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Norbert Beck (Hrsg.): Therapeutische Heimerziehung

Rezensiert von Prof. Dr. Veronika Verbeek, 13.08.2020

Cover Norbert Beck (Hrsg.): Therapeutische Heimerziehung ISBN 978-3-7841-3234-1

Norbert Beck (Hrsg.): Therapeutische Heimerziehung. Grundlagen, Rahmenbedingungen, Methoden. Lambertus Verlag GmbH Marketing und Vertrieb (Freiburg) 2020. 678 Seiten. ISBN 978-3-7841-3234-1.

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Herausgeber und Autor/​innen

Dipl.-Psychologe und Dipl.-Sozialpädagoge (FH) Dr. Norbert Beck ist als Abteilungsleiter des Therapeutischen Heims Sankt Joseph und als Verbundleiter des Überregionalen Beratungs- und Behandlungszentrums (ÜBBZ) in Würzburg tätig. Als Dozent und Autor zahlreicher Zeitschriften- und Buchbeiträge hat er sich als Experte für das Themenfeld der psychosozialen Versorgung von Kindern- und Jugendlichen mit psychischen Störungen ausgewiesen.

Für das umfangreiche Herausgeberwerk konnten insgesamt 69 Autorinnen und Autoren aus Wissenschaft und elaborierter Praxis gewonnen werden. Ihre Expertise bezieht sich auf die Disziplinen Psychiatrie, Psychologie, Sozialpädagogik sowie Heilpädagogik.

Entstehungshintergrund und Thema

Die Publikation ist aus dem Bedarf einer klinischen Perspektive auf das psychisch stark belastete Klientel in der stationären Kinder- und Jugendhilfe heraus motiviert. Auf der Grundlage langjähriger Berufserfahrung in der therapeutischen Heimerziehung betont der Herausgeber die Bedeutung einer wissenschaftlich fundierten, Psychologie, Psychotherapie, Heilpädagogik und Psychiatrie einbeziehenden Förderung von Kindern und Jugendliche in stationären Wohngruppen.

Aufbau

Nach einer kurzen Einführung gliedert sich das umfangreiche Herausgeberwerk in Grundlagen der therapeutischen Heimerziehung mit fünf Kapiteln, in Rahmenbedingungen therapeutischer Heimerziehung mit 23 Kapiteln, die vier Inhaltsbereichen zugeordnet sind, sowie in Methoden in der therapeutischen Heimerziehung mit 24 Kapiteln aus wiederum vier Inhaltsbereichen. Die Publikation schließt mit einem Autorenverzeichnis und umfasst insgesamt 678 Seiten. Das Literaturverzeichnis mit 48 Seiten fehlt in der Printversion, steht aber auf der Homepage des Verlags als Download zur Verfügung.

Inhalt

Der Umfang der Publikation mit insgesamt 52 Beiträgen ermöglicht nur eine exemplarische Darstellung der Inhalte. Im Folgenden wird jeweils ein (beliebiges) Kapitel aus den genannten 9 Themenfeldern ausgewählt, um auf diesem Wege einen möglichst repräsentativen Einblick in die Buchinhalte zu vermitteln. Diese zufällige Auswahl kann die innere Logik der Abfolge der 52 Autorenbeiträge allerdings nicht abbilden.

In den ersten Teil Grundlagen der therapeutischen Heimerziehung mit insgesamt fünf Kapiteln führt der Herausgeber Norbert Beck mit seinem Beitrag in Kapitel 1 Entwicklungslinien, Bezugspunkte und Begriffsbestimmung Therapeutische Heimerziehung ein. Beck beschreibt in einer historischen Analyse detailliert die Entwicklung der sozialrechtlichen Rahmenbedingungen, nennt wichtige Impulsgeber für eine therapeutische Ausrichtung in der Heimerziehung (z.B. Therapeutisches Milieu nach Fritz Redl oder Milieutherapie nach Bruno Bettelheim) und betrachtet die Entwicklungslinien in der Kooperation zwischen Jugendhilfe und Heilpädagogik, Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Sozialpädagogik. Aus dieser Analyse leitet er ein Verständnis von Heimerziehung ab, das multidisziplinäres, systemübergreifendes Handeln erfordert, um bei psychisch belasteten Kindern und Jugendlichen in der stationären Jugendhilfe entwicklungsfördernd zu wirken. Im pädagogisch geprägten Gruppenalltag sollten dafür verstärkt psychiatrische, psychotherapeutische und psychotraumatologische Expertise genutzt, Konzepte über psychische Grundbedürfnisse und jugendspezifische Entwicklungsaufgaben beachtet sowie Methoden systematischer Diagnostik, Intervention und Evaluation angewendet werden.

Im zweiten Teil Rahmenbedingungen der therapeutischen Heimerziehung mit den vier Inhaltsbereichen Beteiligte Systeme und Schnittstellen, Ätiologie und Epidemiologie, Diagnostik, Überblick über wichtige kinder- und jugendpsychiatrische Störungsbilder mit insgesamt 23 Kapiteln seien die folgenden vier Beiträge beispielhaft beschrieben:

  • Kapitel 6 - Das System Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie von Andreas Warnke ermöglicht einen summarischen Überblick über Organisationen kinder- und jugendpsychiatrische Versorgung sowie den Beruf des Facharztes für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie. Der Autor informiert grundlagenorientiert über Diagnose und Intervention im Zusammenhang einer psychiatrischen Versorgung mit Schnittstellen zu Psychologie und Pädagogik. In diesem einleitenden Beitrag wird abschließend die interdisziplinäre Kooperation von Psychiatern im Kontext der stationären Jugendhilfe herausgestellt.
  • Kapitel 11 - Epidemiologie psychischer Störungen in der Kindheit und Jugend von Michael Kölsch berichtet über Studienergebnisse zu Prävalenzraten verschiedener psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter. Es ist eine große Risikogruppe von ca. 20 Prozent aller Kinder und Jugendlichen anzunehmen, zudem besorgt bei der Hälfte ein hoher Anteil kontinuierlicher Verläufe bis ins Erwachsenenalter. Einzelne Gruppen zeigen ein erhöhtes Risiko, an psychischen Störungen zu erkranken. Dies sind Kinder in der Kinder- und Jugendhilfe, Kinder an Förderschulen und Kinder psychisch kranker Eltern. Aus diesen Erkenntnissen wird deutlich, dass in der Heimerziehung besonders belastete Kinder multiprofessionelle Unterstützung brauchen.
  • Kapitel 14 - Psychometrische Diagnostik und ressourcenorientierte Förderplanung mit dem EQUALS-System von Marc Schmid stellt ein Diagnosesystem vor, das in der Schweiz erprobt wird. EQUALS steht für Ergebnisorientierte Qualitätssicherung in sozialpädagogischen Einrichtungen und bezeichnet eine webbasierte Testbatterie, in der Fragebögen zu Ressourcen, zu kinder- und jugendpsychiatrischen Störungen und zu Persönlichkeitsmerkmalen zum Einsatz kommen, aber auch Hilfen für die Anamnese, Förderplanung und Katamnese bereitgestellt werden. Neben der Dokumentation individueller Profile eignet sich das Inventar auch zur Qualitätssicherung auf institutioneller, fachpolitischer und wissenschaftlicher Ebene. Der Verfasser positioniert sich für eine systematische Diagnostik im Hilfeprozess zur Erhöhung der Professionalität.
  • Kapitel 25 - Emotional instabile Persönlichkeitsstörung/Borderline von Claudia Mehler-Wex ist eines von 14 Kapiteln über Störungen im Kindes- und Jugendalter, in denen jeweils die Symptomatik, Prävalenz, Entstehung und therapeutischen Interventionsmöglichkeiten dargestellt werden. Im ausgewählten Kapitel über die häufig diagnostizierte Borderline-Störung bei Jugendlichen in stationären Wohngruppen plädiert die Autorin für eine frühe Diagnose und frühe Intervention. So kann eine häufig durchgeführte rein medikamentöse Therapie oder eine einseitig auf selbstverletzendes und suizidales Verhalten fokussierte pädagogische Vorgehensweise vermieden und stattdessen eine systematische Verbesserung des allgemeinen psychosozialen Funktionsniveaus erfolgen. Diese hat ihre Grundlage z.B. in der Dialektisch-behavioralen Therapie und in ihrer Adaption für Jugendliche mit Emotionsregulations- und Kommunikationsstörungen.

Auch für Teil 3 Methoden in der Therapeutischen Heimerziehung mit den vier Inhaltsbereichen Therapeutische und pädagogische Bezugsansätze, Behandlungsansätze im Gruppen- und Einzelsetting, Arbeit mit Eltern und Medikamentöse Behandlung sei jeweils ein Beitrag pro Inhaltsbereich akzentuiert.

  • Kapitel 30 - Verhaltenstherapeutische Basisansätze von Michael Borg-Laufs ist eines von 10 Kapiteln zu theoretischen Handlungskonzepten. Nach einer einführenden Auseinandersetzung mit typischen Missverständnissen verhaltensorientierter Methoden und einer Skizze der Lerntheorien Operantes Konditionieren, Klassisches Konditionieren, Modelllernen und Kognitive Ansätze kommt der Autor zum Übertrag auf das Anwendungsfeld der Heimerziehung. Am SORCK-Modell der Verhaltensanalyse mit den Analysekategorien Stimulus – Organismus – Reaktion – Konsequenzen (Consequences) – Kontingenzen werden exemplarisch Interventionsmöglichkeiten skizziert. Diese betreffen z.B. Maßnahmen der Stimuluskontrolle, Kompetenztrainings oder Belohnungsprogramme.
  • Kapitel 47 - START NOW – Ein Skills-Training für stationär platzierte Jugendliche mit Emotionsregulationsschwierigkeiten in Jugendhilfeeinrichtungen von Christina Stadler und Michael Holler fasst die Zielsetzung und sehr exemplarisch auch die Durchführung eines manualisiert vorliegenden kognitiv-verhaltenstherapeutischen Gruppentrainings mit Verhaltensübungen und Begleitmaterialien zusammen. Dabei steht das Akronym START für wichtige Bewältigungsstrategien: Slow down – Take distance – Accept – Respect – Take action. Besonders entwicklungstraumatisierte Kinder haben Defizite in der Emotionsregulation und profitieren nachweislich vom Programm, das von der Erstautorin aus dem Amerikanischen adaptiert wurde.
  • Kapitel 50 - Elternarbeit im Kontext des Therapeutischen Heims Sankt Joseph von Katrin Dietz und Stefan Werner versteht Elternarbeit nicht nur als gesetzliche Pflichtaufgabe, sondern auch als bedeutsamen Wirkfaktor der stationären Jugendhilfe. Konkret wird die vielfältige Ausgestaltung einer zielorientierten Unterstützung von Familien im Heim St. Joseph in Würzburg beschrieben: Diese reicht von Einzelgesprächen mit Eltern im zweiwöchentlichen Abstand oder Elternworkshops bis zu Hospitationen der Eltern im Heim oder niedrigschwelligen Begegnungen bei Festen, Feiern und Ausflügen. Die Best Practice Beispiele einer verhaltenstherapeutisch und systemisch fundierten Kooperation zwischen Heim und Familie stoßen natürlich auch an Grenzen, die allerdings als Anlässe für eine optimierte Passung des Angebots verstanden werden. Wichtig erscheint der Hinweis, dass die Herausforderung einer professionellen Elternarbeit in der Jugendhilfe akademisch und therapeutisch ausgebildetes Personal in Wohngruppen erfordert.
  • Kapitel 52 - Medikamentöse Therapie mit Psychopharmaka im Kindes- und Jugendalter von Regina Taurines stellt den einzigen Beitrag im Themenfeld Medikamentöse Behandlung dar. Aus psychiatrischer Sicht informiert die Verfasserin über die wichtigsten Medikamente aus den Arzneimittelgruppen Psychostimulanzien, Antidepressiva und Antipsychotika. Pädagogische Fachkräfte erfahren zudem Grundlegendes zur rechtlichen Situation von Medikamentenaufbewahrung und -vergabe an Kinder und Jugendliche in stationären Wohngruppen.

An dieser Stelle sei noch einmal darauf verwiesen, dass nur neun von 52 Kapiteln inhaltlich skizziert werden konnte. Einen Überblick über die inhaltliche Breite der Publikation vermittelt ein Blick in das Inhaltsverzeichnis, das digital über die Deutsche Nationalbibliothek (siehe Literaturangabe) einsehbar ist.

Diskussion

Vor dem Hintergrund der inhaltlichen Analyse wird deutlich: Der von Norbert Beck herausgegebene Autorenband muss als gewichtiges und mutiges Statement für den entschiedenen Einbezug einer klinischen Perspektive in die stationäre Jugendhilfe interpretiert werden.

Gewichtig wird das Buch nicht nur durch seinen Umfang, sondern auch durch die gesammelte Expertise, die bedeutsame Bezugsdisziplinen einer therapeutischen Heimerziehung abdeckt. Die Autorinnen und Autoren der 52 Beiträge sind ausgewiesene Expertinnen und Experten ihrer Themengebiete mit inhaltlich wichtigen, aber auch auffallend vielfältigen Perspektiven auf eine therapeutisch wirkende Heimerziehung.

Mutig ist das Buch, weil es sich von seiner grundlegenden Thematik her einen Paradigmenwechsel in der Heimerziehung einfordert. In den einzelnen Beiträgen scheuen sich die Autorinnen und Autoren nicht, die Kluft zwischen der pädagogischen Praxis in der stationären Jugendhilfe und etablierten wissenschaftlichen Erkenntnissen in Bezug auf einzelne Störungsbilder oder Interventionsansätze zum Ausdruck zu bringen. Sie kennen die Vorbehalte und einseitigen Perspektiven einer vermeintlichen „Psychiatrisierung“ oder „Therapeutisierung“ der Jugendhilfe, räumen diese Missverständnisse entschieden aus und machen Interdisziplinarität als Chance erkennbar.

Ein (vergleichsweise kleines) Problem stellt der Umfang des Buches dar. Fast 700 Seiten liegen nicht nur schwer in der Hand, sondern sind als Softcover-Ausgabe beim Lesen mitunter unhandlich. Wahrscheinlich aufgrund der hohen Seitenzahl wurde im Printexemplar auf 48 Seiten Literaturverzeichnis verzichtet, was bei wissenschaftlich verfassten Texten stört. Auch Abbildungen und Tabellen sind in dem einen oder anderen Beitrag sehr klein geraten. Hier wäre von Verlagsseite eine zweibändige Ausgabe möglicherweise eine bessere Lösung gewesen.

Fazit

Der Autorenband Therapeutische Heimerziehung, Grundlagen, Rahmenbedingungen und Methoden, herausgegeben von Norbert Beck, verbindet 52 einschlägige Beiträge hoher fachlicher Güte. Mit dem neu etablierten Fachterminus im Titel wird eine klinische Perspektive in der Förderung von Kindern und Jugendlichen in der stationären Jugendhilfe benennbar, die den stärkeren Einbezug von Fachkräften mit psychologischer, psychiatrischer und heilpädagogischer Expertise zum Wohle einer psychisch besonders belasteten Gruppe von Kindern und Jugendlichen erfordert. In den 52 Beiträgen wird diese Konzeptualisierung der Heimerziehung wissenschaftlich begründet und konkret umsetzbar. Der schwierige Spagat zwischen Grundlagen- und Anwendungsorientierung gelingt in allen Beiträgen, immer wieder wird auch die Kluft zwischen der Realität in Jugendhilfeeinrichtungen und der Möglichkeit, tradierte wirkorientierte Methoden in die Heimpädagogik einzubringen, kritisch angesprochen.

Die Publikation Therapeutische Heimerziehung markiert meiner Einschätzung nach einen wichtigen Meilenstein für die evidenzbasierte Weiterentwicklung der Heimerziehung in Deutschland. Sie eignet sich deshalb besonders für akademisch geschulte Berufstätige in der stationären Jugendhilfe sowie für Lehrende an sozialpädagogischen Fachschulen, an Hochschulen mit Studiengängen der Heilpädagogik und Sozialen Arbeit sowie an Universitäten mit psychologischen, psychotherapeutischen und pädagogischen Studiengängen.

Rezension von
Prof. Dr. Veronika Verbeek
Dipl.-Psychologin, Psychologische Psychotherapeutin, Fach- und Hochschullehrerin, Professorin für Soziale Arbeit an der IU Internationale Hochschule (Duales Studium)
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Es gibt 5 Rezensionen von Veronika Verbeek.

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Zitiervorschlag
Veronika Verbeek. Rezension vom 13.08.2020 zu: Norbert Beck (Hrsg.): Therapeutische Heimerziehung. Grundlagen, Rahmenbedingungen, Methoden. Lambertus Verlag GmbH Marketing und Vertrieb (Freiburg) 2020. ISBN 978-3-7841-3234-1. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/26788.php, Datum des Zugriffs 11.09.2024.


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