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Jim Holt: Als Einstein und Gödel spazieren gingen

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 30.03.2020

Cover Jim Holt: Als Einstein und Gödel spazieren gingen ISBN 978-3-498-03048-3

Jim Holt: Als Einstein und Gödel spazieren gingen. Ausflüge an den Rand des Denkens. Rowohlt Verlag (Reinbek) 2020. 496 Seiten. ISBN 978-3-498-03048-3. D: 26,00 EUR, A: 26,80 EUR.

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Abenteuer Denken

Denken ist Geistes- und Verstandestätigkeit, im Alltäglichen, Individuellen, Kollektiven und Wissenschaftlichen. Die britische Sprachwissenschafterin Helen S. Eaton hat 1961 ermittelt, dass der Begriff „Denken“ zu den am häufigsten benutzten Worten unserer Umgangssprache gehören (siehe: Carl Friedrich Graumann, Köln/Berlin 1965). Bereits in der antiken griechischen Philosophie wird Denken mit Verstand gleichgesetzt – mit der Fähigkeit, sich seiner selbst zu versichern und alles, was um sich herum ist, zu erkennen. Der französische Philosoph René Descartes hat das in den Schlüsselsatz zusammengefasst: Cogito ergo sum – Ich denke, also bin ich! Immanuel Kant fordert vom Menschen: Sapere aude – Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! Der in London lebende deutsche Philosoph und Literaturwissenschaftler (em.) Karl Heinz Bohrer fasst die Summe seines Denkens, Schreibens und Forschens als „Geschichte meines Abenteuers mit der Phantasie“ zusammen (www.socialnet.de/rezensionen/​22496.php). Die Frage „Wer bin ich?“, und damit auch die: „Wer bist du?“, lässt sich human und menschenwürdig nur beantworten durch die Anerkennung des Anderen in seinem Sosein und in seinem Denken: „Lass‘ mich Ich sein, damit du Du sein kannst!“.

Entstehungshintergrund und Autor

Kann man die Wirklichkeit des menschlichen Daseins eher mit einem Fass mit Sirup oder mit einem Haufen Sand vergleichen? Diese philosophische Metapher orientiert sich an den Fließeigenschaften der beiden Stoffe: Sirup fließt kontinuierlich und beständig, während Sand diskret und klandestin verläuft. Der US-amerikanische Philosoph und Essayist Jim Holt hat schon mit provozierenden und hintergründigen Fragen die Aufmerksamkeit von Leserinnen und Lesern hervorgerufen (Jim Holt 2014, www.socialnet.de/rezensionen/​17222.php). Mit dem 2018 im Original erschienen Buch „When Einstein Walked With Gödel: Excursions to the Edge of Thougt“ erzählt Holt Geschichten über den berühmten Physiker und Nobelpreisträger (1922) Albert Einstein, der als Widerstand gegen das nationalsozialistische und verbrecherische Unrechtsregime 1933 in die USA auswanderte und an der Universität in Princeton lehrte. Einstein begann seinen Arbeitstag jeweils mit einem gemächlichen Spaziergang von seiner Wohnung zur Universität. Der Mann mit den zerzausten Haaren, den ausgebeulten, von Hosenträgern gehaltenen Hosen, erregte bei den Passanten Aufmerksamkeit und Achtung. Dieses allmorgendliche und am Spätnachmittag in umgekehrter Richtung sich vollziehende Ritual gehörte gewissermaßen zum Stadtbild des Ortes, das Einstein einmal in einem Brief als „ein wundervolles Stückchen Erde und dabei ein ungemein drolliges zeremonielles Krähwinkel winziger stelzbeiniger Halbgötter“ bezeichnete. Zehn Jahre später lernte Einstein (*1879) den erheblich jüngeren Kurt Gödel (*1906) kennen. Sie schlossen Freundschaft, und Einstein hatte auf seinen Spaziergängen einen Begleiter. Der Mathematiker Gödel wird als „größter Logiker seit Aristoteles bezeichnet“. Im Gegensatz zu Einstein, der gesellig war, gerne lachte, Geige spielte, die Musik von Beethoven und Mozart liebte, war Gödel ein verschlossener Einzelgänger, mit Tendenzen hin zur Paranoia.

Es sind die Urfragen, die nur philosophisch beantwortet werden können, und die, wenn sie ernsthaft diskutiert werden, bestenfalls mit der Erkenntnis zu bedenken sind: „Ich weiß, dass ich nichts weiß!“. Es sind Fragen, wie das Universum entstanden ist, ob die Zeit eine Zukunft hat, ob auf den Big Bang Big Freeze oder Big Crunch folge, wie beim Menschen Kognition und Emotion verlaufen, wie Evolution wirkt und sich verändert, mit welchen Problemlösungsmethoden Menschen und andere Lebewesen existieren, wie numerisches Denken funktioniert. Die Denkprozesse, wie sie von Einstein und Gödel bei ihren Spaziergängen zustande kamen, die von Vorgängern vorbereitet wurden, die von Vorgängern vorbereitet wurden …, und von Nachfolgenden weitergedacht werden, müssen logischerweise spekuliert werden; etwa die Frage, was von dem, was wir heute wissen und kennen, als Wahrheit und Wirklichkeit begreifen, von Menschen in tausenden und Millionen von Jahren noch benutzt und gelebt wird. Jim Holt kommt zu der Annahme, dass es die Zahlen und das Lachen seien, zwei durchaus unterschiedliche Wissensbestände und Eigenschaften. Es sind die für Nichtexperten eher geheimwissenschaftlichen Fragen nach der Riemann’schen Vermutung, nach der Zeta-Funktion…, die von den Heroen-Denkern und Avataren gedacht wurden und werden, das, so der ernüchternde Holt’sche Gedanke, „was heute als das schwierigste Problem gilt, mit dem sich der menschliche Geist jemals auseinandergesetzt hat, in Jahr 1 Million ein etwas seichter Witz sein könnte, wie man ihn Schulkindern erzählt“.

Aufbau und Inhalt

Da haben wir das Faszinosum, das wir beim Denken erleben können und das uns Jim Holt in seinen Essays über Denker nahebringt. In neun Schritten, von der Antike bis in die Neuzeit, stellt er Theorien vor, die die Menschheit vorangebracht, weiterentwickelt und verändert haben. Den ersten Teil betitelt er mit „Das sich wandelnde Bild der Ewigkeit“, indem er mit Einstein und Gödel spazieren geht und uns an deren Denkgerüsten Anteil nehmen lässt.

Im zweiten Teil werden „Zahlen im Gehirn, im platonischen Himmel und in der Gesellschaft“ thematisiert, mit den Ergebnissen der Neurowissenschaften und dem statistischen und Eugenik-Wissen, wie sie Sir Francis Galton vorbereitet hat, was daraus geworden ist und wie es sich positiv oder negativ in der Genetik in der Gegenwart und Zukunft auswirkt.

Im dritten und vierten Teil geht es um „Reine und unreine Mathematik“. Es ist die „Schönheit“, die logisches Denken spiegelt, wie dies der in Berkeley lehrende Mathematiker Edward Frenkel formuliert und an den wissenschaftlichen Instituten weltweit weiterentwickelt wird. Mit zahlreichen Beispielen führt Holt in die Geheimnisse der mathematischen Denkens ein, etwa in die „Entdeckung der Fraktale“ von Benoît Mandelbrot, mit der das Denken über „Selbstähnlichkeiten“ zu einem allgemeinen philosophischen Prinzip geworden ist. Da kommt, in der Abfolge des platonischen, aristotelischen und kantischen Denkens, der Mathematiker Edwin Abbott ins Spiel, der mit der (Märchen-)Erzählung von der Erscheinung eines fremden, geheimnisvollen Wesens, Flatland, scheinbar unlösbaren Problemen auf der Spur war. In der Vielfalt der (mathematischen, logischen) Denkprozesse sind immer schon Alltagsereignisse und Fragen von Bedeutung; etwa mit der Aussagekraft von Farben und ihre Benutzung etwa bei kartographischen Arbeiten. Da erzählt Holt von den Versuchen, wie sie Percy Heawood, Leonhard Euler und andere mit Drei- und Vierfarbenvermutungen anstellten, ein Aha-Erlebnis, wenn wir z.B. den HP-Farbdrucker anschauen.

Der fünfte Teil wird mit „Unendlichkeit, groß und klein“ überschrieben. Es sind Phantasien und Visionen des Begreifbaren und „Unbegrifflichen“ (siehe dazu auch: Benjamin Dober, Ethik des Trostes, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/​26178.php). Und sie reichen hin bis zu den aktuellen Fragen über Verfügbarkeiten und Unverfügbarkeiten (z.B.: Hartmut Rosa, Unverfügbarkeit, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/​25302.php). Holt lässt uns teilhaben an Kontroversen, wie sie im Laufe der Jahrtausende über Bedeutung, Er- und Verkennen von „Endlichkeiten und Unendlichkeiten“ gedacht werden. Da ist zum einen der Hallenser Mathematiker und Logiker Georg Cantor (1845 – 1918), der eine unendliche Menge definiert als „eine Menge, die einen Teil ihrer Elemente verlieren kann, ohne dadurch kleiner zu werden“. Diese mathematische Annahme übersetzte der US-amerikanische Schriftsteller David Foster Wallace (1962 -2008) populär in eine Erzählung. Mit Blick auf Wittgenstein (Wolfram Eilenberger, Zeit der Zauberer. Das große Jahrzehnt der Philosophie 1919 – 1929, 2018, www.socialnet.de/rezensionen/​24111.php) ließe sich die Ohnmacht durchaus relativieren. Die Auseinandersetzungen über Unendlichkeiten erhielten Schwung dadurch, dass durch den philosophischen Turn die traditionellen Zusammenhänge von Mathematik und Mystik auseinander genommen wurden. Denn siehe da, die Auswechslung des platonischen Denkens durch das aristotelische (hilfreich ist hierfür auch das von Otfried Höffe 2005 herausgegebene Aristoteles-Lexikon) stellt neue, weiterführende Fragen, die sich auch interkulturell artikulieren; etwa mit der Frage, warum Russen mit dem Mysterium der Unendlichkeit anders umgehen und es anders verstehen als die eher rational argumentierenden Franzosen. Vorstellungen von Unendlichkeit allerdings drücken sich sowohl in unendlichen Größen und unvorstellbaren Weiten, als auch im Infinitesimalen, dem unendlichen Kleinen aus. Es war der Mathematiker und Aerodynamiker Abraham Robinson (1918 – 1975), der die bereits von Hegel und anderen Denkern zum Infinitesimalen gedachten Strukturen mit der Frage – „Könnte es sein, dass Materie, Raum und Zeit endlos teilbar sind?“ – einen neuen Schwung gab.

Im sechsten Teil wird der Blick auf die moderne Programmiersprache gerichtet. Die Annahme, dass dieses grundlegende Werkzeug der Digitalisierung von Ada Lovelace, Byrons Tochter, mehr als ein Jahrhundert vor der tatsächlichen Realisierung erfunden worden sei, klingt für Computerexperten erst einmal unglaubwürdig: So früh? Von einer Frau? Die Lebensumstände der lebenslustigen, mathematisch eher unbegabten Ada bewirkten, dass sie Bekanntschaft mit Charles Babbage, einem Mathematiker, Bastler, Erfinder und Konstrukteur der „Differenzmaschine“, einer Rechenmaschine, und später der „Analytischen Maschine“, die bereits die wichtigen Grundelemente des Computers enthielt, machte. Aber für virtuelle Maschinen, wie sie heute, in den Zeiten der IT nicht mehr wegzudenken sind, war zu Adas Zeit (noch) kein Bedarf. Nicht allzu erstaunlich und überraschend ist, dass das Interesse an intelligenten Maschinen in militärischen Kreisen wuchs. Mit dem Namen des britischen Logikers und Technikers Alan Turing (1912 – 1954) verbindet sich eine Tat, die vermutlich England vor der Besetzung durch die Nationalsozialisten und Faschisten bewahrte, die Entschlüsselung der von der deutschen Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg benutzten Kommunikations- und Verschlüsselungsmaschine Enigma. Der Tüftler und Konstrukteur von mathematischen Geräten war Praktiker und Theoretiker, der sich an die problematische Frage heranwagte, ob das menschliche Gehirn Strukturen aufweise, die technischen Abläufen glichen. Sein Selbstmord wird bis heute angezweifelt und als Anschlag auf einen Mann, „der zu viel wusste“, vermutet.

Die Erzählung über den Bau des ersten digitalen Hochgeschwindigkeits- und Allzweckrechners MANIACin einem Labor in Princeton/New Jersey in den späten 1950er Jahren durch „Dr. Seltsam“, ist ein Fließtext aus wissenschaftlichen Erfindungen, Experimenten und Machtgelüsten. Es ging um Berechnungen, wie sie für den Bau der Wasserstoffbombe benötigt wurden. So ist es nicht unlogisch davon zu sprechen, dass der Computer als „Kind der Sünde“ zu betrachten sei. Legionen von Wissenschaftler und Techniker waren beteiligt und engagiert, dieses Werk der Vernichtung als Friedensrettung hinzustellen; und die Auffassungen, dass der Computer und die Digitalisierung der Welt die Menschen klüger, glücklicher und produktiver machen würde, überbrüllen längst die kritischen und skeptischen Stimmen. In der digitalen Welt ist längt das „Modell des menschlichen Gedeihens (akzeptiert), ein industrielles Modell von Lustnutzen, bei dem Geschwindigkeit Tiefe übertrumpft und gedankliche Ruhe einem Strudel von Eindrücken weicht“. Der US-amerikanische Wissenschaftsjournalist Nicholas Carr macht mit der Frage: „Wer bin ich, wenn ich online bin?“ (2010, www.socialnet.de/rezensionen/​10328.php) darauf aufmerksam, dass Computer unserer Gehirntätigkeit und -fähigkeit schaden. Ein Rufer in der Wüste des leeren Denkens?

Mit dem siebten Kapitel wird „der Kosmos neu bedacht“. Hier geht es um die sensationsheischenden, sogar nobelpreisbelohnten physikalischen Entwicklungen der Stringtheorien, die von den Kritikern und Skeptikern mit dem Urteil bedacht werden, dass es sich dabei um gar keine nachweisbaren, wirklichen Theorien, sondern um Irrlichter des Denkens handele, die nicht einmal als falsch bezeichnet werden könnten. Die kongruenten wie kontroversen Auseinandersetzungen reichen an die Grundfragen nach der Wahrheit und Wahrhaftigkeit heran: „Die Stringtheorie ist ein Kind des Zufalls“.

Die Sprüche und Widersprüche finden sich bereits bei den wissenschaftlichen Auseinandersetzungen um die Quantentheorie zwischen Einstein und Bohr. Während ersterer als Realist von der objektiven physikalischen Welt überzeugt war, die unabhängig von unseren Beobachtungen existiere, hielt der dänische Physiker Niels Bohr (1885 – 1962) daran fest, dass „physikalische Eigenschaften erst durch die Messung real (würden), sodass die Realität gewissermaßen erst durch den Akt der Beobachtung erzeugt wird“. 2006 trat der Physiker Roderich Tumulka von der US-amerikanischen Rutgers University den Beweis für nicht lokale Verschränkungen an, die Einsteins Vermutungen bestätigten.

Ist die Frage „Wie wird das Universum enden?“ realistisch oder spinnend? Ob Sie es glauben wollen oder nicht, es gibt ernstzunehmende Denker, die darauf Antworten haben, und zwar nicht die wie „Ich weiß, dass ich nichts weiß“, sondern mit Ermunterungen, wie sie der theoretische Physiker Michio Kaku formuliert, dass es der Menschheit gelingen könne, von unserer aktuellen „Typ-I-Zivilisation“ in eine „Typ-III-Zivilisation“ gelangen und mit der Raumzeit spielen zu können. Phantastereien, Verrücktheiten oder Denkenswertes?

Im achten Teil skizziert Holt einige Studien, die sich auf dem Wissenschafts- und Denkmarkt befinden. Zum Beispiel die Frage: Ist das Leben absurd? Sie korrespondiert und konfrontiert mit Fragen nach dem Sinn des Lebens, nach Existenz, Lebensmut oder -angst, nach Endlichkeit und sogar nach solchen Nichtigkeiten und (Un-)Bedeutsamkeiten über das eigene Spiegelbild und den räumlichen Tauschbarkeiten. Diese philosophischen Vermutungen und Anstrengungen münden zwangsläufig in das Wahrheit-Falschheit-Paradoxon und damit in die Unterscheidung von wissenschaftlichen und pseudowissenschaftlichen, bis hin in Fake-News. Es sind die Phänomene von realer und Lichtgeschwindigkeit und da sind wir in der Phalanx der männlichen Physiker und Mathematiker bei einer Frau, der 1882 in Bayern geborenen und 1935 in den USA gestorbenen theoretischen Mathematikerin Emmy Noether, die mit dem nach ihr benanntem Theorem die Kenntnis der Ringe, Körper und Algebra neu formulierte. Mit der Frage „Ist Logikzwingend“ wird an anthropologischen und ethnischen Selbstverständlichkeiten gerührt. Wenn wir den philosophischen und logischen „Satz vom Widerspruch“ ernst nehmen, dass eine Behauptung und ihr Gegenteil nicht gleichzeitig wahr sein können, geraten wir in das unauflösbare Dilemma, dass Wahrheit und Lüge nicht logisch auflösbar sind. Wir sind nahe dran am „Paradoxiemanagement“ (siehe z.B. dazu auch: Fritz B. Simon, Wenn rechts links ist und links rechts. Paradoxiemanagement in Familie, Wirtschaft und Politik, 2013, www.socialnet.de/rezensionen/​14542.php).

Der Philosoph Robert Nozick (1938 – 2002) hat aufgezeigt, dass es für jede Entscheidung zwei (unterschiedliche) Begründungen gibt, die zu entgegengesetzten Schlüssen führen können. Mit dem Menschenrecht auf Existenz wird verdeutlicht, dass jeder Mensch ein Recht auf Leben hat. Hat er auch ein Recht auf Nichtleben? Diese erst einmal absurd erscheinende Frage beinhaltet in unserem Fall nicht das Recht auf eine selbstbestimmte Beendigung des Lebens, sondern geht es vielmehr um die auch aktuell diskutierte Entscheidung, dass Eltern, etwa durch eine pränatale Diagnostik veranlasst, ein Kind nicht bekommen. Dabei handelt es sich um eine Diskussion, die durch genetische und eugenische Informationen beeinflusst wird und von Peter Singer in den wissenschaftlichen Diskurs gebracht wird.

Die Frage „Können Sie einen Lügner erkennen?“ stammt nicht aus der Kramkiste des wissenschaftlichen Betriebs. Wir können uns in unserem Jetzt umschauen und die Populisten und Fake-News-Erfinger und -Follower betrachten. Wenn wir nach den Ursachen und Merkmalen Ausschau halten, kommen wir schnell auf psychologische Begründungen der Selbstüberschätzung.

Der Diskussion folgend landen wir beim Mathematiker Paul Erdös (1913 – 1996), der mit seinen Wahrscheinlichkeitsrechnungen und Experimenten nachwies, dass „ein hoher Grad an Selbsteinschätzung gewöhnlich mit einem hohen Grad an Selbstüberschätzung einher(geht)“.

Beruhigend oder beunruhigend? In diesem Sammelsurium von Theorien und Annahmen gelangen wir auch auf Synonyme und Antonyme, bei denen wir ohne im Lexikon nachzuschlagen, eher hilflos dastehen. Mit der Frage „Was ist Eponymie?“ kommen wir zu einem durchaus bekannten, alltäglichen Phänomen, dass Bezeichnungen, Namensgebungen und Zuordnungen Identitäten, Einstellungen und Haltungen beeinflussen können: Deonomastik. Wir finden Antworten beim Historiker und Historienstatistiker Stephen Mack Stigler.

Und im neunten und letzten Teil geht es um „Gott, Heiligkeit, Wahrheit und Bullshit“. Sind das unangemessene Zuordnungen, weil darin Denkprozesse zusammengebracht werden, die das anthropologische oder mundane (Wolfgang Welsch) Denken konterkarieren oder unanständig belasten? Schauen wir auf Richard Dawkins Provokation „The God Delusion“/„Der Gotteswahn“ (2006/2007), so bleiben wir bei den Ungewissheiten, die Leben ausmacht. Es gibt als Antwort kein Ja oder Nein, sondern höchstens ein Sowohl als auch, weil religiöse Welt- und Gottanschauung nicht beweisbar, aber argumentierbar ist: „Solange es keine entscheidenden Argumente für oder gegen die Existenz von Gott gibt, wird es immer kluge Menschen geben, die weiterhin an ihn glauben, genau wie kluge Menschen reflexhaft andere Dinge glauben, für die sie keine überzeugenden philosophischen Argumente haben, wie den freien Willen, objektive Werte oder die Existenz anderer Wesen“. Nach dem moralischen Gutmenschentum zu streben, wird gewollt und diffamiert. Die Frage, kann ein Mensch ein Heiliger sein, wenn ja, welche Eigenschaften und, Werte muss er haben, welche Werke muss er verbringen, Oder: Ist Heiligkeit nur eine religiöse Metapher und lebensweltlich völlig unbrauchbar und unangemessen? Die an der University of North Carolina lehrende Moralphilosophin Susan Wolf geht davon aus, dass Heiligkeit „eine Form menschlicher Vortrefflichkeit (ist), die man anstreben sollte“. Es sind altruistische, auf der humanen, globalen Verantwortung beruhende Konzepte (Valentin Beck, 2016), und es sind pragmatische Anleitungen zu einem ethischen, empathischen und solidarischen Leben in einer gerechten Weltgemeinschaft, wie es der „effektive Altruismus“ vorschlägt (William MacAskill, 2015/Peter Singer, 2016), die ein Gutmenschtum propagieren. Und es sind die philosophischen Diskurse und Kontroversen über Meinungen, Theorien, urheberrechtliche und Wissensmacht beanspruchende Setzungen, die im akademischen und alltäglichen, mehrjährigen Fehden ausgetragen werden, wie etwa die Kripke/​Marcus-Auseinandersetzungen und das Smith/​Soames-Gefecht um die neue Referenztheorie, die Jim Holt detektivisch wiedergibt. Wenn zum Schluss der Essays der Autor mit dem Begriff „Bullshit“, der übersetzt wird mit „Egal was man sagt“, den man auch mit dem alltagssprachlichen „Man red’t halt bloß!“ ausdrücken könnte, eine Einstellung erwähnt, die, wie der Philosoph von der Universität in Princeton, Harry Frankfurt (em.) feststellt, in den philosophischen Auseinandersetzungen wenig thematisiert wird, kann man vermuten, dass philosophisch und kommunikativ etwas gegen diese Gewohnheiten getan werden sollte. Es ist schließlich das Eintreten für die Wahrheit, die den Menschen ein humanes, gerechtes und gleichberechtigtes, demokratisches Zusammenleben ermöglicht. Denn Wahrheit „hat einen ästhetischen Vorteil gegenüber Bullshit…Bullshit ist hässlich. In Form politischer Propaganda, Managementsprache oder PR ist er durchsetzt von Euphorismen, Klischees, falscher Kumpanei, falscher Emotion und hochgestochenen Abstraktionen“.

Im Anhang werden zu den einzelnen Kapiteln weiterführende Literaturbeispiele angegeben. Das alphabetisch angeordnete Namens- und Sachregister erleichtert die Lektüre, sodass das Buch auch als Nachschlagewerk benutzt werden kann.

Fazit

Die in den beiden letzten Jahrzehnten entstandenen Essays werden in dem Band zusammengefasst und erläutert. Sie sind eine intellektuelle, interkulturelle, philosophische Herausforderung nicht nur für Professionelle und Studierende, sondern auch für alltägliche Denker wie dich und mich! Es sind Fundgruben des Denkens und Anreger zum Denken!

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 30.03.2020 zu: Jim Holt: Als Einstein und Gödel spazieren gingen. Ausflüge an den Rand des Denkens. Rowohlt Verlag (Reinbek) 2020. ISBN 978-3-498-03048-3. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/26803.php, Datum des Zugriffs 09.12.2023.


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