Meike Miller: Ergotherapie bei Autismus
Rezensiert von Dipl.-Päd. Petra Steinborn, 10.06.2020

Meike Miller: Ergotherapie bei Autismus. Förderung durch Sensorische Integrationstherapie. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2020. 139 Seiten. ISBN 978-3-17-034697-0. 22,00 EUR.
Thema
Ergotherapie kann Menschen aus dem Autismus-Spektrum dabei unterstützen, im Alltag mit Veränderungen der Wahrnehmung besser umzugehen. Das können Strategien sein, die gezielt auf Überempfindlichkeiten oder Unterempfindlichkeiten in der Wahrnehmung oder Reizüberflutung einwirken. Damit lässt sich die Lebensqualität deutlich steigern. Das Buch vermittelt Wissen und praxisnahe Anregungen, wie Stress reduziert werden kann, um ausgeglichener und leistungsfähiger zu werden. Zielgruppe sind Menschen, die unter den Bedingungen von Autismus leben, deren Angehörige und Fachleute.
Autorin
Meike Miller arbeitet als Ergotherapeutin und Coach. Mithilfe der Sensorischen Integrationstherapie unterstützt sie autistische Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Sie hält in Kooperation mit Christine Preißmann Weiterbildungsseminare zum Thema Wahrnehmung, Ergotherapie und Autismus.
Aufbau und Inhalt
Das Buch ist im DIN A 5 Softcover-Format erschienen und hat einen Umfang von 139 Seiten, die sich in sieben Kapitel und zahlreichen Unterkapiteln gliedern. Die Ausführungen werden durch acht Abbildungen und einer ausführlichen Fallvignette ergänzt. Der Fließtext ist gut gegliedert, zahlreiche Textboxen und Szenen aus realen Fallgeschichten (die sich durch eine Markierung vom Text abheben) vertiefen die Inhalte. Leider wurde eine kleine Schriftgröße gewählt, was sich nachteilig auf die Lesbarkeit auswirkt.
- Einleitung
- Wahrnehmung und Autismus
- Lebenspraktische Hilfe – die therapeutische Perspektive
- Strategien und Methoden bei Wahrnehmungsveränderungen
- Die Aktivitäten des täglichen Lebens (AdtL)
- Autismus in der Ergotherapie – Fallbericht einer Mutter zweier Kinder mit Autismus-Spektrum-Störung
- Übersicht: Typische Anzeichen und Hilfsmaßnahmen
Abkürzungs- und Fachwortverzeichnis, Literaturverzeichnis und Register
Nach Geleitworten von Christine Preissmann und einer Einleitung, in der die Sensorische Integrationstherapie (SI-Therapie) kurz erläutert wird, findet sich zum besseren Verständnis am Anfang des Buches ein Abkürzungs- und Fachwortverzeichnis.
Die SI-Therapie wurde in den 1970er Jahren von Dr. Anna Jean Ayres entwickelt, die erkannte, dass neuronale Dysfunktionen Ursache von Lernschwierigkeiten waren. Ayres fand heraus, dass sensorische Integration ein neurologischer Prozess ist, der Sinneseindrücke aus dem eigenen Körper und aus der Umwelt organisiert. Damit kann der eigene Körper effektiv in der Umwelt eingesetzt werden. Durch die sensorische Integration werden die verschiedenen Wahrnehmungsbereiche (z.B. Tastsinn, Sehsinn, Hörsinn) miteinander in Verbindung gebracht, alle aufgenommenen Informationen werden integriert, also im Nervensystem und im Gehirn weitergeleitet, dort verarbeitet und gedeutet. Aus diesem Prozess folgen angemessene Handlungen passend zur jeweiligen Situation. Allgemeiner gesprochen kann man die sensorische Integration als Wahrnehmungsverarbeitung bezeichnen, etwas, das jeder Mensch ein Leben lang macht. SI-Therapie setzt bei den Menschen an, bei denen dieser hirnfunktionale Prozess nicht optimal verläuft. SI-Therapie zielt auf Erfolgserlebnisse, arbeitet daran, das Selbstbewusstsein zu stärken und damit ein Nachreifen des Gehirns zu erreichen.
Von der „Wahrnehmung und Autismus“ handelt das zweite Kapitel. Wahrnehmung wird aus verschiedenen Perspektiven beschrieben und sie wird als Prozess verstanden. In Bezug auf die Wahrnehmung bei Autismus werden schlaglichtartig die sog. Diskrimination und die sog. Modulation beleuchtet. Eine Diskriminationsstörung wird nach Bundy, Lane und Murry als „Schwäche, die räumlichen oder zeitlichen Qualitäten von Berührung, Bewegung und Körperposition zu interpretieren“ (S. 27) beschrieben, was häufig mit einer Störung der Praxie, also der Fähigkeit, Handlungen in sinnvoller Reihenfolge ihrer Teilschritte durchzuführen, einhergeht. Bei der sensorischen Modulation handelt es sich um die Fähigkeit, Reize so zu filtern, dass sie in angemessener Intensität wahrgenommen werden, um Reaktionen, die situationsangemessen sind, zu ermöglichen. Die Modulationsstörung beruht auf Defiziten in den Filtersystemen.
Die Folge von Modulationsstörungen ist eine zu intensive Wahrnehmung (Defensivität) oder eine zu wenig intensive Wahrnehmung (Dormanz). Bei der Defensivität geht man von einer verringerten Reizschwelle aus, sodass schon wenig intensive Reize massive Reaktionen hervorrufen können. Damit einhergehen kann zudem, dass objektiv unbedeutende oder irrelevante Reize als bedrohlich oder schmerzhaft erlebt werden bis hin zur Auslösung von heftigen Reaktionen. Die Autorin lädt an dieser Stelle dazu ein, ein Experiment zu machen, um dieses Erleben nachzuempfinden.
Die Auswirkungen von Über- oder Unterempfindlichkeiten bei Menschen aus dem autistischen Spektrum sind in einer Tabelle auf einen Blick zusammengestellt. Folgen von Wahrnehmungsveränderungen bei Autismus zeigen sich im Hinblick auf Wahrnehmungsveränderungen und Motorik (z.B. geringer Muskeltonus, verringerte Schmerzempfinden oder vestibuläre Empfindlichkeiten, die zu Übelkeit und Erbrechen führen können), bei Wahrnehmungsveränderungen und Verhalten (abhängig davon, wie die Umwelt wahrgenommen wird) sowie bei Wahrnehmungsveränderungen und Kognition (Ablenkung und Stress wirken sich direkt aus). Dieses Wissen wird am Modell von Aktivitätskurven in Bezug auf das Erregungsniveau (Arousel) und dem Aktivierungsniveau bei Autismus vertieft, das sich täglich mehrmals ändern kann. Fazit: die Aufnahme von Reizen wirkt auf den Erregungszustand, der sich wiederum auf Konzentration, Ausdauer und Leistungsfähigkeit auswirkt. Ziel von Therapie sollte immer sein, die Klientel zu befähigen, den eigenen Aktivierungszustand zu beeinflussen.
Nachfolgend wird der Zusammenhang von Wahrnehmung und Stress angesprochen. Reize an sich sind keine Stressoren, bewertet wird ein Reiz erst durch die erfolgte Reaktion. Die Reizüberflutung wird allgemein anhand des sog. „Vulnerabilitäts-Stress-Modells“ (S. 43) im Allgemeinen erläutert und vertiefend dann in Bezug auf das Autismus-Spektrum. Bei Menschen, die unter den Bedingungen von Autismus leben, handelt es sich um eine Überflutung von Reizen, nicht wie landläufig üblich um eine Ermüdung der Sinnessysteme.
Diese Reizflut summiert sich und es entsteht ein „lautes Chaos“ durch die Verschmelzung der Reize. Unter diesen Umständen wird jeder Stadtbummel zur Herausforderung, das Nervensystem ist überlastet. Diese Form der Überlastung wird als Overload bezeichnet, was in den Phänomenen Meltdown oder Shutdown münden kann. Ein Meltdown spiegelt sich in hoch aggressivem Verhalten wider, von außen betrachtet erscheint der Meltdown wie ein Wutausbruch. Ein Shutdown erfolgt direkt nach dem Overload oder nach einem Meltdown. Ein Shutdown ist ein völliger Rückzug in sich selbst, äußere Reize werden als gedämmt wahrgenommen. Auf Seite 47 findet sich eine Tabelle mit Faktoren zur Entstehung von Shutdown und Meltdown.
Viele Betroffene entwickeln starke Frustrations- und Minderwertigkeitsgefühle, oft vermeiden sie solche Situationen und verzichten dadurch auf vieles. Eine mögliche Soforthilfe bei Reizüberflutung kann die Selbststimulation, das sog. stimming in Form von Wippen, Summen, einen Gegenstand drehen oder Hände ausschütteln sein.
In der therapeutischen Begleitung von Erwachsenen haben sich folgende Strategien bewährt: Aufsuchen einer Kirche (Kühle, Ruhe, gedämpftes Licht), kaltes Wasser oder Eis (zuhause in Form von Kühlkompressen), Sonnenbrille, Ohrstöpsel/Gehörschutz oder Tiefdruck durch Gewichtsdecken oder Druckwesten. Die Erarbeitung von langfristigen Strategien gegen Reizüberflutung beginnt mit dem Kennenlernen der eigenen Besonderheiten in der Wahrnehmung, das Erkennen, ob eine bestimmte Jahreszeit oder Tagesform Einfluss nimmt, auch neue Lebensphasen können Stress auslösen und Wirkung haben. Es lohnt sich, sich selbst und die Körperreaktionen zu beobachten, denn dann können Faktoren im Vorfeld vermieden bzw. verringert werden. Sport hat sich bewährt, um den Stress-Hormonspiegel zu senken, auch Meditationen können bei manchen hilfreich sein, vielen hilft die Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion nach Kabat-Zinn, die jederzeit z.B. bei Spaziergängen durch die Natur einsetzbar ist.
Die therapeutischen Perspektive zielt auf lebenspraktische Hilfe. Dabei sind die Rollen sowohl des „besonderen“ Klienten als auch der „besonderen“ Therapeuten zu betrachten. Diese Besonderheiten bezieht die Autorin auf die Kontaktaufnahme und die ersten Termine und auf die Inhalte in therapeutischen Sitzungen. Die Arbeit in der Therapie beginnt mit einer Anamnese, um sich ein umfassendes Bild zu machen. Bei der Behandlung von Menschen, die unter den Bedingungen von Autismus leben, sind Wahrnehmungsbesonderheiten genau aufzunehmen und ein besonderes Augenmerk sollte auf den Aktivitäten des alltäglichen Lebens (AdtL) liegen. Auch Fragebögen kommen zum Einsatz. Da diese Fragebögen den Fokus oft auf die Defizite legen regt Miller an, das Therapeut*innen parallel auf jeden Fall auch die Ressourcen und Fähigkeiten notieren sollten.
Miller weist darauf hin, dass manches Verhalten wie ein Zwang erscheint, deshalb ist die Abgrenzung zwischen Zwängen und wahrnehmungsbedingtem Verhalten von großer Bedeutung: Routinen und Rituale wirken auf Menschen aus dem Spektrum beruhigend, Zwänge werden quälend und damit beeinträchtigend erlebt.
Besprochen wird auch die therapeutische Distanz. Beide Akteure in der Therapie sind aktiv, Klient*innen aus dem Spektrum haben Expertise für Wahrnehmung, Therapeut*innen können bei den Aktivitäten des alltäglichen Lebens (AdtL’s) unterstützend wirken, sie sind auch Dolmetschende und Lebenscoach. Miller weiß aus ihrer Arbeit, wie wichtig es ist, sich als „Anschauungsobjekt“ zur Verfügung zu stellen, wenn es darum geht, über eigene Lebenserfahrungen zu berichten und Beispiele zu geben.
Im vierten Kapitel „Strategien und Methoden bei Wahrnehmungsveränderungen“ steht im ersten Unterkapitel das Prinzip Hemmung im Mittelpunkt der Erläuterungen. Wahrnehmungsveränderungen bleiben das Leben lang bestehen. Die SI-Therapie bietet zwei Strategien der Veränderung: die sensorische Hemmung und die sensorische Diät. Das Prinzip „Hemmung“ wirkt unmittelbar auf hirnorganische Filtersysteme. Durch die Veränderung der Intensität werden weniger Stresshormone ausgeschüttet, damit wird die Leistungsfähigkeit gesteigert, sodass Potenziale ausgeschöpft werden können. Dabei geht es um verschiedene Aspekte wie die kognitive Hemmung, die Hemmung durch Autonomie, die Hemmung durch Kälte, die Hemmung durch Tiefdruck und die Hemmung durch Rhythmus. Fazit der Autorin: Hemmung dämmt überempfindliche Wahrnehmung, dadurch wird Stresserleben reduziert. Betroffene sollten über diese Zusammenhänge aufgeklärt werden, dann kann es ihnen gelingen, proaktiv zu handeln und damit Überforderung aus dem Weg zu gehen.
Bei der sensorische Diät wird auf Reize, auf die die Sinnesorgane empfindlich reagieren, verzichtet, denn auch durch Therapie verschwinden Wahrnehmungsveränderungen bei Autismus nicht. Es gilt ein Maß zu finden. Die Therapie beginnt mit einer kompletten Entlastung, um dann sukzessive herauszufinden, was möglich ist. Dadurch werden Reize langfristig besser kalkulierbar und es können Strategien zur Vermeidung entwickelt werden. Folgende Bereiche werden eingehend betrachtet: die Wahrnehmung in Bezug auf das Sehen (visuell), Hören (auditiv), auf den Tastsinn/Oberflächenwahrnehmung (taktil), in Bezug auf das Gleichgewicht (vestibulär) und die Körperwahrnehmung (propriozeptiv), in Bezug auf den Geschmack (gustatorisch), in Bezug auf das Riechen (olfaktorisch) und zuletzt in Bezug auf die Wahrnehmung der inneren Organe (viszeral).
Beispielsweise wird in Bezug auf Sehen (visuell) auf die Beleuchtung und die Verdunklung geachtet oder beim Hören (auditiv) auf Geräusche von Geräten (piepsen), das Schlagen von Türen oder Geräusche vom Boden durch mangelhaften Trittschall. Bei vielen Betroffenen hat sich der Einsatz von Hörschutz bewährt wie z.B. noise-cancelling-systeme. In Bezug auf den Tastsinn/Oberflächenwahrnehmung (taktil) spielt die Auswahl der Kleidung eine wichtige Rolle, weitere Bereiche sind die Hygiene, die Essenzubereitung oder das Putzen. In Bezug auf das Gleichgewicht (vestibulär) ist auf Kopflage-Veränderungen zu achten z.B.im Haushalt oder beim Fortbewegen (Reiseübelkeit). Besonders zu betrachtende Aktivitäten in Bezug auf die Körperwahrnehmung (propriozeptiv) sind beispielsweise eine stolperfreie Umgebung. Die Körperwahrnehmung hat Einfluss auf das Einschätzen von Nähe-Distanz sowie bei der Wahrnehmung von Schmerzen. Die Körperwahrnehmung kann durch Sport und Bewegung verbessert werden, wobei hektische Mannschaftssportarten weniger zu empfehlen sind. In Bezug auf den Geschmack (gustatorisch) sollte das Würzen von Speisen und auch die Beschaffenheit der Nahrung in den Blick genommen werden. In Bezug auf das Riechen (olfaktorisch) ist auf Gerüche z.B. im Haushalt zu achten wie bei Waschmitteln oder Schampoos, auch beim Staubsaugen entstehen Gerüche, die viele als unangenehm empfinden. Manche Menschen nutzen Duftsäckchen, um unangenehmen Gerüchen in der Umwelt entgegen zu wirken. Den Abschluss bildet die Betrachtung in Bezug auf die Wahrnehmung der inneren Organe (viszeral), denn Menschen mit Defiziten in diesem Bereich haben Schwierigkeiten, die Ursache für Unwohlsein im Bauchraum richtig zuzuordnen: Es kann Hunger sein, Erschöpfung oder Druck auf der Blase, manchmal liegt die Ursache für Bauchschmerzen auch in zu enger Kleidung.
An diese Erläuterungen schließen sich zahlreiche Ideen und Erfahrungswerte an, wie sich eine Reizüberflutung im Alltag zum Beispiel zuhause, im Beruf, in der Schule, in Bezug auf die Mobilität, Freizeit, bei Bekanntschaften, Freundschaften oder Beziehungen sowie bei Berührungen vermeiden lässt. Unterfüttert werden diese mit konkreten Fallszenen.
Um die Aktivitäten des täglichen Lebens (AdtL) dreht sich das fünfte Kapitel. Betrachtet werden die Selbstversorgung, dann folgen Schule und Beruf sowie die Mobilität. Empfohlen wird, Verhaltensstrategien für Eventualitäten, Strategien gegen Reizüberflutung und zum Fahren mit dem Rad oder Auto zu entwickeln. Betrachtet werden darüber hinaus die Bereiche Freizeit, Wohnen, Schlafen, Termine (Arztbesuche und Telefonate) und die Hygiene, auch Freundschaft und Kontakte werden benannt.
Das komplette sechste Kapitel enthält den Fallbericht einer Mutter zweier Kinder aus dem autistischen Spektrum.
Das abschließende Kapitel mit der Überschrift „Übersicht: Typische Anzeichen und Hilfsmaßnahmen“ fußt inhaltlich auf einem Fragebogen für Kinder im Alter von 2–14 Jahren, der nur in den USA auch für Erwachsene vorliegt. Diesen Fragebogen nutzt Miller für ihr Assessment, um Wahrnehmungsbesonderheiten der verschiedenen Sinnesbereiche zu identifizieren und einen groben Überblick zu erhalten. Zuerst werden typische Anzeichen genannt, um dann zu einer Selbsteinschätzung (was kann ich tun) in Bezug auf die Propriozeption (Körperwahrnehmung), die taktile Wahrnehmung (Berührungsempfinden), die vestibuläre Wahrnehmung (Gleichgewichtsempfinden), die olfaktorische Wahrnehmung (Geruchsempfinden), die gustatorische Wahrnehmung (Geschmacksempfinden), die viszerale Wahrnehmung (Wahrnehmung der inneren Organe), die auditive Wahrnehmung (Hörempfinden) und die visuelle Wahrnehmung (Sehempfinden) zu kommen.
Diskussion
Ergotherapie ist eine Möglichkeit, Menschen aus dem Autismus-Spektrum dabei zu unterstützen, mit Veränderungen der Wahrnehmung im Alltag besser umzugehen. Dabei kommen verschiedene Strategien zum Einsatz, um gezielt auf Wahrnehmungsüber- oder Wahrnehmungsunterempfindlichkeit sowie auf eine Überflutung durch Reize einzuwirken. Ziel ist, die eigene Lebensqualität und Zufriedenheit zu verbessern. Die Autorin Meike Miller arbeitet in ihrer Praxis mit dem Ansatz der Sensorischen Integration (SI), die von Dr. Anna Jean Ayres entwickelt wurde. Diese erkannte, dass neuronale Dysfunktionen Ursache von Lernschwierigkeiten waren und fand heraus, dass sensorische Integration ein neurologischer Prozess ist, der Sinneseindrücke aus dem eigenen Körper und aus der Umwelt organisiert. Damit kann der eigene Körper effektiv in der Umwelt eingesetzt werden. SI ist also eine Wahrnehmungsverarbeitung, die jeder Mensch ein Leben lang macht. Therapie setzt dort an, wo der hirnfunktionale Prozess nicht optimal verläuft. SI-Therapie zielt auf Erfolgserlebnisse ab, stärkt das Selbstbewusstsein und will damit ein Nachreifen des Gehirns erreichen. Menschen, die unter den Bedingungen von Autismus leben, müssen über ihre Wahrnehmung Bescheid wissen. Angehörige und Fachleute müssen aufgeklärt werden, dass diese Wahrnehmung anders ist als bei anderen (neurotypischen) Menschen, dadurch entsteht eine Basis, auf der Lösungen entwickeln werden können.
Das Buch stellt praxisnahe Anregungen zusammen, ein Kernthema bildet das Thema Stress. Diesen zu reduzieren bedeutet ausgeglichener und leistungsfähiger zu werden. Die Autorin erläutert auch den Unterschied von Zwängen und wiederkehrenden Handlungen. Diese Phänomene werden oft verwechselt. Routinen und Rituale geben Sicherheit und wirken beruhigend, sie dienen dem Abbau von Stresserleben, das gilt für jeden Menschen, vor allem für Menschen, die unter den Bedingungen von Autismus leben.
Aufklärung und Psychoedukation sollten Bestandteil jeder Therapie sein. Menschen, die unter den Bedingungen von Autismus leben, sollten über ihre Disposition und die Wechselwirkung von Einflüssen aus der Umwelt und aus dem Umfeld aufgeklärt werden. Auf dieser Basis kann es gelingen, proaktiv zu handeln und möglichen Überforderungen aus dem Weg zu gehen.
Die Autorin hat in ihrem hier vorgelegten Buch verschiedene Hinweise zusammengestellt, welche Strategien und Hilfsmittel sich als wirksam erwiesen haben. Manchmal müssen Utensilien angeschafft werden, manche therapeutischen Artikel sind teuer. Es ist hervorzuheben, dass im Buch auch auf einfache Hilfsmittel hingewiesen wird z.B. wird auf S. 72 beschrieben, wie eine Gewichtdecke einfach selber hergestellt werden kann. Diese Hinweise möchte ich aus meiner Praxis in der Arbeit mit Menschen, die schnell in Stress geraten, ergänzen: Statt teure Therapiewesten anzuschaffen haben sich Gewichtsmanschetten oder Gewichtswesten aus dem Fitnessbereich bewährt.
Die vorgestellten Strategien und Methoden des vierten Kapitels werden im siebten Kapitel am Ende des Buches nochmal aufgenommen, zuerst werden typische Anzeichen benannt, um dann zu schauen, was die Person tun kann (Selbsteinschätzung) und was eventuell andere tun können. Dieses Vorgehen umfasst die Körperwahrnehmung (Propriozeption), die Berührungsempfindlichkeit (taktile Wahrnehmung), das Gleichgewichtsempfinden (vestibuläre Wahrnehmung), das Geruchsempfinden (olfaktorische Wahrnehmung), das Geschmacksempfinden (gustatorische Wahrnehmung), die Wahrnehmung der inneren Organe (viszerale Wahrnehmung), das Hörempfinden (auditive Wahrnehmung) und das Sehempfinden (visuelle Wahrnehmung) und gibt damit einen umfassende Überblick.
Meike Miller arbeitet als Ergotherapeutin und Coach, in Kooperation mit Christine Preißmann. Christine Preißmann selbst hat zahlreiche Bücher geschrieben wie z.B. 2013 das Buch „Überraschend anders. Mädchen & Frauen mit Asperger“ www.socialnet.de/rezensionen/15195.php oder 2016 ein Buch über „Glück und Lebenszufriedenheit für Menschen mit Autismus“ https://www.socialnet.de/rezensionen/20025.php.
Fazit
Ergotherapie kann Menschen aus dem Autismus-Spektrum dabei unterstützen, mit Veränderungen der Wahrnehmung im Alltag besser umzugehen. Das können Strategien sein, mit denen es gelingen kann, gezielt auf Wahrnehmungsüber-, Wahrnehmungsunterempfindlichkeit oder Reizüberflutung einzuwirken. Damit lässt sich die Lebensqualität deutlich steigern. Das Büchlein vermittelt Wissen und praxisnahe Anregungen, wie Stress reduziert werden kann, um ausgeglichener und leistungsfähiger zu werden. Zielgruppe sind Menschen, die unter den Bedingungen von Autismus leben, Angehörige und Fachleute.
Rezension von
Dipl.-Päd. Petra Steinborn
Tätig im Personal- und Qualitätsmanagement in einer großen Ev. Stiftung in Hamburg-Horn. Freiberuflich in eigener Praxis (Heilpraktikerin für Psychotherapie). Leitung von ABC Autismus (Akademie-Beratung-Coaching), Schwerpunkte: Autismus, TEACCH, herausforderndes Verhalten, Strategien der Deeskalation (systemisch), erworbene Hirnschädigungen
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