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Hans Hermann Wickel, Theo Hartogh (Hrsg.): Musikgeragogik in der Praxis

Rezensiert von Dr. phil. Gernot Hahn, 26.05.2021

Cover Hans Hermann Wickel, Theo Hartogh (Hrsg.): Musikgeragogik in der Praxis ISBN 978-3-8309-4208-5

Hans Hermann Wickel, Theo Hartogh (Hrsg.): Musikgeragogik in der Praxis. Alteneinrichtungen und Pflegeheime. Waxmann Verlag (Münster, New York) 2020. 230 Seiten. ISBN 978-3-8309-4208-5. 34,90 EUR.
Reihe: Musikgeragogik - Band 7.

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Thema

Der Herausgeberband versammelt Texte zu unterschiedlichen musikalischen Einzel- und Gruppenangeboten in Alteneinrichtungen und Pflegeheimen. Die Beiträge gehen auf die musikalische Kommunikation mit älteren Menschen und auf die Rahmenbedingungen musikgeragogischer Arbeit, Fragen der Aus- und Weiterbildung von Fachkräften und ehrenamtlichen MitarbeiterInnen, musikalische Profile und Kooperationen von Altenheimen, Methoden rhythmischer Arbeit, kultursensible und intergenerative Projekte, sowie zielgruppenbezogene Ansätze in der Musikarbeit bei Demenz, Aphasie sowie im Kontext palliativer Begleitung ein.

Herausgeber

Hans Hermann Wickel, einer der beiden Herausgeber lehrt als Professor an der Universität Münster im Fach Musikwissenschaft, davor im Rahmen einer Professur für Musik in der Sozialen Arbeit langjährig an der FH Münster. Mitherausgeber Theo Hartogh lehrt nach dem Studium (Klavier, Schulmusik, Biologie), Promotion an der TU Chemnitz und Habilitation an der Universität Leipzig Musik an der kath. Fachhochschule Norddeutschland und seit 2005 Musikpädagogik an der Universität Vechta. Beide Herausgeber engagierten sich u.a. in zertifizierten Weiterbildungsformaten zur Musikgeragogik.

Die insgesamt 29 weiteren AutorInnen stammen größtenteils aus der musikpädagogischen Praxis, vorwiegend im Praxisfeld musikgeragogischer Institutionen in Deutschland, Österreich und der Schweiz.

Aufbau und Inhalt

Neben einem Vorwort der Herausgeber ist der Band in neun Kapitel unterteilt, welche auf die Aspekte

  • Grundlagen
  • Musikalische Profile und Kooperationen
  • Gruppenangebote
  • Rhythmus und Rhythmik
  • Musik und andere Medien
  • Kultursensible und intergenerative Projekte
  • Demenz und Aphasie
  • Musik am Lebensende und
  • Aus- und Weiterbildung

eingehen.

Grundlegendes

Das einführende Grundlagenkapitel geht mit drei Beiträgen auf gänzlich unterschiedliche Aspekte ein. Die Texte reichen von der Darstellung gelingender menschlicher und musikalischer Interaktion am Beispiel des dialogischen Prinzips von Martin Buber, das neben sprachlicher Verständigung auch nonverbale Kommunikation fokussiert. Der Text wirbt für eine offene und wertschätzende Haltung beim Musizieren mit älteren Menschen. Ein weiterer Beitrag schildert den Entwicklungspfad einer im musikgeragogischen Bereich tätigen Pädagogin, der wichtige Stationen der Werteentwicklung, Aus- und Weiterbildung bis hin zu formalen Aspekten beschreibt. Ein dritter Text beschreibt die Hürden und Möglichkeiten der Teilselbstständigkeit mit Musik im Rahmen der Unternehmensform einer GbR.

Musikalische Profile und Kooperationen

Mit ebenfalls drei Texten beschreibt der folgende Abschnitt konkrete Musikgeragogische Projekte zwischen Alteneinrichtungen und musikalischen Dienstleistern. Die Beispiele zeigen, wie Musik als Begleitaspekt oder auch zentrales Element der Alltagsgestaltung und des Alltagslebens in Institutionen etabliert werden kann. Ansatzpunkte dafür sind Kooperationen mit lokalen Musikschulen, die musikalische Angebote für Bewohner durchführen, oder Anleitung und Fortbildung für das Heimpersonal anbieten. Die Angebote reichen von niedrigschwelligen Klangwerkstätten, gemeinsamem Singen, Ansätzen intergenerativen Musizierens bis hin zu generationsübergreifenden Großprojekten („100 Menschen aus 100 Jahren spielen Musik aus 100 Jahren“, 43), die anschaulich beschrieben werden.

Gruppenangebote

Musikangebote in Alteneinrichtungen finden meist in Gruppenform statt. Die vier Beiträge zeigen die Möglichkeiten solcher Formen auf, die als offenes Angebot (musikalisches Wohnzimmer), feste Gruppenform (für Bewohner, die einen stabilen Begegnungs- und Übungsraum brauchen oder bevorzugen), oder zielgruppenspezifisches Angebot (z.B. für demenziell erkrankte Menschen) gestaltet werden kann. Neben praktischen Tipps und Erfahrungsberichten zu solchen Gruppenangeboten beinhaltet ein Text auch konkretes Liedmaterial, das besonders für die Gruppenarbeit geeignet ist.

Rhythmus und Rhythmik

Rhythmische Gestaltung ist neben dem Singen ein direkter und vor allem niedrigschwelliger Zugang zum Musikzieren in der Gruppe. Der vierte Abschnitt versammelt Beiträge zu diesem Thema und verdeutlicht den Variantenreichtum von spontan voraussetzungsfreien Angeboten (Drum Circle) oder dem komplexeren Ansatz der Jaques-Dalcroze-Rhythmik in Alteneinrichtungen (ganzheitliches Musikerleben mit Körper und Geist). Rhythmische Angebote lassen sich dabei mit Ansätzen der Biografiearbeit, dem Gedächtnistraining oder Möglichkeiten zum Experimentieren verbinden, wie ein weiterer Beitrag vermittelt.

Musik und andere Medien

Musik und Musizieren lassen sich gut mit anderen kreativen Aktivitäten und Ansätzen verbinden. Die in drei Beiträgen aufgezeigten Möglichkeiten reichen von der Arbeit mit Kommunikationspuppen (in dem konzeptionellen Beitrag ein sehr anrührendes Foto aus der Arbeit mit solchen Handpuppen), über biografieorientierte Arbeit mit Märchen (Nutzung von Requisiten und Gegenständen zur musikalischen Gruppen-Märchen-Arbeit) bis hin zum App-Einsatz in der musikgeragogischen Arbeit in einem Demenzkompetenzzentrum (vorgestellt wird hier ein „Projekt Generation Rock“ – die Gruppen werden von DozentInnen angeleitet und von jungen MusikerInnen und ChorleiterInnen betreut, Basis für die Arbeit sind spezielle Musik-Apps die per Tablet angesteuert werden).

Kultursensible und intergenerative Projekte

Die Zahl der Bewohner mit Migrationshintergrund die in Alteneinrichtungen leben hat deutlich zugenommen, sodass auch die Musikgeragogik kultursensible Ansätze entwickelt hat. Die Ansatzpunkte und Chancen liegen in der Integration kultureller Erfahrungen und Musikstücke der Zielgruppe, besonders aber auch im interkulturellen Potenzial von Angeboten, die es versteht, die Diversität unserer Gesellschaft aufzugreifen und in entsprechende Angebote für alle Bewohner zu integrieren. Die Berichte weisen auf den sozialen und kulturellen Gewinn für alle Teilnehmenden hin, die sich auf solche Angebote einlassen, neue Erfahrungen sammeln und über das Medium Musik auch neue soziale Begegnungen erleben. Die auch in diesem Abschnitt sehr praxisbezogenen Beiträge erschließen konkrete musikpädagogische Beispiele, z.B. Instrumentenkunde (wo auch Instrumente aus anderen Kulturkreisen vorgestellt werden), oder die szenische Gestaltung von Musikstunden rund um ein kulturspezifisches Thema, oder ein interkulturelles Projekt „MITeinander – in 80 Takten um die Welt“.

Demenz und Aphasie

Der Abschnitt zum Themenbereich Demenz und Aphasie erschließt musikgeragogische Ansätze für Menschen mit starken Beeinträchtigungen, die beim Musizieren besondere Beachtung, Zuwendung und methodische Zugänge brauchen. Die vier Textbeiträge skizzieren den niedrigschwelligen Einsatz von Handglocken in der Arbeit mit DemenzpatientInnen und die Kombination von Musik und Biografiearbeit (Music & Memory) im Einzelsetting, in dem biografisch verankerte musikalische Erfahrungen aufgegriffen und zum Gegenstand der musikpädagogischen Arbeit werden. Das Projekt ist vor allem im englischsprachigen Raum beheimatet, fachlich professionalisiert mit Ausbildungsangeboten und Unterstützung durch einen gleichnamigen Fachverband. In Deutschland und der Schweiz bestehen v.a. erste Praxisprojekte in entsprechend zertifizierten Alteneinrichtungen. Ein spezielles Angebot für ältere Menschen, die an Aphasie leiden wird in einem abschließenden Beitrag vorgestellt. Der Text erschließt zunächst die Erscheinungsform und Besonderheiten der Aphasie die von Sprachverlust und weiterreichend Verlust übergeordneter Exekutivfunktionen gekennzeichnet sein kann. Über das Medium Musik lassen sich grundsätzlich Erfahrungen vermitteln, die in Ansätzen der vor-aphasischen Phase entsprechen, da niedrigschwellige musikalische Aktivität in vielen Fällen möglich ist.

Musik am Lebensende

Wie weitreichend musikgeragogische Angebote sein können, zeigt der nur einen Textbeitrag umfassende Abschnitt zur Musik in der palliativen Begleitung am Lebensende auf. Der einfühlsame Text. Das Kapitel befasst sich mit der Situation und Lebensqualität Sterbender, mit der Linderung von Leid, der Bedeutung von Musik in der Begleitung Schwerstkranker und Sterbender, deren Hörwahrnehmung und die musikalische Wirkdimensionen und ihre Bedeutung für die Palliativsituation. „Der Musik wohnen besondere Möglichkeiten inne, um … Sterbende zu begleiten: Sie kann ohne mentale und physische Leistungskraft erfahren werden und spricht eine Sinneswahrnehmung an, welche selbst im Sterbeprozess nicht verschlossen ist“ (204). Die Wirkdimensionen sind demnach auf der körperlichen, kognitiven, zeitlichen, emotionalen, sozialen und transzendenten Ebene angesiedelt.

Aus- und Weiterbildung

Der letzte Beitrag erschließt Fragen der Aus- und Weiterbildung im musikgeragogischen Bereich für Betreuungspersonen, Ehrenamtliche und Altenpflegefachkräfte in Alteneinrichtungen. Vorgestellt werden konkrete Projekte von In-House-Schulungen und die Fortbildung von Ehrenamtlichen, bei denen Grundlagen der Musikpädagogik mit älteren Menschen, konkrete Methoden und Techniken bis hin zu konkreten Musikstücken vermittelt werden.

Zielgruppe des Buches

Fachkräfte und Ehrenamtliche die im Bereich der Musikgeragogik tätig sind. Als Praxisreader und in einzelnen Abschnitten theoriegestütztes Werk auch für die Ausbildung in (Weiterbildungs-)studium und Praxisfortbildung geeignet.

Diskussion

Der Sammelband „Musikgeragogik in der Praxis“ ist als Darstellung der vielfältigen Ansätze, Projekte und konkreter Maßnahmen in der musikpädagogischen Arbeit mit älteren Menschen (Musikgeragogik) konzipiert. Entsprechend liegen die Schwerpunkte nicht im musiktheoretischen Bereich, sondern auf konkreten Aspekten, Fragestellungen und Praxiserfahrungen. Davon finden sich in den Einzelbeiträgen eine Vielzahl von Anregungen, die von der Form her zwischen einfachem Praxisbericht und konzeptionell-methodisch, auch theoretisch fundierten Reflektionsbeiträgen reichen. Auf den ersten Blick mag diese Zusammenstellung verstören, da die Tiefe der Texte, deren sprachliche Mittel und konzeptionelle Tiefe stark differieren. Auf den zweiten Blick ist jedoch zu erkennen, dass der Reader genau diese Diversität der musikgeragogischen Praxis abbilden will, die Bereiche, die durch Aus- und Weiterbildung bereits seit langem zu einer vertieften Anwendungspraxis (z.T. mit zertifizierten Durchführungsformen) geführt haben und die Ebene, die durch Projektcharakter, teilweise experimentell anmutende Formate gekennzeichnet ist, wo erste Erfahrungen und Projektskizzen erprobt werden. Deutlich wird damit, dass Musik im Alter, Musik in Alteneinrichtungen vielfältige Perspektiven und Umsetzungsmöglichkeiten Anknüpfungspunkte aufweist, jenseits reiner Singkreise (die in ihrer Bedeutung und Wirkung nicht unterschätzt werden dürfen) anderer einschlägiger Formate.

Die Herausgeber leisten (wie schon zuvor mit dem ersten Band „Musikgeragogik in der Praxis“, der die musikalischen Aktivitäten älterer Menschen in Musikinstitutionen und in der freien Szene thematisierte) Pionierarbeit, indem die Erfahrungen in Einrichtungen des Wohnens, der Begleitung und Pflege älterer Menschen erschlossen werden und so als Erfahrungsschatz, Anregung und methodische Börse zugänglich gemacht werden. Entsprechend ist das Buch von Wickel und Hartogh als Grundlagenwerk zu verstehen, das in der musikgeragogischen Praxis in keiner Einrichtung fehlen darf.

Fazit

Ein lebendiger Praxisreader der die Grundlagen, Möglichkeiten, Formate und konkrete Projekte in Anwendung und Ausbildung erschließt. Die Bandbreite reicht von Angeboten für Personen mit besonderen Krankheitsmerkmalen wie Demenz oder Aphasie, die Begleitung Schwerstkranker und Sterbender Menschen, spezielle Gruppenangebote, die Bedeutung von Rhythmus und Rhythmik bis hin zur Verknüpfung mit anderen pädagogischen Medien, sowie kultursensiblen und intergenerativen Ansätzen. Ein Praxisreader der als Grundlagenwerk in keiner Einrichtung fehlen darf.

Rezension von
Dr. phil. Gernot Hahn
Diplom Sozialpädagoge (Univ.), Diplom Sozialtherapeut
Leiter der Forensischen Ambulanz der Klinik für Forensische Psychiatrie Erlangen
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Es gibt 177 Rezensionen von Gernot Hahn.

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Zitiervorschlag
Gernot Hahn. Rezension vom 26.05.2021 zu: Hans Hermann Wickel, Theo Hartogh (Hrsg.): Musikgeragogik in der Praxis. Alteneinrichtungen und Pflegeheime. Waxmann Verlag (Münster, New York) 2020. ISBN 978-3-8309-4208-5. Reihe: Musikgeragogik - Band 7. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/26798.php, Datum des Zugriffs 16.01.2025.


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