Ulrike Bingel, Manfred Schedlowski et al.: Placebo 2.0
Rezensiert von Prof. Dr. Dr. Hans-Peter Heekerens, 06.05.2020

Ulrike Bingel, Manfred Schedlowski, Helga Kessler: Placebo 2.0. Die Macht der Erwartung.
rüffer & rub Sachbuchverlag
(Zürich) 2019.
304 Seiten.
ISBN 978-3-906304-40-3.
D: 33,50 EUR,
A: 34,50 EUR,
CH: 38,00 sFr.
Reihe: Medizin.
Vorbemerkungen
Zum vorliegenden Buch sind einige Vorbemerkungen nötig, um möglichen Irritationen zu wehren oder bereits entstandene Missverständnisse aufzuklären. Die obige Literaturangabe folgt jener der Deutschen Nationalbibliothek und deckt sich mit der des hier betrachteten Rezensionsexemplars, dessen Inhaltsverzeichnis mit dem der Deutschen Nationalbibliothek übereinstimmt. Man sollte das für absolut überflüssige Angaben halten, gäbe es nicht mancherlei Anlass zu solchen Bemerkungen.
Fangen wir beim Titel an. Mein Rezensionsexemplar wurde mir zugesandt von Brockhaus/​Commission mit der Kurztitelangabe „Placebo 2.0 – Die Macht positiver Erwartung“. „Positive Erwartung“ statt „der Erwartung“. Wer hier nur die verzeihliche Fehlleistung einer Mitarbeiterkraft sieht, irrt. Wer das Buch bei amazon bestellen will, was in COVID-19 – Zeiten mehr als verständlich ist, findet dort den Titel „Placebo 2.0: Die Macht positiver Erwartung“ selbst auf einer Cover-Abbildung. Die Gegenkontrolle beim Verlag (https://www.ruefferundrub.ch/buecher/​) trägt nichts zur Aufklärung bei. Soweit zur Titel(ei)-Frage.
Was das Personal anbelangt, darf man einen neuen Rätselgarten durchstreifen. Die Deutsche Nationalbibliothek hat alle drei oben genannten Personen als „Autor(inn)en“ eingestuft. Das kann man so sehen – und dieser Sichtweise stehen entsprechenden Verlagsangaben nicht entgegen: Dort wird bei Aufzählung der drei nicht nach Funktion differenziert. Statt von ihnen als „Autor(innen)“ zu sprechen, findet sich in der Betrachtung von außen allerdings auch die Redeweise „Herausgeber(innen)“ – so etwa bei der meinungsbildenden Wissenschaftsjournalistin Corinna Hartmann (2020a, 2020b).
Also wie nun: „Autor(inn)en“ oder „Herausgeber(innen)“? Das Buch selbst gibt dazu eindeutig zweideutige Antworten. Umschlag und Titelblatt führen alle drei Namen ohne den Zusatz „Hrsg.“ auf. Allerdings ist die Aufzählung graphisch interessant gestaltet: Nach den beiden ersten Namen folgt vor dem dritten, Helga Kessler, eine Leerzeile. Und wenn man ins Buchinnere blickt, sieht man da ein „Vorwort der Herausgeber“ (S. 9–11), die es ja gar nicht geben dürfte und deren Kreis auf Ulrike Bingel und Manfred Schedlowski beschränkt ist. Helga Kessler wird in deren Vorwort angesprochen als „Autorin“ (S. 11), der „für ihre exzellente konzeptionelle Unterstützung und akribische redaktionelle Arbeit“ (S. 11) gedankt wirkt.
Man könnte das Ganze ja unter „Komödienstadel“ abtun, gäbe es da nicht ein sehr ernstes Problem: Man weiß nicht, aus wessen Feder die meisten Textstücke des Buches stammen. Wer hat in zahlreichen Fällen die Interviews geführt? Wer hat die im Buch zu findenden Porträts (von wem?) für bedeutsam gehaltenen Personen erstellt? Von wem stammen all die Texte, die den größten Teil des Buches ausmachen? Das ist nach üblicher Anschauung nicht der Job von Herausgeber(inne)n. Andererseits ist das etwas gänzlich anderes als „konzeptionelle Unterstützung“ und „redaktionelle Arbeit“, als welche die Tätigkeit der „Autorin“ Helga Kessler ausgeben wird. Gibt es da ungenannte Ghostwriter? Auf jeden Fall: Als „zitierfähig“ nach üblichen wissenschaftlichen Kriterien fällt das Buch zum größten Teil aus; man weiß einfach meist nicht, wen man da zu zitieren hätte.
Dann ist da noch etwas. Es gibt offensichtlich vom vorliegenden Buch unter derselben ISBN und jeweils als „Erste Auflage“ gekennzeichnet, (zumindest) zwei Varianten. Da ist einmal die mir und (offensichtlich) der Deutschen Nationalbibliothek vorliegende (bundesdeutsche). Und gibt es allem Anschein nach eine zweite (Schweizer), die vom Verlag als „Leseprobe“ in der online-Präsentation des Buches (https://www.ruefferundrub.ch/buecher/) geboten wird. Zwei Unterschiede fallen auf. Zum einen stehen in der „Schweizer“ Variante die (insg. neun) Personenporträts vor dem eigentlichen Text, während sie für die „bundesdeutsche“ Variante (aus meist unerfindlichen Gründen) über das Buch verstreut sind.
Der zweite Unterschied zwischen der „Schweizer“ und der „bundesdeutschen“ Buch-Variante: Bei der „Schweizerischen“ findet sich auf der Innenseite des Titelblattes die Notiz „Der Verlag, die Autorin und die Herausgeber bedanken sich für die großzügige Unterstützung bei nicht namentlich genannt sein wollenden Freunden“. In Geld-Dingen geht Schweizern Diskretion über alles. In der Variante für die Bundesrepublik Deutschland, wo man Transparenzregeln pflegt, wird Ross und Reiter genannt: „Der Verlag bedankt sich bei Dr. Willmar Schwabe GmbH & Co KG, Karlsruhe Deutschland“. Besagte Gesellschaft ist nach Eigenangabe „ein Weltmarktführer bei der Entwicklung und Herstellung von pflanzlichen Arzneimitteln, den sogenannten Phytopharmaka“ (https://www.schwabe.de/ueber-uns/​qualitaet/). Man darf sich zu der Angelegenheit seine Gedanken machen.
Thema
Das Thema des Buches ist zunächst einmal „Placebo“: seine praktische Bedeutung und wissenschaftliche Erforschung, seine Wirkung und Wirkmechanismen, seine Beachtung und Ignorierung in unterschiedlichen Disziplinen, Professionen und Praxisfeldern. Aber der Titel des Buches ist nun einmal nicht einfach „Placebo“, sondern demonstrativ „Placebo 2.0“. Was hat es damit auf sich? Die potentielle Leserschaft erfährt hier eine neue Verwirrung.
Was ist mit „Placebo 2.0“ gemeint? Der Verlag hat da eine klare Meinung. In seiner Buchankündigung (https://www.ruefferundrub.ch/buecher/​) heißt es: „Mit ‚Placebo 2.0‘ erscheint ein Standardwerk, das das Thema Placebo aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln beleuchtet. Das Buch eröffnet damit neue Horizonte, denn es umfasst nicht nur die klinische Placeboforschung, sondern untersucht auch Placeboeffekte im Alltag, zum Beispiel im Marketing, in der Kunst und im Sport.“ Das also soll „Placebo 2.0“ signalisieren: dass die engen Grenzen eines „klinischen“ – sprich: auf heilkundliche Tätigkeit beschränkten – Konzeptes von „Placebo“ überschritten, ja überwunden werden. Wie ernst es dem Verlag mit diesem Anliegen ist, erkennt man daran, dass in der „Schweizer“ wie der „bundesdeutschen“ Buchvariante, auf dem Umschlag wie dem Titelblatt aufgedruckt ist: „Medizin/​Sport/​Werbung/​Bildung/​Kunst“.
Im Sinne von Ulrike Bingel und Manfred Schedlowski ist das nicht. Die formulieren in ihrem „Vorwort“: „Genau das ist mit ‚Placebo 2.0‘ gemeint, Placeboeffekt + Medikament = bessere Wirkung. Nicht Placebos, sondern Placeboeffekte nutzen. Und seinen bösen Zwilling, die Nocenoeffekte meiden“ (S. 10). Das gilt freilich nur für einen sehr engen Geltungs- und Praxisbereich: für „jede Art von medizinischer Behandlung“ (S. 10).
Zwischen beiden Auffassungen von „Placebo 2.0“ liegt nicht etwa nur ein Unterschied, sondern ein Widerspruch vor. Und der, das sei gleich hier vorweg angemerkt, zerreißt das Buch.
Autorenschaft (man sei obiger Hinweise eingedenk)
Ulrike Bingel. Das Deutsche Ärzteblatt vermeldete vor einem Dutzend an Jahren, also im Jahre 2008 Folgendes: „Der Anteil von Frauen in der Spitzenforschung ist in Deutschland noch immer vergleichsweise gering. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung will deshalb die Karrierechancen von Frauen verbessern – unter anderem mit einem Förderprogramm für Neurowissenschaftlerinnen. Zu den fünf ausgezeichneten Forscherinnen zählt Dr. med. Ulrike Bingel (33), Neurologin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf und wissenschaftliche Mitarbeiterin am dortigen Institut für systemische Neurowissenschaften. Sie erhält 1,3 Millionen Euro für ein Forschungsprojekt zu Schmerzverarbeitung und -wahrnehmung“ (https://www.aerzteblatt.de/).
Inzwischen kann man auf der Homepage des Universitätsklinikums Essen von einem dortigen „Bingel Lab“ (https://www.uk-essen.de) lesen, das die Informationsverarbeitung im menschlichen Schmerzsystem experimentell erforscht. Unter Leitung von Ulrike Bingel, die 2013 als erst 38-Jährige die Professur für Funktionelle Bildgebung an der Medizinischen Fakultät der Universität Duisburg-Essen übernommen hat – während sie seither zugleich die Schmerzambulanz der Klinik für Neurologie am Universitätsklinikum Essen leitet.
Ebenfalls am Universitätsklinikum Essen beschäftigt ist der Psychologe Manfred Schedlowski, der dort für das Institute of Medical Psychology als Managing Director (https://www.uk-essen.de/) ausgewiesen ist. „Der Schwerpunkt seiner Forschung liegt auf der Analyse der funktionellen Verbindungen zwischen dem Nervensystem, dem Hormonsystem und dem Immunsystem. Mit seiner Arbeitsgruppe untersucht er das Phänomen der klassischen Konditionierung von Immunfunktionen und analysiert die neurobiologischen und biochemischen Mechanismen sowie die klinische Bedeutung der Placebo- und Noceboantwort“ (https://www.hexal.de/).
Von Helga Kessler erfährt man im vorliegenden Buch nichts. Das kann man zunächst einmal unter „Schwyzer Discretion“ verbuchen, fragt sich dann aber, weshalb man den Namen der Dame überhaupt aufführt? Das indiskrete Internet erlaubt Einblicke. So kann man etwa beim Rüffer & Rub Sachbuchverlag, mit dem Helga Kessler seit einem Buchprojekt im Jahr 2009 verbunden ist, lesen: „Helga Kessler, 1956, studierte Biologie und Chemie. Sie arbeitete als Wissenschaftsjournalistin u.a. für die ‚Badische Zeitung‘ in Freiburg, ‚Die Zeit‘ in Hamburg und den ‚Tages-Anzeiger‘ in Zürich. Derzeit ist sie als freie Journalistin tätig, als Textcoach für Unternehmen sowie als Dozentin für Journalismus am Institut für Angewandte Medienwissenschaft in Winterthur“ (https://www.ruefferundrub.ch/).
Aufbau und Inhalt
Den Kern des Buches machen zehn gleich noch näher zu betrachtende Kapitel aus. Diesem Buchkern voran steht das schon erwähnte „Vorwort der Herausgeber“, dem ein Geleitwort des in solchen Zusammenhängen offenbar unvermeidlichen Eckart von Hirschhausen folgt, in dem nichts falsch, aber dem halbwegs informierten Leser auch nicht unbekannt ist. Danach folgen Porträts der Herausgebenden. Die anschließenden zehn Kapitel haben folgende Titel und Inhalte.
Im 1. Kapitel Placebo und Nocebo werden Wirkmechanismen und Formen von Placebos und Nocebos beschrieben, ein Blick auf die Geschichte der Heilkunde unter dem Gesichtspunkt „Placebo“ geworfen sowie Fragen künftiger Placeboforschung benannt.
Der Inhalt von Kapitel 2 Placeboeffekte in der Medizin besteht aus zwei unterscheidbaren Teilen. Zum einen der genauen Darstellung dreier Therapievarianten: „Placebo als Wirkverstärker“, „Placebos offen geben“ und „Den Placeboeffekt trainieren“ und zum anderen der Erörterung gesundheitspolitischer und ethischer Fragen.
Mit Noceboeffekte in der Medizin wird im 3. Kapitel ein Aspekt ärztlichen Handelns angesprochen, der selbst im Bewusstsein der Placobo-Kenner wenig präsent ist: Die Macht der Erwartung kann eben auch negativ sein.
Über Die Mechanismen hinter dem Effekt, der als Nocebo oder als Placebo in Erscheinung treten kann, klärt Kapitel 4 auf.
Kapitel 5 Klinische Studien ist eine in Details von Untersuchungsdesigns gehende und damit anspruchsvolle Darstellung der Forschung zu Placeboeffekten.
Heilende Kräfte, das sechste Kapitel, ist ein sehr allgemein gehaltener und recht heterogener Buchabschnitt, dessen Sinn darin zu bestehen scheint, die „klassische Placebowirkung“ in den Rahmen einer allgemeinen nicht-medikamentösen und nicht-instrumentellen Heilbehandlung zu stellen.
In Placebo und Sport, Kapitel 7, wird der Versuch unternommen, sich auf sportliche Leistung positiv auswirkende Erwartungshaltungen unter dem Stichwort „Placebo“ zu thematisieren.
Vergleichbares wird für Kaufförderung im 8. Kapitel Placebo und Marketing unternommen.
Dass Leistung und Verhalten von Schülern durch Erwartungen von Lehrern (vgl. etwa Rosenthal-Effekt), aber auch an sich selbst (Stichwort z.B. „Selbstwirksamkeitserwartung“) ist seit Langem bekannt. Neu ist, dass all dies nun „vereinheitlichend“ unter Placebo und Pädagogik. Kap. 9, abgehandelt wird.
Das 10. und letzte Kapitel mit dem Titel Placebo und Kunst lässt sich am besten charakterisieren mit „vielfältige Reflexionen zu möglichen Assoziationen von Placebo und Kunst“.
Dem Buchkern folgt ein Anhang, in dem sich zunächst – und in Ergänzung zu den über den Text verstreuten Personenporträts – Angaben finden zu Menschen, die im Buch in irgendeiner Form zu Wort gekommen sind. Mit der konventionellen Form der „Angabe zum/zur Autor(in)“ gibt man sich da nicht zufrieden; hier werden bebilderte „Biographien“ aufgeboten. Das danach folgende „Glossar/​Sachregister“ klärt knapp und präzise auf über Fachbegriffe, die im Text verwendet und dort mit einem Hinweispfeil versehen wurden (was der Leser aber erst mühsam selbst herausfinden muss). Die nachfolgenden, kapitelweise nummerierten Anmerkungen beinhalten im Wesentlichen Quellenangaben. Ihnen folgt „Weiterführende Literatur“ mit ganzen vier Einzelposten sowie der obligatorische „Bild- und Graphiknachweis“.
Diskussion
Beginnen wir mit den Formalia, an denen sich eine Publikation, die als „Sachbuch“ gelten will, messen lassen muss. Es sei zunächst erinnert an all die Ungereimtheiten, auf die schon eingangs hingewiesen wurde. Hier seien einige formale Negativpunkte ergänzend genannt. So hat das das Buch kein Literaturverzeichnis. Dass dies auch anderswo der Fall ist, taugt nicht als Rechtfertigung, der Fehler anderer adelt nicht den eigenen. Nehmen wir an, jemand interessiert sich im Nachhinein für den im Buch mehrfach genannten und zitierten „Placeboforscher in Marburg“ (so S. 73), den Diplom-Psychologen Winfried Rief, seit 2000 Professor für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Philipps-Universität Marburg. Von dem möchte man Interessierendes nachlesen. Man findet aber seinen Namen und seine im Buch referierten Publikationen nicht mal eben auf die Schnelle – eben weil es ein für genau diesen Zweck eingerichtetes Literaturverzeichnis nicht gibt.
Vielleicht findet sich die gesuchte einschlägige Publikation nach stundenlanger Suche ja in den Anmerkungen, wobei deren kapitelweise Aufzählung, die Recherche erheblich erschwert. Oder eben doch nicht. Denn es gehört zu den besonderen Merkmalen dieses Buches, dessen Charakter als „Sachbuch“ einem zunehmend fraglicher erscheint, dass es wörtliche Zitate nicht mit einer (halbwegs) präzisen Quellenangabe versieht; exemplarisch etwa ein Zitat von Winfried Rief auf S. 73.
Zur Bewertung des Formalen gehört auch der Blick auf besondere Merkmale der Textgestaltung. Da wird einiges „Unterhaltsames“ aufgeboten für Menschen, deren Leseverhalten „neuzeitlich“ ist: geringe Aufmerksamkeitsspanne, mangelnde Konzentrationsfähigkeit und fortwährende Stimulationshungrigkeit. Ja, da gibt es auch dem konventionellen Leser sinnfällig Scheinendes: eingerückte Merksätze und Zitate in dezentem Blau etwa. Oder aber Personenporträts in tieferem Blau, wobei man weniger an der Farbgebung zweifelt als an der Frage, wieso gerade diese oder jene Person in den Kreis der Blau-Erlauchten aufgenommen wurde. Dann gibt es die in dezentem Rosa gehaltenen Abbildungen und Graphiken. Die ersten haben mein Verstehen nicht gefördert, und von den zweiten halte ich ein Drittel für erhellend, ein zweites für überflüssig und das dritte gar für irreführend.
Dann sind da noch, um die Farbpalette abzuschließen, jene in Mintgrün gehaltenen Passagen, in denen sich Interviews ebenso finden wie Einzeldarstellungen. Von den Zweitgenannten etwa jenes kluge Textstück mit dem Titel „Placebos sind manchmal die bessere Medizin“ (S. 180–183), das als „Plädoyer von Prof. Winfried Rief, Placeboforscher in Marburg“ (S. 180) vorgestellt wird, ohne dass erkenntlich würde, ob hier referiert oder zitiert wird; einen Quellenhinweis gibt es auf jeden Fall nicht. Der Rief-Text ist ein Beispiel für die starken Passagen des Buches, das – ebenfalls auf mintgrünem Hintergrund gebotene Interview mit Dirk Boll ein Exempel für seine schwachen Partien.
Dirk Boll hat 2009 im selben Verlag, in dem das vorliegende Buch erschien, eines mit dem Titel „Kunst ist käuflich“ veröffentlicht. Das las ich als Kunstinteressierter mit einigem Erkenntnisgewinn. Seit 2017 ist Dirk Boll Präsident von Christie’s EMERI (Europe & UK, Middle East, Russia & India), der sich im vorliegenden Buch über ganze fünf Buchseiten (S. 263–267) ausbreiten darf, wo er mit Äußerungen aufwartet, die jeglichen Esprit vermissen lassen. Etwa der: „Meine Überzeugung ist, dass der Kunstmarkt eine eigene Intelligenz hat, die Kunst bewertet, und dass ein hoher Preis in fast allen Fällen auch künstlerische Qualität indiziert.“ (S. 265) Jeder, der um Antwort auf die Frage, was denn Kunst sei, wird hier getröstet: Was Kunst ist, wird durch Christie’s Auktionspreise hinreichend klar definiert.
An Dirk Bolls Gleichung „Geld gleich Kunst“ sind selbst dann Zweifel angebracht, wenn man Kunst nur durch die $-Brille anschaut. Da ist beispielsweise in artnetnews zu lesen, die Corona-Krise habe die „American Arts Organizations“ beim Stand 8.4.2020 bereits 4,5 Milliarden US-Dollars gekostet (https://news.artnet.com/art-world). Sind die involvierten Kunstwerke nun „künstlerisch weniger wertvoll“? Am 8.4.2020 meldete artnetnews, Christie’s Manhatten habe wegen jahrelanger Steuerhinterziehung ein Bußgeld von $ 16,7 Millionen zu zahlen (https://www.artnews.com/art-news/). Da stellt sich doch die grundsätzliche Frage: Ist der künstlerische Wert eines „Kunstwerks“ nun mit oder ohne Steuerbetrug hinreichend klar bestimmbar?
Die Bollschen Ausführungen markieren in aller Deutlichkeit den intellektuellen Tiefpunkt, auf den das Buch seit Kapitel 7, vorbereitet durch das 6., hinsteuert. Zwischen dem 5. und dem 7. Kapitel mit dem „Überleitungskapitel“ unter der Nummer 6, tut sich jener garstige Graben auf, der die Welt von „Placebo 2.0“ im Sinne des Verlages und jenem der Herausgeber trennt (s.o.).
Wenn ich mich auf die Herausgeberseite schlage, dann aus wissenschaftlichen Gründen. Sicher: Im ganzen Buch geht es darum, dass und wie eigene Erwartung an mich und andere sowie die Anderer an mich oder andere das Erleben und Verhalten der von Erwartung „betroffener“ Personen beeinflussen können – oft nachhaltig und mitunter bis in die Körperlichkeit hinein. Damit kommt ein sehr weites Feld, das vornehmlich von der Psychologie beackert wird, ins Blickfeld. Dort „Ordnung“ schaffen zu wollen, indem man alle Beeinflussungsformen durch Eigen- und Fremderwartung über einen Kamm schert und für solche Gleichmacherei des Ungleichen das Wort „Placebo“ benutzt, halte ich für einen grandiosen Unsinn.
Um es beispielhaft zu illustrieren: Was die medizinische Wissenschaft hierzulande und weltweit unter „Placebo“ versteht (vgl. etwa Breidert & Hofbauer, 2009) hat mit dem Rosenthalschen „Pygmalion-Effekt“, von dem auf S. 230 die Rede ist, so wenig zu tun, dass deren Gleichsetzung, wie sie hier unter der Parole „Placebo 2.0“ – geschieht, die akademische Psychologenschaft am Sachverstand der dafür Verantwortlichen grundsätzlich zweifeln lässt.
Zunehmend mehr wird deutlich, dass schon der Titel „Placebo 2.0: die Macht der Erwartung“ alle Anlagen für ein grandioses Missverständnis birgt. Sollte mit ihm ein Buch über „Placebo“ angekündigt sein, wären die Kapitel 7 – 10 einfach nur als Unsinn zu werten. Wollte man damit aber werben für ein Buch, das die Macht der Erwartung vor Augen führt, so hätte ein solches gleich zwei schwere Mängel. Zum einen müsste man dann den ganzen Teil über die klassische Medizin, der weitaus mehr als Hälfte des Buches ausmacht, als völlig übergewichtet ansehen. Und zum anderen vermisste man dann theoretisch und praktisch bedeutsame Gebiete wie etwa die vielfältigen Formen „alternativer“ heilkundlicher Behandlungen, die Psychotherapie oder die Hypnose – und die Religion (Schnabel, 2020)
Was desto mehr sichtbar wird, je länger man betrachtet, ist der tiefe Riss, der das Buch durchzieht und zwischen dem 5. und 7. Kapitel zu lokalisieren und durch Kapitel 6 nur mühsam zu kaschieren ist. Diese Bruchkante markiert nicht nur einen Unterschied im Inhalt, sondern auch in der wissenschaftlichen Qualität. So wenig es dazu im ersten Buchteil zu klagen gibt, desto mehr – und zwar zunehmend mehr – im zweiten. Dem Inhalte nach war diese Diskrepanz, wie oben breit ausgeführt, angelegt dadurch, dass Verlag und Herausgeberduo zwei unterschiedliche und faktisch unvereinbare Vorstellungen von „Placebo 2.0“ hatten (haben?). Ich verstehe nicht, weshalb Ulrike Bingel und Manfred Schedlowski ihre guten Namen hergegeben haben für ein – insgesamt beurteilt – so schlechtes Buch wie das vorliegende.
Der Sache „Placeboeffekte“ im Kontext heilkundlichen Handelns haben sie mit diesem Buch jedenfalls einen Bärendienst erwiesen. Das ist schade, denn die Sache braucht Fürsprache, sonst gehört sie im Gesundheitssystem der Bundesrepublik Deutschland auch weiterhin in die Esoteriknische. Im Kernbereich der hiesigen Medizin ist „Placebo“ noch längst nicht angekommen. Zur Illustration: Der ZEIT Nr. 15/2020 vom 2. April 2020 lag eine 24-seitige Publikation (aus der Zeit vor CONVID-19) des in/pact media Verlags mit dem Titel „ZUKUNFT MEDIZIN – Forschung, Diagnostik, Therapie“ bei – geadelt durch ein Grußwort des Bundesministers für Gesundheit Jens Spahn. Kein Wort dort von „Placebo“.
„Ein Placebo macht noch keine Medizin“ hat der bekannteste Angstforscher Deutschlands, der Arzt und Psychologe Borwin Bandelow unlängst in einem „Gehirn&Geist“-Interview (Ayan, 2020, S. 70) kundgetan. Man weiß nicht so recht, was er damit zum Ausdruck bringen will. Will er etwa sagen, dass beispielsweise die Hahnemannschen Globuli nichts anderes als Zuckerzeug seien? Recht hat er. Nur: Was ist mit dieser Erkenntnis gewonnen? Jedenfalls nichts, das zur Beantwortung der Frage beitrüge, weshalb Menschen durch homöopathische Behandlung Heilung erreichen können, die sie durch klassisch-medizinische Behandlung oft nicht haben erfahren dürfen.
Ja, ein Placebo macht noch keine Medizin, aber eine Medizin, die Placebowirkungen nicht zu den Wirksamkeitsfaktoren heilkundlichen Handelns, nicht zu den wirksamen Ingredienzien jeder Form hilfreicher Beziehung rechnet, ist, wissenschaftlich beurteilt, engstirnig und, ethisch betrachtet, fahrlässig.
Fazit
Das vorliegende Buch ist in seiner Gesamtheit, nach formalen und inhaltlichen Gesichtspunkten beurteilt, ein ziemlicher Murks. Nun enthält das Substantiv „Murks“ wie sein Adjektivpendant „missraten“, die Erinnerung daran, dass es hätte besser ausfallen können. Des eingedenk fällt mein Fazit zwiegespalten aus: Wer sich von Missratenem leicht den Appetit verderben lässt, sollte das Buch meiden – und sich sein Interesse am Thema „Placebo“ erhalten. Wer hart im Nehmen ist und Routine darin hat, aus einem vermurksten Eintopf die wahrlich schmackhaften Einzelstücke heraus zu stochern, dem sei zur Lektüre des Buches geraten.
Literatur
- Ayan, Steve (2020). Interview mit Borwin Bandelow. Gehirn&Geist, 4/2020, S. 70–73.
- Breidert, Matthias & Karl Hofbauer (2009). Placebo: Missverständnisse und Vorurteile. Deutsches Ärzteblatt, 106(46), S. 751–755. DOI: 10.3238/arztebl.20090751. Verfügbar unter https://www.aerzteblatt.de/pdf.asp?id=66733; letzter Aufruf am 5.4.2020.
- Hartmann, Corinna (2020a). Wirkung ohne Wirkstoff. Rezension vom 11.3.2010. Spektrum der Wissenschaft. Verfügbar unter https://www.spektrum.de/rezension/​buchkritik-zu-placebo-2-0/​1708650; letzter Aufruf am 1.4.2020.
- Hartmann, Corinna (2020b). Spektrum der Wissenschaft – Gehirn&Geist, 5/2020, S. 66–73.
- Schnabel, Ulrich (2020). Jein und Amen. DIE ZEIT, 16/2020, S. 13.
Rezension von
Prof. Dr. Dr. Hans-Peter Heekerens
Hochschullehrer i.R. für Sozialarbeit/Sozialpädagogik und Pädagogik an der Hochschule München
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