Heiner Bielefeldt, Michael Wiener: Religionsfreiheit auf dem Prüfstand
Rezensiert von Prof. Dr. Hartmut Kreß, 13.05.2020

Heiner Bielefeldt, Michael Wiener: Religionsfreiheit auf dem Prüfstand. Konturen eines umkämpften Menschenrechts.
transcript
(Bielefeld) 2020.
275 Seiten.
ISBN 978-3-8376-4997-0.
D: 34,99 EUR,
A: 34,99 EUR,
CH: 42,70 sFr.
Reihe: Edition transcript - Band 6.
Thema
Das Buch befasst sich mit dem Verständnis und der Gewährleistung von Religionsfreiheit in internationalem Maßstab.
Autoren
Heiner Bielefeldt lehrt an der Universität Erlangen-Nürnberg, Lehrstuhl Menschenrechte und Menschenrechtspolitik. Er war von 2010 bis 2016 Sonderberichterstatter für Religions- und Weltanschauungsfreiheit des UN-Menschenrechtsrats.
Michael Wiener ist im UNO-Hochkommissariat für Menschenrechte in Genf tätig sowie Visiting Fellow in der Universität Oxford.
Entstehungshintergrund
Die beiden Autoren lassen in ihre Erörterung des Menschenrechts auf Religions- und Weltanschauungsfreiheit die vielfältigen Erfahrungen einfließen, die sie aufgrund ihrer Tätigkeit bei den Vereinten Nationen gesammelt haben.
Aufbau
In zehn Kapiteln wird entfaltet, in welcher Hinsicht die Religionsfreiheit einen wesentlichen Baustein im Gesamtgefüge der Menschenrechte darstellt und welche Herausforderungen sowie Konflikte sich zurzeit mit ihr verbinden.
Inhalt
Das erste Kapitel („Einleitung“) skizziert den Stellenwert der Religionsfreiheit als Menschenrecht und spricht geistesgeschichtliche Hintergründe an. Als Vordenker moderner Religionsfreiheit rückt es den jüdischen Aufklärungsphilosophen Moses Mendelssohn (1729–1786) ins Licht.
Das zweite Kapitel steht unter der rhetorischen Frage: „Universaler Standard oder verkappte Hegemonie des Westens?“. Es widerspricht dem Einwand, Menschenrechte und speziell die Religionsfreiheit brächten lediglich europäisches Denken und eine westliche Weltsicht zum Ausdruck. Zugleich arbeitet es einen Leitgedanken heraus, der für das gesamte Buch tragend ist: Religionsfreiheit zielt darauf ab, einzelne Menschen hinsichtlich ihrer persönlichen Freiheitsrechte zu schützen. Es geht also nicht um den Schutz von Religion in Gestalt kirchlicher bzw. religiöser Institutionen oder als dogmatisierte religiöse Wertvorstellung. Was das Verständnis und die Auslegung individueller Religionsfreiheit anbelangt, so ist sie Bielefeldt und Wiener zufolge nicht statisch vorgegeben, sondern muss permanent fortentwickelt werden. Es handelt sich um „work in progress“.
Unter der Überschrift „Freiheit zur Unfreiheit?“ befasst sich das dritte Kapitel mit dem Dilemma, dass Religionsfreiheit zum Einfallstor für freiheitswidrige Bestrebungen, etwa für Fundamentalismus werden kann. Den Sinn des Rechts auf Religionsfreiheit sehen die beiden Autoren darin, die persönliche Wahlfreiheit einzelner Menschen zu gewährleisten, einschließlich der Option, eine Religion jederzeit verlassen zu können. Der Staat darf die Religionsfreiheit von Menschen nur aufgrund besonders gewichtiger, durchschlagender Rechtfertigungsgründe einschränken, so wie sie in Artikel 18 Absatz 3 des UN-Zivilpakts genannt werden (z.B. Wahrung der öffentlichen Ordnung und Gesundheit).
Abgesehen von Freiheit und Selbstbestimmung beruht die Religionsfreiheit auf der Idee der Gleichheit aller Menschen. Dabei sind jedoch die soziokulturellen und individuellen Unterschiede zwischen ihnen zu berücksichtigen, sodass die Überschrift des vierten Kapitels von „komplexer Gleichheit“ spricht. Um dem legitimen Interesse betroffener Menschen Genüge zu leisten, bedarf Religionsfreiheit im Streitfall einer einzelfallbezogenen Auslegung, die die Autoren als „reasonable accomodation“ (S. 88) bezeichnen.
Religionsfreiheit ist ein konfliktträchtiges Menschenrecht. Diesem Sachverhalt widmet sich das fünfte Kapitel „Die Religionsfreiheit im Gesamt der Menschenrechte – zwei Testfälle“. Es drohen Kollisionen mit der Meinungsfreiheit, sofern unter Berufung auf Religionsfreiheit verlangt wird, dass in der Öffentlichkeit, in Presse, Kunst oder Film Religionskritik zu unterbleiben hätte. Starke Spannungen brechen immer wieder zwischen Religionsfreiheit und „gender“ auf. Ein Beispiel ist der Ausschluss von Frauen aus geistlichen Ämtern durch die römisch-katholische Kirche. Bielefeldt und Wiener nehmen zu dieser Problematik mehrschichtig Stellung. Einerseits dürfe der Staat in innere Angelegenheiten einer Religion nicht eingreifen (S. 115). Andererseits könne er aufgrund seiner Zuständigkeit für die äußere Ordnung „Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass innerreligiöse Auseinandersetzungen angstfrei möglich sind“ (S. 119). Innerreligiös können sich neben den konservativ-retardierenden dann auch liberale, aufgeschlossene, z.B. feministische Stimmen auf die Religionsfreiheit berufen, um ihre Position zu vertreten.
Unter der Überschrift „Religionsfreiheit und säkularer Staat“ bedenkt das sechste Kapitel nochmals genauer, welche Verpflichtungen der Staat religionsbezogen zu übernehmen hat. Anhand von Kasachstan, Bangladesch und Dänemark schildert es völlig disparate Versionen des staatlichen Umgangs mit Religion. Ihrerseits plädieren Bielefeldt und Wiener für einen säkularen Staat, der ideologischen Säkularismus vermeidet, sowie unter Beachtung des Minderheitenschutzes für Kooperationen des Staates mit Religionen.
Das siebte Kapitel „Verletzungen der Religionsfreiheit“ schildert vielfältige Probleme weltweit. Teilweise sind es die Religionen selbst, die persönliche Freiheitsrechte ihrer Angehörigen verletzen. So treibt im Libanon das katholische Verbot der Ehescheidung Menschen dazu, wider Willen zum Islam zu konvertieren, um eine Scheidung vornehmen zu können (S. 155). Darüber hinaus wird die Religionsfreiheit oft von staatlicher Seite verletzt. Zu den Problemstaaten gehört Russland, weil die dortige politische Administration aus – angeblichem – nationalem Interesse massiv die orthodoxe Kirche privilegiert und Anders- oder Nichtgläubige schwer benachteiligt.
Kapitel acht des Buches – „Religionsfreiheit vor Gericht: Vergleich globaler und regionaler Rechtsprechung“ – befasst sich damit, wie Betroffene ihren Anspruch auf Religions- und Weltanschauungsfreiheit auf dem Rechtsweg durchsetzen können. Der UN-Menschenrechtsausschuss ist befugt, Individualbeschwerden zu prüfen. Sofern der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) angerufen wird, kann er Entscheidungen treffen, die rechtsverbindlich sind. Schwierigkeiten wirft es auf, dass Urteilssprüche – auch zwischen dem EGMR und dem UN-Menschenrechtsausschuss – z.T. uneinheitlich ausfallen. Das Spektrum der religionsbezogenen Streitfragen, die rechtlich bzw. gerichtlich geprüft werden, ist breit. In Europa gehört zu ihnen z.B., dass in staatlichen Schulen Kinder in den bekenntnishaften Religionsunterricht hineingedrängt werden, obwohl die Teilnahme freiwillig bleiben muss (S. 189 ff.).
Im vorletzten Kapitel neun „Gewalt im Namen der Religion“ warnen die Autoren vor dem Kurzschluss, die Anwendung von Gewalt, die unter Berufung auf Religion erfolgt, dadurch zu beschönigen, dass gesagt wird, „eigentlich“ sei die betreffende Religion doch gewaltfrei. Insgesamt äußern sich Bielefeldt und Wiener vorsichtig optimistisch. Indirekt wirke sich das Vorhandensein der Menschenrechte und eines säkularen Rechtsstaats auf Religionen pazifizierend aus und fördere auch innerreligiös auf Dauer einen humanen Bewusstseinswandel.
Das abschließende Kapitel setzt einen anderen Akzent. Unter der Überschrift „Gegen jede ‚Sakralisierung‘ der Menschenrechte: zur kritischen Wächterfunktion der Religionsfreiheit“ warnt es davor, die Menschenrechte ihrerseits quasi-religiös bzw. ideologisch zu überhöhen. Gleichzeitig unterstreichen die beiden Autoren den normativen Geltungsvorrang, den Menschenrechte vor Kirchen und Religionen besitzen. Denn die Menschenrechte sind kulturübergreifend universal konzipiert, wohingegen die Religionen nur ihre jeweiligen partikularen Sichtweisen vertreten. Angesichts dessen widmet sich das Kapitel auch noch einmal der Frage, ob oder wie Menschenrechte im Binnenraum von Religionsgesellschaften durchsetzbar sind (S. 250 ff.).
Diskussion
Der Band weitet den Blick über Europa hinaus aus und erwähnt Aspekte, die bei der Befassung mit Religionsfreiheit oft vernachlässigt werden, etwa die religiösen Rechte von Angehörigen indigener Völker (S. 54). Zudem weist er auf die negative Religionsfreiheit bzw. auf die Weltanschauungsfreiheit von Atheisten oder Agnostikern hin (S. 61), die weltweit Diskriminierungen und Verfolgung erfahren. Dunkle Seiten des Themas „Religion“ werden von Bielefeldt und Wiener nicht verschwiegen. Indem ihr Buch auf religionsbedingte Gewalt und Terror eingeht, stellt es sich einem Problem, das in dieser Zuspitzung erst in den letzten Jahrzehnten virulent geworden ist. Heutzutage ist nicht nur nach dem Schutz „von“ Religionen und ihrer Angehörigen zu fragen; vielmehr ist gleichfalls der Schutz „vor“ Religion relevant geworden.
Zumindest kurz gehen die beiden Autoren auf ein begriffliches Problem ein: Das Wort „Religionsfreiheit“ ist missverständlich (S. 36 ff.). Denn es überdeckt den Sachverhalt, dass nichtreligiöse säkulare Überzeugungen genauso unter Schutz stehen wie religiöser Glaube. Aus Sicht des Rezensenten sollte in Zukunft als Leitbegriff verstärkt von „Gewissensfreiheit“ die Rede sein. Dieser Begriff wird dem heutigen weltanschaulich-religiösen Pluralismus besser gerecht als der engere Terminus „Religionsfreiheit“, weil im individuellen Gewissen gleicherweise religiöse und nichtreligiöse Überzeugungen verankert sind. Die Präferierung des Wortes „Gewissensfreiheit“ lässt sich rechtssystematisch sowie rechts- und geistesgeschichtlich begründen. Von ihm machte z.B. auch der jüdische Philosoph Moses Mendelssohn Gebrauch, den Bielefeldt und Wiener in ihrem Buch anderweitig als Referenz erwähnt haben. Als Mendelssohn im 18. Jahrhundert für Glaubensfreiheit und Toleranz eintrat, sprach er explizit von „Gewissensfreyheit“.
Eine überaus wichtige Weichenstellung haben Bielefeldt und Wiener dadurch vorgenommen, dass sie die Gewissens-/​Glaubens-/​Religionsfreiheit als ein Menschenrecht vor Augen führen, das jeder Person individuell zusteht (S. 28). Hiermit widersprechen sie zumindest implizit, unausgesprochen dem heute in Medien, in der Rechtspolitik und Rechtsprechung vorhandenen Trend, das Schutzgut der Religionsfreiheit vor allem den Kirchen und Religionsgesellschaften als Organisationen zugutekommen zu lassen und den „offiziellen“ Aussagen von Kirchen oder Religionen z.B. über Sexualität, Ehe, Familie, Lebensbeginn oder Lebensende eine überragende normative Verbindlichkeit zuzuschreiben. Sogar das Bundesverfassungsgericht gesteht diesbezüglichen kirchenamtlichen Vorgaben ein „besonderes Gewicht“ zu (Beschluss vom 22.10.2014, Az. 2 BvR 661/12), wodurch die persönliche Freiheit und religiöse Selbstbestimmung der einzelnen Menschen unangemessen ins Hintertreffen geraten. Insofern ist es wichtig, wenn Bielefeldt und Wiener unterstreichen, dass die Gewissens- bzw. Religionsfreiheit – wie die Menschenrechte überhaupt – auf den Schutz und die Freiheit der Einzelperson abzielt.
Der Sachverhalt, dass Kirchen und Religionsgesellschaften persönliche Freiheitsrechte beiseiteschieben, ist eines der zahlreichen Probleme, auf die Bielefeldt und Wiener den Finger legen. Sie erinnern daran, dass die katholische Kirche Menschenrechte und Religionsfreiheit bis ins späte 20. Jahrhundert hinein lehramtlich schroff verurteilt hat (S. 239). Auf die Abwehr, die auch in evangelischen Kirchen und in breiten Teilen der evangelischen Theologie noch in den 1970er/​1980er Jahren herrschte, gehen sie nicht näher ein. Inzwischen haben die beiden Kirchen die Religionsfreiheit akzeptiert. Jedoch ist dies jetzt dahingehend umgeschlagen, dass sie sie für ihr institutionelles Eigeninteresse instrumentalisieren. So berufen sich in Deutschland die evangelischen und katholischen Kirchen auf ihre korporative Religionsfreiheit zulasten der Grund- und Freiheitsrechte von Menschen, deren Arbeitgeber sie sind. Mit ca. 1,3 Millionen Beschäftigten erbringen die Kirchen in der Bundesrepublik Dienstleistungen im Gesundheits-, Sozial- und Bildungswesen, für die sie refinanziert werden. Als Arbeitgeber schränken sie die persönlichen Freiheitsrechte ihrer Beschäftigten erheblich ein (Verbot des Kirchenaustritts, offene oder unterschwellige Nötigung zum Kircheneintritt bei StellenbewerberInnen, u.U. Auflagen für die private Lebensführung, Verbot des Streikrechts, u.v.a.). Der Europäische Gerichtshof hat 2018 von den deutschen Kirchen Korrekturen verlangt (Urteile vom 17.4.2018, Az. C‑414/16, vom 11.9.2018, C-68/17). Um dies abzuwehren, ging die evangelische Kirche 2019 so weit, dass sie in Karlsruhe Verfassungsbeschwerde einlegte. An dem Verhalten der Kirchen wird deutlich, dass es zu kurz greift, wenn sich Bielefeldt und Wiener zufolge die staatliche Rechtsordnung aus dem internen Bereich von Kirchen oder Religionsgesellschaften heraushalten soll. Dies greift zumal deshalb zu kurz, weil die Kirchen – verbal unter Berufung auf ihre Religionsfreiheit – den Umfang dessen, was unter ihren „inneren“ Angelegenheiten zu verstehen sei, definitorisch stark ausgeweitet haben. Der Jurist Bernhard Schlink hat ihr Vorgehen zutreffend als „usurpatorisch“ kritisiert.
Fazit
Das vorliegende Buch ist nicht nur außerordentlich informationsreich und präzis, sondern regt – wie voranstehend angedeutet – zu Anschlussüberlegungen an. Es hält die Frage wach, dass zur Religionsfreiheit global und inländisch weiterhin hoher Klärungsbedarf besteht.
Rezension von
Prof. Dr. Hartmut Kreß
Professor für Sozialethik an der Universität Bonn
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