körperliche und psychische Bedürfnisse, personelle und räumliche Umgebung und psychosoziale Variablen) das Verhalten der Demenzkranken. Diese „verstehende Diagnostik“ sollte möglichst im Rahmen einer interdisziplinären Fallbesprechung unter Einbeziehung des „innovativen demenzorientierten Assessments“ (IdA) vollzogen werden. Das „IdA“-Instrument ist in zwei Bereiche unterteilt: „Erfassung des herausfordernden Verhaltens und seiner Effekte“ und dem Bereich der Ursachen für diese demenzspezifischen Verhaltensweisen mittels 14 Leitfragen (u.a. kognitiver und körperlicher Zustand, Kommunikationsfähigkeit, Persönlichkeit und Lebensstil).
Eine weitere Kernaufgabe für die Pflegefachkräfte besteht aus den Arbeitsfeldern Information, Anleitung und Beratung zu Fragen der Beziehungsgestaltung für Mitarbeiter, Demenzkranke im frühen Stadium und auch für Angehörige u.a. mittels Schulung und auch Erstellung von entsprechendem Informationsmaterial. Hierbei werden auch alltagsgeschichtliche Aspekte wie die Moden, Lieder und Schlagermusik aus der Zeit der 30er und 40er Jahre des vorigen Jahrhunderts, also aus der Kinder- und Jugendzeit der Demenzkranken, vermittelt, u.a. um Anknüpfungspunkte für Gespräche und Beschäftigungsangebote zu verfügen.
Ein weiterer Abschnitt des Kapitels beinhaltet „Maßnahmen der Beziehungsförderung und -gestaltung“. Zu Beginn werden kurz Gruppenaktivitäten wie Musik, Gymnastik und Kegeln angeführt. Es folgen übersichtsartig Beschreibungen teils mit Fotos versehen die Angebote Reminiszenzarbeit, Beschäftigungswagen, Klinikclowns, 10-Minuten-Aktivierung, Malen, Andachten und Gottesdienste. Des Weiteren werden u.a. Beispiele aus den Bereichen des Alltäglichen mit den Schwerpunkten Muße, Lebensweltorientierung, Wahrnehmungsförderung, Haustiere und auch Puppen und Stofftiere aufgelistet. Auch die Vorgehensweisen Snoezelen, basale Stimulation, Validation und Realitätsorientierungstraining (ROT) werden erwähnt. Den Abschluss bilden Überlegungen zu den teils kontrovers diskutierten Themen „therapeutische Lüge“, Duzen und Siezen.
Im abschließenden Abschnitt geht es um die Evaluation dieser Maßnahmen gemäß der Bewertungskriterien „Bedürfnisse und Vorlieben“, „Stimmung und Affekt“, „Beziehung und Interaktion“, „Betätigung und Eingebunden-Sein“, „Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit“ und „Reflexion der Tätigkeit“.
In Kapitel 6 (Kann ich Wohlbefinden messen?, Seite 115 - 125) wird die Thematik Wohlbefinden bei Demenzkranken anhand der Beschreibung folgender Erfassungsinstrumentarien bearbeitet: das Heidelberger Instrument zur Erfassung der Lebensqualität demenzkranker Menschen (H.I.L.D.E.), Dementia Care Mapping (DCM) und das „Profil für Wohlbefinden“.
Kapitel 7 (Was das Wohlbefinden stört, Seite 127 - 138) enthält Faktoren, die aus der Sicht des Autors zu einer Beeinträchtigung des Wohlbefindens bei Demenzkranken im fortgeschrittenen Stadium führen: die Reizgestaltung des unmittelbaren Umfeldes zwischen den Extremen Reizüberflutung und sensorischer Deprivation. Des Weiteren wird als Belastungselement die Inkontinenz angeführt, wobei hierbei zwischen der „funktionelle Inkontinenz“ und der durch den hirnorganischen Abbauprozess im schweren Stadium verursachten Inkontinenz auch hinsichtlich des Belastungserlebens unterschieden wird. Auch Hunger, Durst und Kälte neben Schmerzen beeinträchtigen das Wohlbefinden der Demenzkranken. Bezüglich der Schmerzen werden die folgenden Schmerzerfassungsinstrumentarien übersichtartig angeführt: die „BESD-Skala“, die „DoloPlus-Skala“ und die „Pain Assessment In Impaired Cognition-Scale“.
Kapitel 8 (Ideen für eine nachhaltige Umsetzung, Seite 139 - 145) listet zusammenfassend die Methoden und Vorgehensweisen auf, die für die Umsetzung des Expertenstandards in den Einrichtungen erforderlich sind: Audit (u.a. Dokumentationsanalyse, Fragebogen für die Mitarbeiter und für die verantwortliche Pflegefachkraft), Fortbildungen zu den einzelnen Aspekten des Expertenstandards und eventuell zu weiteren Themenbereichen (u.a. Validation, Basale Stimulation und Snoezelen), Mitarbeitervisiten, Fallbesprechungen u.a. zur Reflektion der Beziehungsgestaltung zu den Demenzkranken, Vorleben (Vorbildfunktion der leitenden Mitarbeiter der Pflege) und Reflexionsrunden zur Beziehungsgestaltung.
In Kapitel 9 (Dokumentation, Seite 147 - 155) befasst sich der Autor mit verschiedenen Konzepten der Dokumentation im Rahmen der Demenzpflege. Zu Beginn wird die Dokumentation mit dem „Strukturmodell“ des Expertenstandards in wenigen Worten angeführt, es folgt relativ ausführlich die „fördernde Prozesspflege“ nach dem ABEDL-Modell („Aktivitäten und existentielle Erfahrungen des Lebens“) von Monika Krohwinkel und den Abschluss bildet das ATL-Modell („Aktivitäten des täglichen Lebens“) von Liliane Juchli.
In Kapitel 10 (Warum es sich lohnt, in Beziehung zu treten, Seite 157 – 161) berichtet der Autor abschließend u.a. seine Eindrücke und Erfahrungen mit der Einführung des Expertenstandards in seiner Einrichtung.
Diskussion
Dem Autor ist es gelungen, neben einer Reihe ergänzender und teils vertiefender Ausführungen die wesentlichen Aspekte des Qualitätsstandards angemessen zusammenzufassen.
Aus der Sicht des Rezensenten besitzt ein Qualitätsstandard die Funktion eines Handlungs- und Orientierungsrahmen für die Praxis. Das erfordert als Grundlage den Stand der Forschung auf dem jeweiligen Gebiet. Diesem Anspruch wird der vorliegende Qualitätsstandard aus folgenden Gründen nicht gerecht:
Der Standard basiert auf einer abstrakten Vorstellung von einem „Person-sein“ auf der Grundlage von Autonomie und Selbstbestimmung im Rahmen einer so genannten „Person-zentrierten Pflege von Menschen mit Demenz“ (Seite 30 des Originals). Damit wird explizit eine normativ-ideologische Denkrichtung im Umfeld der „humanistischen Psychologie“ mit den Ideen Tom Kitwoods ins Zentrum dieser Ausführungen gestellt. Mit dieser Sichtweise lassen sich jedoch keine neurodegenerativen Erkrankungen wie die Demenzen einschließlich des Umgangs mit den einschlägigen Krankheitssymptomen erklären. Es fehlt somit das neurowissenschaftliche Substrat als Bezugsrahmen. Dieses Defizit manifestiert sich deutlich in der Nichtberücksichtigung des degenerativen Abbauprozesses der Demenz mit seinen Implikationen für den Umgang mit den Erkrankten.
Die fehlende Demenzspezifität für die Theorie und auch für die Praxis äußert sich u.a. auch in der fehlenden Erfassung und Bearbeitung der Krankheitssymptome der Wahrnehmung und des Verhaltens gemäß den Aspekten Pflege und Betreuung. Die Begrifflichkeit „Beziehungsgestaltung“ verbleibt damit in der Sphäre des Abstrakten und vermag dadurch keine Wirkkraft hinsichtlich einer Handlungsleitung zu entwickeln.
Das Manko der Praxisferne zeigt sich auch in dem Unvermögen, die „Spreu vom Weizen“ bei den vielen Konzepten und Ansätzen in der Demenzpflege zu trennen. Es werden übersichtsartig zwar diverse Modelle beschrieben, doch die neurowissenschaftliche Analyse und Bewertung entsprechend eines Wirksamkeitsnachweises wird nicht geleistet.
Fazit
Es kann das Fazit gezogen werden, dass auf der Grundlage neurowissenschaftlicher Erkenntnisse kein praxisorientiertes Rahmenkonzept im Sinne eines Standards für die Praxis vor Ort entstanden ist. LeserInnen hingegen, die den Vorstellungen einer „Person-zentrierten Pflege“ nahestehen bzw. hiervon überzeugt sind, werden in der Publikation eine fundierte Zusammenfassung in Gestalt einer Kurzfassung vorfinden.
Rezension von
Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind
Gerontologische Beratung Haan
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Zitiervorschlag
Sven Lind. Rezension vom 09.11.2020 zu:
Bernhard Langner: Beziehungsgestaltung in der Pflege von Menschen mit Demenz. Praxisleitfaden zum Expertenstandard. Springer
(Berlin) 2020.
ISBN 978-3-662-59688-3.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/26773.php, Datum des Zugriffs 02.11.2024.
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